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Die monatlich von der Bundesagentur für Arbeit veröffentlichte Zahl der registrierten Arbeitslosen findet eine große öffentliche Aufmerksamkeit und gilt als wesentlicher Maßstab, den Zustand und die Entwicklung des deutschen Arbeitmarktes zu bewerten. Ebenso zentral, wenn auch nicht ganz so stark im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung, ist die Zahl der Erwerbstätigen, die monatlich vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht wird.

Klassische Kennzahlen zeichnen positives Bild

Betrachtet man diese Kennzahlen, zeigt sich ein alles in allem sehr positives Bild für den deutschen Arbeitsmarkt: Die Arbeitslosenzahl ist im Jahresdurchschnitt seit 2005, also seit der Neuregelung des Arbeitslosengeldes durch das Hartz IV-Gesetz, von 4,86 Mio. auf 2,98 Mio. (2011) gesunken. Gleichzeitig stieg in diesem Zeitraum die Zahl der Erwerbstätigen von 38,87 Mio. auf 41,04 Mio. Die Erwerbstätigenquote – also der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren, der sich in Arbeit befand – legte zwischen 2005 und 2010 von 65,5% auf 71,1% zu (die Ergebnisse für 2011 liegen noch nicht vor). Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter, da sich im selben Zeitraum der stärkste Rückgang der Wirtschaftsleistung in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik ereignete.

Neben diesem positiven Gesamteindruck gibt es eine Reihe gegenläufiger Entwicklungen, die ihren Widerhall immer wieder in der öffentlichen Debatte finden: Die Rede ist z.B. von Prekarisierung oder prekärer Beschäftigung, von Niedriglöhnen, der Generation Praktikum und der Schwierigkeit junger Leute, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Thematisiert werden die Zunahme unsicherer Arbeitsverhältnisse und als Pendant die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses. Auf der anderen Seite wird vorgebracht, dass gerade wegen der Lohnzurückhaltung der letzten Jahre und eines flexibleren Arbeitsmarkts dieser weitestgehend unbeschadet über die durch die Finanzkrise verursachte wirtschaftliche Situation seit 2008 hinwegkommen konnte.

Vielfalt am Arbeitsmarkt erfordert neue Indikatoren

Unabhängig davon wie zutreffend diese Beschreibungen der Entwicklungen am Arbeitsmarkt sind, weisen sie alle darauf hin, dass die Rahmenbedingungen, unter denen Menschen heute in Deutschland arbeiten, vielfältiger geworden sind. Allein die Tatsache, über eine Arbeitsstelle zu verfügen, führt nicht mehr zwangsläufig zu materieller Absicherung und gesellschaftlicher Teilhabe. Würde sich die amtliche Arbeitsmarktberichterstattung auf die Kennzahlen Erwerbstätige und Arbeitslose beschränken, würde sie zu kurz greifen und wesentliche Entwicklungen am Arbeitsmarkt außer Acht lassen.1 Wenn von Erwerbstätigkeit die Rede ist, verbirgt sich dahinter tatsächlich eine Vielfalt unterschiedlicher Erwerbsformen. Die Unterscheidung in Beamte, Angestellte und Arbeiter ist dabei nur noch bedingt hilfreich. Das Statistische Bundesamt trägt den Entwicklungen am Arbeitsmarkt mit einer alternativen, verfeinerten Betrachtungsweise Rechnung.

Atypische Beschäftigung: ein genaueres Bild

Um die zunehmende Heterogenität der Erwerbsformen abbilden zu können, bedarf es eines umfassenden und allgemein akzeptierten Konzeptes. Dieses sollte sich an Eigenschaften der Beschäftigungsverhältnisse festmachen und keine Bewertung vorwegnehmen, wie es z.B. im Zusammenhang mit dem Begriff der prekären Beschäftigung häufig passiert. Dazu nutzt die deutsche Arbeitsmarktforschung das Konzept der atypischen Beschäftigung.2 Ausgangspunkt ist das Normalbeschäftigungsverhältnis.3 Es zeichnet sich dadurch aus, dass es in Vollzeit und unbefristet ausgeübt wird. Weiterhin trägt es zur materiellen Absicherung bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und für den späteren Ruhestand bei, d.h, der Beschäftigte erwirbt durch die Beiträge zu den Sozialversicherungen entsprechende Ansprüche. Zudem arbeitet ein Normalbeschäftigter direkt für das Unternehmen, bei dem er beschäftigt ist. Das trifft nicht zu, wenn er in einem Unternehmen arbeitet, den Arbeitsvertrag aber bei einem anderen Unternehmen abgeschlossen hat, das ihn dorthin vermittelt beziehungsweise ausleiht. Gleichzeitig ist er wie die direkt in dem Unternehmen Beschäftigten in die Arbeitsprozesse eingegliedert und erhält seine Weisungen von dessen Führungspersonal. In der Arbeitsmarktforschung betrachtet man solche Erwerbsformen gesondert, die den Merkmalen eines Normalbeschäftigungsverhältnisses nicht entsprechen und bezeichnet sie als atypisch. Dementsprechend unterscheidet das Statistische Bundesamt folgende Erwerbsformen, die zur atypischen Beschäftigung zählen: (1) die Teilzeitbeschäftigung mit 20 und weniger Arbeitsstunden pro Woche, (2) befristete Beschäftigung, (3) geringfügige Beschäftigung und (4) Zeitarbeit. Zusammen mit dem (5) Normalarbeitverhältnis beschreiben sie alle Formen abhängiger Beschäftigung. Im Weiteren zählen zu den Erwerbstätigen die (6) Selbstständigen mit Beschäftigten, die (7) Solo-Selbstständigen ohne Beschäftigte und die in Betrieben (8) unbezahlt mitarbeitenden Familienangehörigen (vgl. Abbildung 1). Im Zentrum der Betrachtung stehen dabei die Kernerwerbstätigen im Alter von 15 bis 64 Jahren, die sich nicht in Bildung oder Ausbildung befinden. Datengrundlage ist der Mikrozensus, eine jährlich bei rund 1% der Bevölkerung durchgeführten Befragung zu Themen wie der Erwerbsbeteiligung, Bildung oder dem Haushalt.

Abbildung 1
Erwerbstätige in unterschiedlichen Erwerbsformen 2010
Wingerter Abb-1.ai

Quelle: Statistisches Bundesamt: Mikrozensus.

Insgesamt gab es 2010 in Deutschland 34,97 Mio. Kernerwerbstätige. 23,07 Mio. arbeiteten in einem Normalbeschäftigungsverhältnis. Das heißt, genau zwei Drittel der Kernerwerbstätigen (66,0%) befanden sich in voll sozialversicherungspflichtiger, unbefristeter Vollzeitbeschäftigung und waren dabei nicht in Zeitarbeit. Damit war Normalbeschäftigung auch 2010 das dominierende Beschäftigungsverhältnis. Seit 1996 ist die Zahl der so Beschäftigten allerdings um 1,59 Mio. zurückgegangen und das bei einer insgesamt steigenden Zahl an Kernerwerbstätigen (+1,94 Mio.). Der Anteil der Normalarbeitnehmerinnen und -nehmer an den Erwerbstätigen betrug 1996 noch knapp drei Viertel (74,7%).

Steigende Zahl atypisch Beschäftigter

2010 waren 7,84 Mio. Personen atypisch beschäftigt. Damit befand sich etwas mehr als jeder fünfte Kernerwerbstätige (22,4%) in einem solchen Beschäftigungsverhältnis. In den zurückliegenden 15 Jahren ist die Zahl der atypisch Beschäftigten um 2,97 Mio. gestiegen. 1996 betrug ihre Zahl noch 4,86 Mio. Entsprechend hat sich ihr Anteil an den Kernerwerbstätigen deutlich erhöht, der 1996 noch 14,7% entsprach.

2010 gingen 4,93 Mio. Kernerwerbstätige einer Teilzeitbeschäftigung mit maximal 20 Wochenstunden nach, 2,76 Mio. waren befristet, 2,52 Mio. waren geringfügig beschäftigt und 740 000 befanden sich in Zeitarbeit. Da ein Beschäftigungsverhältnis mehrere Eigenschaften atypischer Beschäftigung gleichzeitig haben kann, gibt es Überschneidungen bei den Erwerbsformen. Am größten waren diese 2010 zwischen Teilzeit- und geringfügiger Beschäftigung mit 2,16 Mio. Erwerbstätigen. Seit 1996 ist die Zahl der Erwerbstätigen in allen Formen atypischer Beschäftigung gestiegen. Am stärksten war der Zuwachs bei der Zahl der Teilzeitbeschäftigten mit 1,74 Mio. Die geringfügige Beschäftigung legte um 1,42 Mio. zu, womit deutlich wird, dass ein Großteil des Zuwachses an Teilzeitbeschäftigung in Form von geringfügiger Beschäftigung erfolgt ist. Die befristete Beschäftigung hat in den letzten 15 Jahren um 990 000 Personen zugelegt. Die Zahl der Zeitarbeitnehmerinnen und -nehmer ist in diesem Zeitraum geschätzt um 590 000 gestiegen.4 Damit hat sie von allen Formen atypischer Beschäftigung bislang den geringsten Beitrag geleistet. Sie hat sich im Vergleich allerdings am dynamischsten entwickelt: ihre Zahl hat sich binnen 15 Jahren fast vervierfacht.

3,92 Mio. Erwerbstätige waren 2010 selbstständig, davon waren 2,17 Mio. solo-selbstständig, führen also ein Unternehmen ohne weitere Beschäftigte. 1996 hatte die Zahl der Selbstständigen noch niedriger bei 3,21 Mio. gelegen. Dabei ist die Zahl der Solo-Selbstständigen um 650 000 gestiegen, die der Selbstständigen mit Beschäftigten um 60 000.

Atypische Beschäftigung: ein flexibles Instrument?

Der deutsche Arbeitsmarkt hatte sich auch über die letzte Wirtschaftskrise hinweg positiv entwickelt. Doch wie sieht diese Tendenz für die einzelnen Erwerbsformen aus? Im Krisenjahr 2009 sank die Zahl der Erwerbstätigen in atypischer Beschäftigung im Vergleich zum Vorjahr um 130 000 Personen (vgl. Abbildung 2). Dies wurde mit einer Zunahme um 240 000 von 2009 auf 2010 allerdings mehr als ausgeglichen. Dabei hatte die konjunkturelle Entwicklung in diesem Zeitraum für die einzelnen Formen atypischer Beschäftigung unterschiedliche Konsequenzen. So wurden Zeitarbeit und befristete Beschäftigung von den Unternehmen als Mittel genutzt, um flexibel auf die konjunkturellen Veränderungen zu reagieren. Die Zahl der Zeitarbeitnehmerinnen und -nehmer fiel von 2008 auf 2009 um 50 000 und legte von 2009 auf 2010 um 180 000 zu, so dass im Saldo ein deutliches Plus bei der Zeitarbeit zu verzeichnen ist. Die Zahl der befristet Beschäftigten ging im Vergleich von 2008 und 2009 noch deutlicher um 90 000 zurück, um im darauf folgenden Jahr um 120 000 zu steigen, so dass auch dieser Rückgang ausgeglichen wurde. Bei Teilzeit- und geringfügiger Beschäftigung hat sich trotz des konjunkturellen Einbruchs 2009 weniger verändert. Der Rückgang der atypischen Beschäftigung während der Krise ist in Relation zur Gesamtzahl der Erwerbstätigen allerdings klein und macht weniger als ½% aus. Inwieweit atypische Beschäftigung bei einer stärkeren konjunkturellen Auswirkung auf den Arbeitsmarkt eine puffernde Wirkung haben kann, ist somit offen.

Abbildung 2
Veränderung der Beschäftigung zwischen 2008 und 2010
Ergebnisse des Mikrozensus, in 1000 Personen
Wingerter Abb-2 Balken.ai

Quelle: Statistisches Bundesamt: Mikrozensus.

Normalbeschäftigung nimmt während der Krise leicht zu

Die Zahl der Erwerbstätigen in Normalbeschäftigung hat trotz der Wirtschaftskrise sowohl 2009 als auch 2010 zugenommen und ist insgesamt von 2008 auf 2010 um 140 000 Personen gestiegen. Damit liegt die Zunahme über derjenigen der atypischen Beschäftigung, was mit Blick auf die Entwicklung der letzten 15 Jahre eine Veränderung im Trend ist. Ob dies ein Zeichen dafür sein könnte, dass Unternehmen angesichts eines drohenden Fachkräftemangels zunehmend versuchen, Arbeitskräfte auch dauerhaft zu binden, müsste jedoch weitergehend untersucht werden. Ein weiteres Indiz dafür könnte sein, dass die Zahl der geringfügig Beschäftigten bei den Kernerwerbstätigen in den letzten Jahren stagnierend oder rückläufig war. Von einem Ende der Normalarbeit zu reden, wäre vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen verfrüht.

Und noch eine andere Tendenz mit Blick auf die Normalarbeit ist auffällig: Die Zahl der Frauen in Normalbeschäftigung stieg allein zwischen 2009 und 2010 um 120 000, wohingegen die Zahl der Männer in Normalbeschäftigung im selben Zeitraum um 40 000 zurückging. Während es Frauen 2010 häufiger gelang, in ein Normalbeschäftigungsverhältnis zu finden, ist bei den Männern in jenem Jahr nur ein Beschäftigungszuwachs im Bereich der atypischen Beschäftigung zu verzeichnen. Dennoch waren auch 2010 Frauen noch deutlich häufiger atypisch beschäftigt als Männer. Der Anteil der atypisch Beschäftigten betrug 37,2% im Vergleich zu 14,4% bei den Männern. Ursächlich ist der höhere Frauenanteil in Teilzeit- und geringfügiger Beschäftigung.

Deutschland mit einem pluralisierten Arbeitsmarkt

Die Entwicklung der Erwerbsformen in den zurückliegenden 15 Jahren zeigt, dass das Normalarbeitsverhältnis als wichtigste Beschäftigungsform noch lange nicht ausgedient hat. Die leichte Zunahme der Zahl Normalbeschäftigter über die letzte Wirtschaftskrise hinweg könnte sogar darauf hinweisen, dass die Arbeitgeber mit Blick auf einen möglichen Fachkräftemangel versuchen, Arbeitskräfte längerfristig an sich zu binden. Gleichzeitig ist eine differenzierte Betrachtung der Beschäftigungsentwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt wichtig, denn die Arbeitsverhältnisse gestalten sich vielfältiger und atypische Beschäftigung ist ein fester Bestandteil geworden. Einzelne Erwerbsformen können sich anders als der Gesamttrend der Erwerbstätigkeit entwickeln. Letztlich macht es für Erwerbstätige mit Blick auf die Beschäftigungsstabilität und das Erwerbseinkommen einen Unterschied, in welcher Erwerbsform sie sich befinden.

Neuere Entwicklungen am Arbeitsmarkt, die noch keinen Eingang in die amtliche Arbeitsmarktberichterstattung gefunden haben, betreffen z.B. den Bereich der Selbstständigkeit. Insbesondere im Übergangsbereich zur abhängigen Beschäftigung ist eine differenziertere Betrachtung zu überlegen. Dies betrifft beispielsweise Selbstständige, die Dienstleistungen nur für einen einzigen Auftraggeber erbringen und oft als Schein-Selbstständige bezeichnet werden oder Selbstständige, deren Betrieb Teil eines Franchise-Systems ist. Entsprechende Überlegungen stehen allerdings noch am Anfang und sollten in EU-weit harmonisierter Form entwickelt werden.

  • 1 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Niedrigeinkommen und Erwerbstätigkeit, Begleitmaterial zum Pressegespräch am 19.8.2009, Wiesbaden 2009.
  • 2 Vgl. u.a. C. Wingerter: Der Wandel der Erwerbsformen und seine Bedeutung für die Einkommenssituation Erwerbstätiger, in: Wirtschaft und Statistik, Nr. 11, 2009, S. 1080-1098; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.): Jahresgutachten 2008/09, Kapitel „Normalarbeitsverhältnisse und atypische Beschäftigung in Deutschland“, Wiesbaden 2008, S. 420 ff.; H. Schäfer, S. Seyda: Individualisierung: Erosion des Normalarbeitsverhältnisses?, in: Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hrsg.): Die Zukunft der Arbeit in Deutschland – Megatrends, Reformbedarf und Handlungsoptionen, Köln 2008, S. 145 ff.; B. Keller, H. Seifert (Hrsg.): Atypische Beschäftigung – Flexibilisierung und soziale Risiken, Berlin 2007, S. 11 ff.
  • 3 Das Bild der Normalarbeit prägt für viele nach wie vor die Vorstellung eines regulären Beschäftigungsverhältnisses und die sozialen Sicherungssysteme sind immer noch maßgeblich darauf ausgerichtet.
  • 4 Zeitarbeit wurde 1996 im Mikrozensus noch nicht erfragt. Die Entwicklung wurde auf Basis von Daten aus der Arbeitnehmerüberlassungsstatistik geschätzt.


DOI: 10.1007/s10273-012-1363-6