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Seit dem Ende des Dot-Com-Booms 2001 schwächeln die gesamtwirtschaftlichen Investitionen in Deutschland. Immer wieder wurde dies mit der vermeintlich schwachen Profitabilität von Unternehmensinvestitionen begründet, die durch angebotsorientierte Reformen verbessert werden müsse. Eine disaggregierte Betrachtung weckt allerdings Zweifel an dieser Interpretation. Einiges deutet darauf hin, dass vor allem die schwache Investitionstätigkeit der öffentlichen Hand und die Schwäche beim Wohnungsbau für die Investitionsschwäche insgesamt verantwortlich waren.

Für viele Probleme der deutschen Volkswirtschaft im vergangenen Jahrzehnt wurde die Investitionsschwäche in Deutschland verantwortlich gemacht. Exemplarisch führt ifo-Präsident Hans-Werner Sinn den Rückgang der Investitionsquote in Deutschland als ein Argument für seine These an, dass Deutschland an Wettbewerbsfähigkeit verloren habe und erklärt damit den rapiden Anstieg der Arbeitslosigkeit vom Ende der 1990er Jahre bis zum Höhepunkt der Erwerbslosigkeit 2005.1 Seiner Meinung nach waren vor allem die hohe Abgabenlast sowie die hohen Lohnkosten in Deutschland dafür verantwortlich, dass Investitionen im Inland wenig profitabel seien und die Unternehmen deswegen eher im Ausland investierten. Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung identifizierte wiederholt die zurückhaltende Investitionstätigkeit in Deutschland als Ursache der Wachstumsschwäche. Erst nach der Umsetzung von Reformen auf dem Arbeitsmarkt, bei der Unternehmensbesteuerung und in den sozialen Sicherungssystemen sei es gelungen, „eine Trendumkehr (...) bei den privaten Investitionen zu erreichen.“2

In jüngster Zeit wurde die deutsche Investitionsschwäche zudem zunehmend für die Leistungsbilanzungleichgewichte innerhalb der Eurozone und insbesondere für den extrem hohen Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands verantwortlich gemacht. Da saldenmechanisch die Leistungsbilanz die Differenz zwischen inländischer Ersparnis und inländischen Investitionen darstellt, die gesamtwirtschaftliche Sparquote in Deutschland aber keine Auffälligkeiten aufweist, wurde der Überschuss als Ergebnis schwacher inländischer Investitionstätigkeit interpretiert.3 Im Rahmen dieser Interpretation wurde auch davor gewarnt, den Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands mit expansiver Lohnpolitik korrigieren zu wollen. Dies würde nur zu einem Rückgang der Profitabilität von Investitionen in Deutschland und mithin zu weniger Investitionen führen, was zu einem noch größeren Leistungsbilanzüberschuss führe, so etwa der Sachverständigenrat.4

Auf den ersten Blick spricht wenig gegen diese Thesen. Tatsächlich lagen die gesamtwirtschaftlichen Investitionsquoten sowohl in Brutto- als auch in Nettozahlen (also abzüglich Abschreibungen) seit Anfang des Jahrtausends deutlich unter jenen der anderen Eurozonen-Staaten. Wie man in Abbildung 1 und Abbildung 2 gut erkennen kann, wurde in Deutschland Mitte der 1990er Jahre noch ähnlich viel investiert wie im Durchschnitt des Euroraums. Nach dem Ende des Technologie-Booms 2001 koppelte sich die Investitionsentwicklung in Deutschland allerdings von den Partnern ab. Mitte des 2000er Jahrzehnts lagen die Investitionsquoten (brutto wie netto) in Deutschland rund 3 Prozentpunkte unter jenen der anderen Eurostaaten.

Abbildung 1
Bruttoinvestitionen, Gesamtwirtschaft
in % des BIP
Dullien Abb-1.ai

Quelle: AMECO.

Abbildung 2
Nettoinvestitionen, Gesamtwirtschaft
in % des BIP
Dullien Abb-2.ai

Quelle: AMECO.

Box 1
Erläuterungen zur Datenbasis
Für die Berechnungen wurden die Daten aus der Annual Macroeconomic Database (AMECO) der EU-Kommission verwendet. Folgende Datenreihen wurden dabei herangezogen (jeweils angegeben ist der Code für die Datenreihe der Eurozone, für die einzelnen Länder wurden die entsprechenden Datenreihen verwendet).
Beschreibung Englische Beschreibung Code
Bruttoinlandsprodukt Gross domestic product at current market prices EA12.1.0.99.0.UVGD
Bruttoinvestitionen Gross fixed capital formation at current prices: total economy EA12.1.0.99.0.UIGT
Nettoinvestitionen Net fixed capital formation at current prices: total economy EA12.1.0.99.0.UINT
Investitionen Wohnungsbau Gross fixed capital formation at current prices: dwellings EA12.1.0.99.0.UIGDW
Ausrüstungsinvestitionen Gross fixed capital formation at current prices: equipment ESP.1.0.99.0.UIGEQ
Bauinvestitionen Gross fixed capital formation at current prices: construction EA12.1.0.99.0.UIGCO
Bruttoinvestitionen Staat Gross fixed capital formation at current prices: general government EA12.1.0.99.0.UIGG
Nettoinvestitionen Staat Net fixed capital formation at current prices: general government EA12.1.0.99.0.UING

Rückgang der Bauinvestitionen

Eine disaggregierte Betrachtungsweise der deutschen Investitionsdaten allerdings weckt Zweifel an der oben skizzierten Sichtweise. Gesamtwirtschaftliche Investitionen bestehen nämlich nicht nur aus den Unternehmensinvestitionen, die direkt auf Rentabilität und möglicherweise Lohnkosten im Inland reagieren, sondern auch aus öffentlichen Investitionen und privatem Wohnungsbau. Beide Komponenten sind nicht mit üblichen Rentabilitätsüberlegungen zu erklären. Die staatlichen Investitionsentscheidungen werden im politischen Prozess getroffen. Die Investitionen in den Wohnungsbau durch die privaten Haushalte werden extrem stark durch die staatliche Wohnungsbauförderung, die Lohnentwicklung und das Zinsniveau beeinflusst.

Abbildung 3, Abbildung 4 und Abbildung 5 zeigen die Investitionsquoten Deutschlands im europäischen Vergleich, aufgesplittet nach Ausrüstungs- und Bauinvestitionen sowie Wohnungsbau. Auffällig ist zunächst, dass sich der Anteil der Ausrüstungsinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt seit Mitte der 1990er Jahre in Deutschland weitgehend gleichlaufend zum Rest der Eurozone entwickelt hat. Einzig in den Jahren 2000 sowie 2006 bis 2008 lag diese Investitionsquote in Deutschland leicht über jener in der Eurozone insgesamt. Die relative Schwäche der deutschen Investitionstätigkeit im europäischen Vergleich geht also nicht auf eine Schwäche bei den Ausrüstungsinvestitionen, sondern ausschließlich auf eine Schwäche im Wohnungsbau und im Bau insgesamt zurück.

Abbildung 3
Ausrüstungsinvestitionen, brutto
in % des BIP
Dullien Abb-4.ai

Quelle: AMECO.

Abbildung 4
Bauinvestitionen, brutto
in % des BIP
Dullien Abb-5.ai

Quelle: AMECO.

Abbildung 5
Investitionen Wohnungsbau, brutto
in % des BIP
Dullien Abb-3.ai

Quelle: AMECO.

Diese Entwicklung sollte angesichts der These der mangelnden Profitabilität deutscher Unternehmen als Ursache der Investitionsschwäche verwundern, sind es doch die Ausrüstungsinvestitionen, die aus theoretischen Überlegungen am stärksten von der Profitabilität der Unternehmen abhängen sollten. Eine Erweiterung des Maschinenparks oder die Anschaffung neuer IT-Ausrüstungen sind typischerweise jene Art der Unternehmensinvestitionen, die als Ersatz- oder Erweiterungsinvestitionen für den Produktionsprozess notwendig sind.

Nun könnte man argumentieren, dass die Schwäche der Bauindustrie ebenfalls in erster Linie auf eine mangelnde Profitabilität des Unternehmenssektors insgesamt zurückgeht, dass dieser Rückgang also den Unwillen etwa des verarbeitenden Gewerbes abbildet, neue Fabrikgebäude in Deutschland zu bauen, weil diese nicht rentabel genug sind. Diese These lässt sich anhand der detaillierten Baustatistiken des Statistikamts Destatis auf ihre Plausibilität untersuchen. Dabei lässt sich feststellen, dass schon der Anteil der Bauinvestitionen des verarbeitenden Gewerbes eine solche Schlussfolgerung ausschließt: Die Bauinvestitionen des verarbeitenden Gewerbes sanken vom Investitionshöhepunkt 2000 bis zum Tiefpunkt 2005 um insgesamt 3,5 Mrd. Euro, was nicht einmal 0,2% des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Somit kann die Variation der Investitionen und die Investitionsschwäche Deutschlands insgesamt kaum auf diese Weise erklärt werden.

Die absolut größten Variationen der Bauinvestitionen gab es zudem bei den Dienstleistern, und sie sind dort vor allem auf das Grundstücks- und Wohnungswesen zurückzuführen. Dies erklärt auch die Schwäche der Anlageinvestitionen insgesamt: Zu den Anlageinvestitionen zählt zwar nicht der Wohnungsbau, allerdings der Wirtschaftsbau, d.h. Straßen, Wege oder die Verlegung von Abwasserrohren, die im Zuge der Erschließung von Wohngebieten gebaut werden. Es ist deshalb durchaus plausibel, dass der Rückgang der Bauinvestitionen in der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft kausal an die Schwäche des Wohnungsbaus gekoppelt ist.

Dies würde auch das etwas merkwürdige Phänomen erklären, dass sich in Deutschland zwar die Ausrüstungsinvestitionen etwas besser entwickelt haben als im Rest der Eurozone, die Anlageinvestitionen insgesamt aber weit schlechter: Großflächige neue Wohnbauten ziehen auch Investitionen in den Nicht-Wohnungsbau nach sich, von der Straße über den Spielplatz bis zur Kläranlage, die in den Anlageinvestitionen auftauchen.5

Ebenfalls auffällig ist bei den Detaildaten die ausgeprägte Investitionsschwäche der öffentlichen Hand sowohl bei der Betrachtung der Netto- als auch der Bruttozahlen (vgl. Abbildung 6 und Abbildung 7). Bereits 1995 lag der Anteil der öffentlichen Investitionen am Bruttoinlandsprodukt in Deutschland deutlich unter den Werten der Europartner. Dieser Abstand vergrößerte sich bis 2005 auf 0,9 Prozentpunkte in der Nettobetrachtung oder 1,1 Prozentpunkte in der Bruttobetrachtung.6

Abbildung 6
Bruttoinvestitionen, Staat
in % des BIP
Dullien Abb-6.ai

Quelle: AMECO.

Abbildung 7
Nettoinvestitionen, Staat
in % des BIP
Dullien Abb-7.ai

Quelle: AMECO.

Keine Investitionsschwäche im europäischen Vergleich

Die Tabelle 1 vergleicht die Investitionsquoten wichtiger Aggregate Deutschlands mit jenen der Eurozone für die Jahre 2000 (letztes Jahr vor der deutschen Investitionsschwäche) und 2005 (Jahr der größten relativen Investitionsschwäche) und macht deutlich, dass der Rückgang der öffentlichen Investitionen und des Wohnungsbaus bereits den größten Teil der Investitionsschwäche in Deutschland insgesamt erklärt. Zwar sind der Wohnungsbau und die öffentlichen Investitionen in dieser Betrachtung nicht einfach zu addieren, weil es dabei zu Doppelzählungen kommt, da die öffentliche Hand in Deutschland auch Wohnungen baut. Allerdings dürfte sich diese Doppelzählung angesichts des inzwischen geringen Gewichts öffentlicher Auftraggeber im Wohnungsbau (wertmäßig 2009 im Wohnungsbau bei 0,5% der Gesamtkosten des Wohnungsbaus)7 in Grenzen halten. Dafür muss dem Wohnungsbau noch jener Teil des Baus zugerechnet werden, der der Erschließung von Bauflächen für Wohngebäude dient, nicht aber den Wohnungsbau umfasst.

Tabelle 1
Bruttoinvestitionsquoten in Deutschland und der Eurozone im Vergleich, 2000 und 2005
  2000 2005
Gesamtwirtschaftliche Investitionen    
Deutschland (in % des BIP) 21,5 17,4
Eurozone (in % des BIP) 21,5 20,7
Differenz in Prozentpunkten 0,0 3,3
Ausrüstungsinvestitionen    
Deutschland (in % des BIP) 8,6 7,2
Eurozone (in % des BIP) 8,3 7,2
Differenz in Prozentpunkten -0,2 0,0
Wohnungsbau    
Deutschland (in % des BIP) 6,8 5,2
Eurozone (in % des BIP) 5,9 6,1
Differenz in Prozentpunkten -1,0 0,8
Öffentliche Investitionen    
Deutschland (in % des BIP) 1,8 1,3
Eurozone (in % des BIP) 2,5 2,5
Differenz in Prozentpunkten 0,7 1,1
Bauinvestitionen    
Deutschland (in % des BIP) 11,7 9,1
Eurozone (in % des BIP) 11,5 11,7
Differenz in Prozentpunkten -0,3 2,6

Quelle: EU-Kommission: Annual Macroeconomic Database (AMECO), Brüssel 2011, Version vom April 2011, http://ec.europa.eu/economy_finance/db_indicators/ameco/index_en.htm; eigene Berechnungen.

Damit bleibt kaum noch ein Abstand zwischen der Investitionsquote Deutschlands und jener der Partner, der nicht direkt oder indirekt durch staatliche Investitionspolitik, staatliche Wohnungsbauförderung oder den Wohnungsbau selber verursacht worden sein könnte. Die vermeintlich durch niedrige Renditen verursachte Investitionsschwäche der deutschen Unternehmen entpuppt sich bei sorgfältiger Analyse der Investitionsdaten als Chimäre.

Ursachen der Wohnbauschwäche

Während die Investitionsschwäche der öffentlichen Hand eindeutig auf politische Entscheidungen und die Versuche zurückgeht, die Staatsdefizite in Zeiten schwachen Wirtschaftswachstums unter Kontrolle zu halten, bliebe zu untersuchen, welche Ursachen die Schwäche im deutschen Wohnungsbau hat. Wichtiger Faktor dürfte hier das Auslaufen von verschiedenen Programmen zur Förderung des Wohnungsbaus sein. So war seit Mitte der 1990er Jahre die Wohnungsbauförderung in Deutschland deutlich zurückgefahren worden. Bereits zum 31.12.1998 waren die Sonderabschreibungen für Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern ausgelaufen. Zunächst wurde diese Sonderabschreibung für bestimmte Aktivitäten durch eine – für die Bauherren ungünstigere – Investitionszulage ersetzt, die allerdings ebenfalls Ende 2004 auslief. Parallel wurde die für ganz Deutschland geltende Eigenheimzulage mit Wirkung ab dem 1.1.2004 deutlich abgeschmolzen und zum 31.12.2005 ganz abgeschafft. In der Summe kann angesichts dieses massiven Subventionsabbaus im Wohnungsbau davon ausgegangen werden, dass die Politik eine zentrale Rolle für die Schwäche in diesem Bereich gespielt hat.

Zudem spielt der Bauboom nach der Wiedervereinigung eine wichtige Rolle. Insbesondere im Osten Deutschland hatten Förderprogramme wie die Sonderabschreibungsregeln und die Investitionszulage zusammen mit dem erheblichen Sanierungsbedarf einen Bauboom ausgelöst, der massive Überkapazitäten entstehen ließ. Als Folge davon brachen die Bauinvestitionen ab Ende der 1990er Jahre regelrecht ein.

Darüber hinaus dürfte die schwache Lohnentwicklung in Deutschland über die vergangenen Jahre den Wohnungsbau negativ beeinflusst haben. Verfügbare Masseneinkommen sind eine wichtige Determinante der Nachfrage nach Wohnraum sowie auch der Zahlungsbereitschaft der Mieter pro Quadratmeter. Weniger Zahlungsbereitschaft der Mieter wiederum lässt sich in relativ niedrige Mieten übersetzen und diese – nach gängigen Immobilienbewertungsansätzen – in niedrige Immobilienpreise. Niedrige Immobilienpreise wiederum machen den Neubau von Wohngebäuden weniger attraktiv. Eine weitere Ursache der vergleichsweise schwachen Entwicklung der Bauinvestitionen dürfte gewesen sein, dass das Realzinsniveau in Deutschland wegen der niedrigen Inflationsraten in der vergangenen Dekade zumeist über dem der anderen Länder der Eurozone lag.

Abfluss von Sparkapital?

Diese hier dargestellte Interpretation der Investitionsschwäche hat sowohl wichtige Auswirkungen auf die Wirtschaftsaussichten für die kommenden Jahre als auch für die wirtschaftspolitischen Empfehlungen.

Zum einen stellt diese Interpretation die These infrage, dass die deutsche Wirtschaft von der Vertrauenskrise der Finanzmärkte in die Euro-Peripherieländer profitiere und dies positive Folgen für die deutsche Investitionsdynamik habe, wie sich Hans-Werner Sinn zuletzt geäußert hat. Sinn argumentiert, dass die Investitionsschwäche in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt auch mit Fehlfunktionen des Finanzmarktes nach Einführung des Euro 1999 zu erklären sei und dass sich dieser Effekt nun mit der Krise in Griechenland, Spanien, Irland und Portugal korrigiere.

Durch die Gründung der Währungsunion und die Schaffung eines einheitlichen Kapitalmarkts seien für Investoren die Anreize gestiegen, Kapital in die Länder der europäischen Peripherie zu transferieren, weil dort vermeintlich höhere Renditen lockten. Die deutschen Ersparnisse seien auf diese Weise über das Bankensystem in die Länder der Peripherie exportiert worden und hätten dort einen Wirtschaftsboom finanziert, der zu übermäßigen Lohn- und Preissteigerungen geführt habe.

Spiegelbildlich sei die Entwicklung in Deutschland gelaufen. Dort habe nun weniger Kapital für Investitionen zur Verfügung gestanden, was die Binnenkonjunktur geschwächt und den Anstieg von Löhnen und Preisen gedämpft habe. Der schädliche „Aderlass an Kapitalexporten“8 sei maßgeblich für das unterdurchschnittliche Wirtschaftswachstum des Landes in den ersten Jahren nach der Einführung des Euro verantwortlich gewesen. Von der gesamten inländischen Ersparnis zwischen 2002 und 2009 von 1411 Mrd. Euro seien 67% ins Ausland geflossen, und wurden nicht „dem Mittelstand zur Verfügung (gestellt), damit dieser hier im Land investiert und Arbeitsplätze schafft“9.

Im Zuge der europäischen Schuldenkrise sei den Banken nun bewusst geworden, dass das Kreditausfallrisiko in der europäischen Peripherie höher sei als bislang angenommen. Das Versprechen hoher und sicherer Renditen habe sich damit als nicht haltbar entpuppt. In der Folge werde Sparkapital wieder verstärkt in Deutschland angelegt. Dadurch stünden zusätzliche Mittel für Investitionen bereit, was eine wesentliche Ursache des aktuellen Wirtschaftsaufschwungs sei. Deutschland erlebe „einen kreditgetriebenen binnenwirtschaftlichen Boom, weil die Banken die Spargelder wieder zuhause anlegen“10. Die hohen Wachstumsraten in Deutschland sind Sinn zufolge also das Ergebnis einer Umkehr der Kapitalströme, die durch die Probleme der Peripheriestaaten ausgelöst wurde. Deutschland profitiert damit von der Staatsschuldenkrise.11 Nach dieser Interpretation wären die Hilfsprogramme der EU aus deutscher Sicht kontraproduktiv. Indem sie das Risiko eines Zahlungsausfalls in den Peripheriestaaten senkten, induzierten sie neue Kapitalabflüsse, die die deutsche Wirtschaft wieder schwächten. „Dann heizen wir Länder wie Griechenland, Spanien oder Irland weiter auf und verlängern bei uns die Flaute.“12

Krisenfolgen für Deutschland negativ

Diese Argumentationskette wäre vor dem Hintergrund der hier vorgestellten Interpretation der Investitionsschwäche problematisch: Wenn die Investitionsschwäche in Deutschland gar nicht in erster Linie ein Problem des mangelnden Kreditangebots der Unternehmen oder der – im europäischen Vergleich zu niedrigen Renditen deutscher Unternehmen – gewesen ist, dürfte ein Ende des Vertrauens in die Euro-Peripherie die realen Investitionen der deutschen Unternehmen nur marginal beeinflussen.13 Stärkere Effekte wären allenfalls bei den Bauinvestitionen denkbar, da der Ruf des „sicheren Hafens“ unter bestimmten Annahmen zu einem Rückgang des langfristigen Zinsniveaus für Immobilienkredite in Deutschland führen kann.14

Abgesehen davon, dass auch andere Faktoren die Dynamik am Immobilienmarkt beeinflussen, ist allerdings fraglich, ob ein Boom am Immobilienmarkt normativ wünschenswert ist. Wohnungsbauinvestitionen dürften für die langfristigen Wachstumschancen weniger bedeutsam sein als Unternehmensinvestitionen, und das Platzen einer Immobilienblase ist, wie sich in Irland, Spanien oder den USA zeigt, mit erheblichen negativen Folgewirkungen für die Gesamtwirtschaft verbunden.

Folglich ist zu erwarten, dass die Krise in der europäischen Peripherie mittelfristig gesamtwirtschaftlich für Deutschland eher belastend wirkt. Über kurz oder lang wird die schwächere Exportnachfrage aus den Krisenländern auch die deutsche Exportindustrie belasten. Deutschlands Wirtschaft mag in dieser Zeit immer noch stärker wachsen als jene der Partnerländer, dies ist aber eher darauf zurückzuführen, dass Deutschland die enormen Belastungen eines radikalen Austeritätskurses nicht tragen muss, als darauf, dass Deutschland von Kapitalzuflüssen profitieren würde.

Ebenso wäre die Hoffnung des Sachverständigenrates, „dass die bisher durchgeführten Reformen einen weiteren Anstieg der Investitionen unterstützen werden“15 unter diesen Vorzeichen mit Vorsicht zu genießen: Wenn die Investitionsschwäche Deutschlands weniger mit Problemen der Ausrüstungsinvestitionen und damit Unternehmensprofitabilität zu tun hat als mit dem Wohnungsbau und den öffentlichen Investitionen und damit mit Faktoren wie der staatlichen Investitionspolitik, der staatlichen Wohnungsbauförderung oder der schwachen Lohnentwicklung, so ist auch nicht alleine über die Angebotsreformen des vergangenen Jahrzehnts ein Investitionsschub zu erwarten.

Wirtschaftspolitische Empfehlungen

Auch für die wirtschaftspolitischen Empfehlungen hat diese Analyse Konsequenzen: Natürlich ist auch bei der hier dargestellten Analyse der Schlussfolgerung des Sachverständigenrates zuzustimmen, dass „wachstumsfördernde öffentliche Investitionen ein wichtiges zukünftiges Tätigkeitsfeld der Politik“16 darstellen. Eine Umkehr der staatlichen Investitionspolitik könnte fraglos die Investitionsquote wieder erhöhen. Fraglicher ist die unmittelbar folgende Schlussfolgerung, dass „[e]in zentraler Aspekt, der für mehr binnenwirtschaftliches Wachstum und Produktivitätsfortschritte sorgen kann, […] der Abbau bestehender Produktmarktregulierungen sowie vorhandener Wettbewerbsverzerrungen [sei].“ Zumindest aus der Entwicklung der Investitionsquoten der vergangenen Jahre lässt sich nicht klar ableiten, dass solche Politiken, die ja in den vergangenen zehn Jahren in vielen Märkten umgesetzt worden sind, tatsächlich zu höheren Investitionen führen. Vernachlässigt man die zyklischen Schwankungen bei den Ausrüstungsinvestitionen, so ist deren Anteil am Bruttoinlandsprodukt über diesen Zeitraum sogar eher gefallen.

Gleichzeitig deutet der Befund, dass Deutschlands Ausrüstungsinvestitionen seit Mitte der 1990er Jahre in etwa gleich hoch wie in den anderen Euroländern lagen, darauf hin, dass eine etwas stärkere Lohnentwicklung möglicherweise weit weniger negative Auswirkungen auf die Investitionstätigkeit der Unternehmen haben könnte, als es etwa von der Bundesbank17 oder dem Sachverständigenrat18 angenommen wird: In dem langen Zeitraum gab es Phasen, in denen die deutschen Lohnstückkosten deutlich über jenen der Partner lagen, als auch Phasen, in denen Deutschland hoch wettbewerbsfähig war. Wäre diese relative preisliche Wettbewerbsfähigkeit ein wichtiger Bestimmungsfaktor für die Unternehmensinvestitionen, sollte eigentlich ein klareres Abweichen der deutschen Ausrüstungsinvestitionsquote von jener der europäischen Partner erkennbar sein. Betrachtet man Investitionen insgesamt in der üblichen Abgrenzung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, könnten sogar höhere Lohnsteigerungen zu mehr Investitionen führen: Plausibel wäre nämlich eine höhere Bautätigkeit durch höhere Löhne, während die Ausrüstungsinvestitionen keine große Reagibilität hinsichtlich der relativen Lohnkosten zu zeigen scheinen.

  • 1 Vgl. H.-W. Sinn: Basar-Ökonomie Deutschland: Exportweltmeister oder Schlusslicht?, in: ifo Schnelldienst, 6/2005, München 2005, S. 3-42.
  • 2 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Chancen für einen stabilen Aufschwung, Jahresgutachten 2010/2011, Wiesbaden 2010, S. 103. Für eine ähnliche Argumentation siehe auch Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: 20 Punkte für mehr Wachstum und Beschäftigung, Jahresgutachten 2002/2003, Wiesbaden 2002, S. 329.
  • 3 Vgl. Deutsche Bundesbank: Zur Problematik makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-Raum, Monatsbericht Juli, Frankfurt 2010, S. 17-40; oder Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Chancen für einen stabilen Aufschwung ..., a.a.O., S. 107 ff.
  • 4 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Chancen für einen stabilen Aufschwung ..., a.a.O., S. 117 ff.
  • 5 Die unterschiedliche Entwicklung des Wohnungsbaus dürfte sogar erklären, warum die Investitionen von Kapitalgesellschaften insgesamt wie vom Sachverständigenrat dargestellt in Deutschland schwächer ausgefallen sind als in anderen Euroländern. In vielen Eurostaaten wird der Wohnungsbau in erster Linie über Projektgesellschaften durchgeführt, die später die fertigen Wohnbauten an die Privathaushalte veräußern. Der Boom im Wohnungsbau schlägt sich deshalb nicht nur in den Wohnungsinvestitionen oder den Investitionen der Privathaushalte nieder, sondern auch in den Investitionen der Kapitalgesellschaften.
  • 6 Der Sachverständigenrat weist in seinem Jahresgutachten 2002 ebenfalls auf die Schwäche der öffentlichen Investitionstätigkeit hin, zieht daraus aber für die Analyse der Investitionen insgesamt keine entsprechenden Schlussfolgerungen. Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, a.a.O., S. 229.
  • 7 Vgl. Tabelle 3.1 in Destatis: Bauen und Wohnen: Baufertigstellungen von Wohn- und Nichtwohngebäuden u.a. nach Bauherren. Lange Reihen zum Teil ab 1980, Wiesbaden 2010.
  • 8 Vgl. H.-W. Sinn: Deutschland und die Euro-Krise. Positive Wirtschaftsperspektiven nicht durch falsche Rettungspakete gefährden, Wirtschaftsbeirat Bayern, Nr. 12/2010, München 2010, S. 2.
  • 9 Vgl. H.-W. Sinn: Wer vom Euro profitiert: Warum die Europäische Union die Entwicklung der deutschen Wirtschaft fehlinterpretiert, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 249, vom 27.10.2010, S. 18.
  • 10 Vgl. H.-W. Sinn: Deutschland und die Euro-Krise ..., a.a.O., S. 1-3.
  • 11 Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass diese Argumentationskette auch empirisch höchst fragwürdig ist, da Deutschland im Jahr 2010, in dem sich das im Euro-Schnitt überdurchschnittliche und von Sinn beobachtete Wachstum erstmals materialisiert hat, sogar einen steigenden Leistungsbilanzüberschuss und damit einen steigenden Nettokapitalexport verzeichnet (2010 betrug der Leistungsbilanzüberschuss nach Angaben des Internationalen Währungsfonds 5,3% des Bruttoinlandsprodukts, nach knapp über 5% im Jahr 2009 und 1,9 bzw. 4,7% in den Stagnationsjahren 2003 und 2004). Es ist nicht ersichtlich, wie angesichts solcher Zahlen das starke Wachstum 2010 mit einer Umkehr der Kapitalströme zu erklären ist.
  • 12 Vgl. H.-W. Sinn: Wer vom Euro profitiert ..., a.a.O., S. 18.
  • 13 Auch China, das Land mit einer der höchsten Investitionsquoten der Welt, weist einen Leistungsbilanzüberschuss auf und ist damit ein Nettokapitalexporteur. Ein Problem der Argumentationsweise Hans-Werner Sinns ist, dass er die Ersparnis als ex ante fixierte Größe versteht, um die verschiedene Länder im Sinne eines Nullsummenspiels konkurrieren. Damit fehlt ein Euro, der in Portugal investiert wird, in Deutschland. Tatsächlich entsteht die Ersparnis ex post als Resultat der Geldschöpfung im Bankensystem und der gesamtwirtschaftlichen Einkommensentstehung, wenn nämlich die Banken neue Kredite vergeben und ein Teil des aus diesen Krediten generierten Einkommens gespart wird.
  • 14 Allerdings ist hier zu fragen, ob tatsächlich ein Zustrom von Kapital aus dem Ausland durch das Bankensystem in den deutschen Immobiliensektor stattfindet, oder ob der beobachtete Rückgang des Zinsniveaus bei Hypothekenkrediten nicht eher auf gefallene Erwartungen künftiger kurzfristiger Zinsen zurückgeht. Die Tatsache, dass sich der deutsche Leistungsbilanzsaldo 2010 erneut ausgeweitet hat (und damit netto mehr Kapital aus Deutschland abfließt), spricht eher für letzteres.
  • 15 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Chancen für einen stabilen Aufschwung ..., a.a.O., S. 120.
  • 16 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Chancen für einen stabilen Aufschwung ..., a.a.O., S. 121.
  • 17 Vgl. Deutsche Bundesbank, a.a.O., S. 17-40.
  • 18 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Chancen für einen stabilen Aufschwung ..., a.a.O.


DOI: 10.1007/s10273-011-1248-0