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Helmut Schmidt wird gelegentlich mit den Worten zitiert: „Normale Menschen legen Ihr Geld nicht in Aktien an.“ Und: „Die Aktienbörsen werden im Wesentlichen von Psychopathen bevölkert.“ Die erste Aussage scheinen die deutschen Anleger zu beherzigen, denn die Aktienquote deutscher Sparer liegt weit unter dem internationalen Durchschnitt. In der Regel wird dieser Zustand als beklagenswert empfunden und gefordert, durch Verbesserung der „Aktienkultur“ die Quote deutlich und nachhaltig zu erhöhen. Hierzu tragen die Worte des Altbundeskanzlers sicherlich nicht bei. Was die zweite Aussage betrifft, so könnte man geneigt sein, ihr vorbehaltlos zuzustimmen. Seit dem weltweiten Börsencrash 1987 hat es weitere dramatische Börsenzusammenbrüche gegeben, z.B. in den Jahren 2000 und 2008. Nicht der Absturz der Kurse an sich, sondern deren Maßlosigkeit, ist ein Indiz für psychopathisches Treiben. Negative Kursexzesse sind beim jüngsten Börsenkollaps unverkennbar. Die Erklärungsversuche sind unbefriedigend, auch wenn Medien stets wohlfeile Erklärungen für jedwede Börsenbewegung parat haben nach dem Motto: „Nicht die Fakten machen die Kurse, sondern die Kurse machen die Fakten.“

Der Deutsche Aktienindex verlor Ende Juli innerhalb weniger Tage ca. 1600 Punkte oder rund 30%. Im DAX sind 30 deutsche Top-Unternehmen zusammengefasst. Ihnen geht es dem Vernehmen nach blendend, auch wenn nationale und globale Risiken immer präsent sind. Das Gemisch aus negativen Faktoren, das seit langem bekannt ist, hat sich nicht wahrnehmbar verändert. Vielleicht war es aber auch nur der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Mit dem Fingerzeig auf Psychopathen macht man sich die Suche nach „Schuldigen“ vermutlich zu leicht. Fakt ist, dass Unsicherheit „Gift“ für die Börse ist. Mit Risiken vermag sich die Börse noch zu arrangieren, mit Unsicherheit nicht. Risiken sind, wie Frank H. Knight einst zutreffend bemerkte, der kalkulierbare Teil der Ungewissheit. Unsicherheit hingegen ist nicht kalkulierbar. John M. Keynes charakterisierte die Unsicherheit einmal treffend so: „We simply do not know.“ Etwas, das man gar nicht kennt, ist schwer einzuschätzen. Aus der Sicht vieler Börsenteilnehmer ist die wirtschaftliche und politische Situation so verworren, dass eine Einschätzung unmöglich erscheint. Dies ist schon lange so. Es bedarf offenbar einiger Zeit und vielleicht noch eines winzigen Anstoßes, des viel zitierten „Flügelschlagens eines Schmetterlings“ irgendwo auf der Welt, um die Stimmung zu kippen und den Kollaps respektive die Panik auszulösen.

Der Hinweis auf Psychopathen sollte auch Anlass sein, über psychologisch begründbare Abläufe an der Börse nachzudenken. Nachdem Daniel Kahneman und Amos Tversky ihre „Prospect Theory“ vorgestellt haben, bahnt sich in der Finanzmarktforschung ein Paradigmenwechsel an: Die Abkehr von der neoklassischen Kapitalmarkttheorie, die von strikt rational entscheidenden Markteilnehmern ausgeht und die Hinwendung zur Behavioral Finance, die den Marktteilnehmern Verhaltensanomalien bis hin zu irrationalem Verhalten unterstellt. So kann die Behavioral Finance z.B. ganz gut erklären, dass sich Anleger in undurchsichtigen Entscheidungssituationen zunächst einmal mit dem Prinzip der selektiven Wahrnehmung behelfen, also nur Informationen aufnehmen, aus denen sie Selbstbestätigung ableiten können. Dies geht freilich nur so lange gut, bis irgendwelche Ankergrößen wegbrechen. Diese könnten z.B. in Stoplossmarken bestehen, die im Falle ihrer Verletzung „bestens“-Verkäufe auslösen. Da sich Börsianer aus einem allgemeinen Harmoniebedürfnis heraus tendenziell gleich gerichtet verhalten (Feedback-Verhalten), kommt es zu den gefürchteten Kaskadeneffekten, die dann das in ruhigen Zeiten Orientierung vermittelnde Ankersystem vollends zerstören. Die Folge ist der als überaus beunruhigend empfundene Kontrollverlust, der schließlich in panikartiges Lemmingeverhalten mündet. Jetzt „regiert“ nur noch die nackte Angst, die bekanntlich ein denkbar schlechter Ratgeber ist. Erst jetzt nimmt das Geschehen psychopathische Züge an.

Das Urteil der neoklassischen Kapitalmarkttheorie, die noch immer den „state of the art“ für sich reklamiert, über Börsenturbulenzen ist ebenso klar wie konsequent, doch leider falsch: Da Anleger annahmegemäß rational handeln, muss auch ein Börsencrash rational sein. Im Grunde ist diese Schlussfolgerung zirkulär und tautologisch: Alles, was rationale Akteure tun, ist rational. Dahinter steht eine Bewertungslehre, die alle Hintertürchen offenhält: Das Discounting-Cash-Flow-Modell (DCF-Modell). Abgesehen davon, dass man Cashflows in üppiger Variationsbreite definieren kann, hängt die (Aktien-)Bewertung entscheidend von der Schätzung zukünftiger Cashflows und von der Festlegung eines Kalkulationszinsfußes ab. An diesen beiden Stellschrauben kann man nach Belieben drehen. Da rationale Akteure definitionsgemäß immer „richtig“ drehen, ist auch das Ergebnis, der ermittelte Wert, korrekt. Ein Crash ist also die natürlichste Sache der Welt: Alerte und rationale Wirtschaftssubjekte haben die Zeichen der Zeit richtig erkannt und deshalb die Inputs in der Bewertungsformel entsprechend angepasst. Voilà.

Vor dem Hintergrund dramatischer Kurszusammenbrüche kann diese Begründung aus dem Elfenbeinturm jedoch nicht überzeugen. Weder von der Wissenschaft noch vom politischen Umfeld sind einleuchtende Erklärungen des Marktgeschehens zu erwarten. Der vielstimmige Chor aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik trägt nicht zur Vertrauensbildung bei. Das Vertrauen in die Geschäftsbanken ist stark beschädigt. Auch die Zentralbanken haben ihr Ansehen weitgehend verspielt, etwa die FED durch das Mitverschulden der Subprimekrise oder die EZB infolge des regelwidrigen Ankaufs von Schuldtiteln von EU-Pleitekandidaten. Zum verlorenen Vertrauen in die Banken gesellt sich verlorenes Vertrauen in den Staat, denn der in vielen Ländern bedrohlich angewachsene Schuldenberg hat den Staatsbankrott zu einer realistischen Bedrohung werden lassen. Der letzte Rest an Urvertrauen in das Bankensystem und in den Staat scheint vollends verloren zu gehen.

Was kann man dem Anleger raten? Edelmetalle sollten in keinem Depot fehlen, es besteht aber das Risiko konfiskatorischer staatlicher Zugriffe. Immobilienbesitz ist wegen der Chance auf Substanzerhaltung zu befürworten, die Rendite ist jedoch schlecht und das Risiko staatlicher Zugriffe nicht auszuschließen. Staatspapiere, Sparguthaben und dergleichen eignen sich nur für „Kurzparker“, denn es besteht das Risiko eines Schuldenschnitts bzw. Forderungsschnitts. Aktien sind eigentlich ein „Muss“, da sie eine Beteiligung an realwirtschaftlich „unentbehrlicher“ Wertschöpfung ermöglichen; allerdings besteht das Risiko von massiven Wertschwankungen. Für die gesamte Vermögenshaltung gilt zweifellos mehr denn je: „Klug diversifizieren, also nicht alle Eier in einen Korb legen!“

Der Politik muss man raten, den Geburtsfehler des Euro zu beseitigen. Er besteht darin, dass Staaten mit unterschiedlicher wirtschaftlicher Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit in das Korsett einer einheitlichen Währung gezwängt wurden. Dadurch wurde der Wechselkursmechanismus als Ausgleichsmechanismus für zwischenstaatliche Differenzen zerstört. Schwächelnde und hoffnungslos überschuldete Eurostaaten (Griechenland, Portugal, Italien, …) sollten aus dem Währungsverbund entlassen werden und zu nationalen Währungen zurückkehren. Ein konsequentes und rigoros durchgesetztes ökonomisches Restrukturierungs- und „Ertüchtigungs“-Programm (in der Art eines Marshallplans, überwacht durch eine Art Treuhandanstalt) müsste dann, flankiert durch eine schrittweise Harmonisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik, den ökonomischen Gleichklang herstellen. Dies dürfte die Finanzmärkte schließlich überzeugen und psychopathisches Marktverhalten spürbar reduzieren.


DOI: 10.1007/s10273-011-1266-y