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In Deutschland wird ein international überdurchschnittlicher Anteil des Bruttoinlandsprodukts für Gesundheitsleistungen aufgewendet. Gleichzeitig ist die Lebenserwartung der Deutschen im Vergleich der entwickelten Länder allenfalls durchschnittlich. Aus dieser Diskrepanz wird oft der Schluss gezogen, das deutsche Gesundheitssystem sei ineffizient. Bei näherer Analyse der zugrundeliegenden Daten erscheint diese Schlussfolgerung jedoch fragwürdig.

Nach Daten der OECD beliefen sich die Gesundheitsausgaben in Deutschland im Jahr 2007 auf 10,5% des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Im Schnitt von 24 hoch entwickelten OECD-Ländern betrug die entsprechende Quote 9,4%; Deutschland lag also um mehr als 1 Prozentpunkt über dem Durchschnitt.1 Gleichzeitig bewegte sich die Lebenserwartung bei Geburt in Deutschland mit 80,0 Jahren etwas unter dem Durchschnitt dieser 24 Staaten (80,3 Jahre).2 Ein ähnliches Bild – überdurchschnittlicher Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP bei leicht unterdurchschnittlicher Lebenserwartung – ergibt sich auch für andere Jahre.

Einem überdurchschnittlichen Ressourceneinsatz steht also ein bestenfalls durchschnittlicher „Output“ (Lebenserwartung) gegenüber. Bedeutet dies nun, dass das deutsche Gesundheitssystem ineffizient ist? Genau diese Schlussfolgerung wird in mehreren gesundheitsökonomischen Aufsätzen gezogen.34Teilweise wird dabei nicht mit der gesamten Lebenserwartung argumentiert, sondern nur mit den erwarteten Lebensjahren bei voller Gesundheit (disability-adjusted/health-adjusted life expectancy at birth, abgekürzt DALE bzw. HALE). Auch die so bereinigte Lebenserwartung lag in Deutschland Ende der 1990er Jahre unter dem Durchschnitt der betrachteten Länder. Nach Daten aus dem Jahr 2002 hat sich dies allerdings geändert: So liegt die HALE in Deutschland bei 71,8 Jahren, im Durchschnitt der 24 hier betrachteten Länder bei 71,4 Jahren.4

Von den Autoren, die den Anteil der Gesundheitsausgaben und die Lebenserwartung gegenüberstellen, wird zwar eingeräumt, dass dieses Vorgehen sehr vereinfachend sei; gleichzeitig wird aber die grundsätzliche Aussagekraft dieser Gegenüberstellung bekräftigt. Bei näherer Analyse zeigt sich jedoch, dass ein derartiges Vorgehen mit diversen Problemen behaftet ist, so dass durchaus Zweifel an den daraus gewonnenen Erkenntnissen angebracht sind. Die Probleme, die nachfolgend erörtert werden, sind auf drei verschiedenen Ebenen angesiedelt:

  • bei der Interpretation der Lebenserwartung als Output des Gesundheitssystems,
  • bei der Bezugnahme auf das BIP zur Messung des Ressourceneinsatzes,
  • bei der Vergleichbarkeit der Gesundheitsausgaben zwischen verschiedenen Ländern – hier sind mehrere gravierende Einschränkungen zu beachten.

Lebenserwartung = Output eines Gesundheitssystems?

Bei internationalen Effizienzvergleichen von Gesundheitssystemen wird zur Messung des Outputs häufig die Lebenserwartung bei Geburt herangezogen. Diese wird durch die Anzahl der Jahre, die ein Neugeborenes eines bestimmten Jahrgangs durchschnittlich leben würde, wenn die bei der Geburt vorherrschenden Lebensumstände und altersabhängigen Sterblichkeitsraten während des gesamten Lebens konstant blieben, bestimmt. Damit dieses Maß auch aussagekräftig ist und als vom Wirken des Gesundheitssystems abhängige Variable berücksichtigt werden kann, müsste eine der beiden folgenden Bedingungen erfüllt sein: Entweder hängt die Lebenserwartung ausschließlich vom Wirken des Gesundheitssystems ab oder aber es ist davon auszugehen, dass sich in den zu vergleichenden Gesellschaften alle Drittvariablen, die auch einen Einfluss auf die Lebenserwartung haben könnten, in gleicher Weise auf die länderspezifische Lebenserwartung auswirken. Nur unter den beiden genannten Bedingungen können Unterschiede der Lebenserwartung in den Vergleichsländern als Ergebnis des Gesundheitssystems interpretiert werden.

Dass die Lebenserwartung auch von anderen Faktoren als alleine vom Gesundheitssystem abhängt, merkt die Weltgesundheitsorganisation in ihrem jüngsten Bericht an: „Als allgemeiner Indikator spiegelt die Lebenserwartung die Erfolge einer Gesellschaft bei der Verbesserung der Gesundheit wider, während andere Indikatoren nur die Erfolge der Gesundheitssysteme messen. Diese Differenzierung ist entscheidend, da sie mit der wichtigsten Grundidee des öffentlichen Gesundheitswesens verknüpft ist: Gesundheits- und Krankheitszustand der Menschen sind Ausdruck für Erfolg und Versagen einer Gesellschaft insgesamt.“5

Viele Studien belegen die Wirkung gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen oder auch biologischer Dispositionen. Sie verweisen alle auf die gravierende Bedeutung individueller Faktoren und Kontextfaktoren in den jeweiligen Ländern.6 So zeigen Regionalstudien zur Sterblichkeit und Lebenserwartung, wie entscheidend neben dem Gesundheitssystem auch regionale Rahmenbedingungen für die Lebenserwartung sein können.7 Eine Studie des Robert Koch Instituts wies für Frauen und Männer nach, dass in Deutschland die vorzeitige Sterblichkeit im Norden Deutschlands höher ist als im Süden.8 Und medizinische Studien können nachweisen, dass die Lebenserwartung nicht nur von der genetischen Disposition abhängig ist, sondern auch von Ernährungsgewohnheiten: Eine europaweite Studie belegt, dass übergewichtige Personen ein höheres Risiko haben, früher zu sterben, als Personen mit einem mittleren Body-Mass-Index (BMI).9 Umgekehrt zeigt die berühmte „Klosterstudie“, bei der die Sterblichkeitsraten von Nonnen und Mönchen verglichen wurden, dass sich erst bei nahezu äquivalenten Alltagsstrukturen die Lebenserwartung der beiden Geschlechter angleicht. Erst unter den ähnlichen Voraussetzungen verringert sich die Differenz in der Lebenserwartung zwischen Männern und Frauen auf ca. ein Jahr.10

Für Deutschland lässt sich die Problematik der Lebenserwartung als Maß für den Output eines Gesundheitssystems an einem weiteren Beispiel aufzeigen. Nach wie vor gibt es, trotz nunmehr über 20-jähriger gemeinsamer Geschichte, einen Unterschied in der Lebenserwartung zwischen West- und Ostdeutschen, vor allem bei Männern (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1
Lebenserwartung bei Geburt im Zeitvergleich
  Frauen Männer
  1990 2007 1990 2007
Deutschland 78,45 82,49 71,95 77,14
Neue Bundesländer 76,22 82,32 69,15 76,23
Alte Bundesländer 79,05 82,54 72,67 77,38

Quelle: M. Luy: Lebenserwartung in Deutschland, Wien 2008, http//www.lebenserwartung.info/index-Dateien/ledeu.htm (21.12.2011).

Wird die Lebenserwartung als Output herangezogen, so müsste für Deutschland eine Ausweisung getrennt nach alten und neuen Bundesländern erfolgen. Mit dieser differenzierten Darstellung könnte nachgewiesen werden, dass neben den sich angleichenden Lebensstilen11 der Umbau des Gesundheitssystems in den neuen Bundesländern sehr wohl seine Wirkung entfaltete.12 Dies lässt sich unter anderem an dem überdurchschnittlichen Anstieg der Lebenserwartung in den neuen Bundesländern im Vergleich zu den alten Bundesländern zeigen. So betrug der Zuwachs von 1990 bis 2007 bei den Frauen 6,1 Jahre in den neuen Bundesländern und lediglich 3,49 in den alten und bei den Männern sogar 7,08 Jahre in den neuen im Vergleich zu 4,71 in den alten Ländern.

Bei der Ausweisung eines gesamtdeutschen Wertes für die Lebenserwartung ergibt sich auch ein methodisches Problem in der Zeitreihenbetrachtung: Die Zahlen beziehen sich, wie angesprochen, auf verschiedene Grundgesamtheiten, wenn vor der Wiedervereinigung nur die alten und danach die alten und neuen Bundesländer gemeinsam betrachtet werden. Durch den wesentlich niedrigeren Ausgangswert im Osten kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Verbesserungen der Lebenserwartung, wenn sie denn für Männer und Frauen und Ost und West gemeinsam ausgewiesen werden, unterzeichnet werden. Damit fallen dann auch die Erfolge der getätigten Investitionen in einer Teilgruppe (hier Ostdeutschland) weit geringer aus.

Ist das BIP eine geeignete Bezugsgröße?

Der Wert einer Quote hängt nicht nur von der Größe des Zählers – im vorliegenden Fall der Höhe der Gesundheitsausgaben –, sondern auch vom Wert des Nenners ab, hier von der Höhe des BIP. Sinkt beispielsweise bei konstantem Ausgabenvolumen im Gesundheitswesen das BIP, so steigt die Quote der Gesundheitsausgaben an.13 Es ist jedoch falsch, hieraus auf eine verminderte Effizienz des Gesundheitssystems zu schließen.

Für Deutschland ist zu beachten, dass die neuen Bundesländer eine weit geringere Wirtschaftskraft als die alten Bundesländer aufweisen, das BIP pro Kopf also deutlich geringer ist. Diese Lücke war Anfang der 1990er Jahre besonders groß; die Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat folglich den Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP sprunghaft ansteigen lassen: Im Jahr 1990 (dem letzten Jahr, für das die OECD Daten für die alten Bundesländer ausweist) lag dieser Anteil bei 8,3%; 1992 (dem ersten Jahr mit Daten für Gesamtdeutschland) war die Quote auf 9,6% angestiegen.14

Die Lücke in der Wirtschaftskraft zwischen alten und neuen Bundesländern schließt sich nur langsam. So erreichte 2007 das BIP pro Kopf in Ostdeutschland nur 70,7% des westdeutschen Wertes.15 Leider lassen sich die Gesundheitsausgaben nicht nach Ost- und Westdeutschland aufschlüsseln, so dass keine genaue Aussage darüber möglich ist, welcher Anteil des BIP in Ost und West jeweils für Gesundheitsleistungen aufgewendet wird. Unterstellt man identische Gesundheitsausgaben pro Kopf in Ost und West, so läge der Anteil der westdeutschen Gesundheitsausgaben am BIP der alten Bundesländer bei 9,9%. Der entsprechende Wert in Ostdeutschland würde sich hingegen auf 14% belaufen.

Nach den bisherigen Ausführungen spricht einiges dafür, die absolute Höhe der Gesundheitsausgaben und nicht deren Anteil am BIP für einen Ländervergleich heranzuziehen. Das Bild vom teuren deutschen Gesundheitssystem relativiert sich dann etwas: Während Deutschland beim Anteil der Gesundheitsausgaben an vierter Stelle der betrachteten Nationen liegt, nimmt es bei den absoluten Gesundheitsausgaben pro Kopf nur den neunten Platz ein (vgl. Tabelle 2). Pro Kopf wurden 2007 in Deutschland 3724 US-$ für Gesundheitsleistungen aufgewendet. Im Durchschnitt der 24 betrachteten Staaten waren es 3525 US-$; die Pro-Kopf-Ausgaben in Deutschland lagen damit um ca. 5,6% über dem Durchschnittswert.16

Tabelle 2
Gesundheitsausgaben als Anteil am BIP und pro Kopf (2007)
Land Gesundheits­ausgaben als Anteil am BIP in % Gesundheits­ausgaben pro Kopf in US-$ zu Kaufkraft­paritäten
USA 16,0 7437
Frankreich 11,0 3679
Schweiz 10,6 4469
Deutschland 10,5 3724
Österreich 10,3 3792
Dänemark 10,0 3770
Kanada 10,0 3844
Portugal 10,0 2419
Belgien 9,7 3437
Niederlande 9,7 3944
Griechenland 9,6 2724
Island 9,1 3320
Norwegen 8,9 4885
Schweden 8,9 3432
Neuseeland 8,8 2525
Italien 8,7 2771
Australien 8,5 3353
Spanien 8,5 2735
Großbritannien 8,4 3051
Japan 8,2 2750
Finnland 8,1 2910
Irland 7,7 3494
Luxemburg 7,1 4494
Korea (Süd) 6,3 1651
Durchschnitt 9,4 3525

Quelle: OECD 2011, Daten abrufbar unter http://www.oecd-ilibrary.org/social-issues-migration-health/health-key-tables-from-oecd_20758480 (21.12.2011).

Unterschiedliche Abgrenzung der Gesundheitsausgaben

Die OECD hat im Jahr 2000 mit dem „System of Health Accounts“ (SHA) ein einheitliches Kontensystem zur Erfassung und Klassifikation von Gesundheitsausgaben vorgestellt. Ein wesentliches Ziel des SHA ist es, die internationale Vergleichbarkeit der ermittelten Gesundheitsausgaben zu gewährleisten. Nach der Definition des SHA gehören hierzu die Ausgaben von Inländern für den Endverbrauch von Gesundheitsgütern und -dienstleistungen zuzüglich der Bruttokapitalbildung (Investitionen) im Gesundheitswesen.17 Zum Endverbrauch von Gesundheitsgütern und -dienstleistungen gehören Ausgaben für Behandlung und Rehabilitation, für Langzeitpflege sowie für Sachleistungen, die an ambulante Patienten abgegeben werden. Außerdem fallen hierunter Ausgaben für Prävention und den öffentlichen Gesundheitsdienst sowie Verwaltungskosten und Kosten der Krankenversicherung.

Hätten alle Mitgliedsländer der OECD das System of Health Accounts vollständig implementiert, so wären die Gesundheitsausgaben international vergleichbar. Allerdings ist die Umsetzung der OECD-Vorgaben unterschiedlich weit fortgeschritten, so dass – trotz vieler Verbesserungen in den letzten Jahren – immer noch nicht eine vollständige Vergleichbarkeit der Gesundheitsausgaben gegeben ist.

So hatten Griechenland, Irland, Island, Italien und Großbritannien das SHA bis 2008 überhaupt noch nicht implementiert. Während Irland Gesundheitskonten nach einer eigenen Systematik führt, ermitteln die anderen genannten Länder die Gesundheitsausgaben aus den Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung – ein Vorgehen, das laut OECD zu einer Unterschätzung der Gesundheitsausgaben führen dürfte. Die restlichen Länder liefern grundsätzlich Daten gemäß den Vorgaben des SHA oder erstellen selbst nationale Gesundheitskonten nach der SHA-Systematik. Allerdings werden nicht in allen Ländern die Gesundheitsausgaben vollständig erfasst.18

Hohe Gesundheitsausgaben = großer Leistungsumfang?

Hohe Gesundheitsausgaben werden häufig dahingehend interpretiert, dass im betreffenden Land sehr viele (medizinische, therapeutische, pflegerische usw.) Leistungen erbracht werden. Vor dem Hintergrund einer (unter-)durchschnittlichen Lebenserwartung wird dann die Vermutung geäußert, dass diese Leistungen teilweise unnötig oder unwirtschaftlich seien, weil sie keinen oder einen nur sehr geringen Nutzen haben.

Diese Interpretation erscheint insofern problematisch, als Ausgabenvolumina stets das Produkt aus Preisen und Mengen sind. Ein hohes Ausgabenvolumen bedeutet demnach nicht zwangsläufig, dass unnötige Leistungen erfolgen – es kann auch dadurch zustande kommen, dass eine durchschnittliche Leistungsmenge erbracht wird, die Preise für die Leistungen jedoch sehr hoch sind. So konnten beispielsweise Anderson u.a. zeigen, dass ein wesentlicher Grund für die sehr hohen Gesundheitsausgaben in den USA in den hohen Preisen für Güter und Dienstleistungen im Gesundheitswesen liegt.19

Im Falle Deutschlands wird immer wieder auf die vergleichsweise hohen Arzneimittelpreise hingewiesen. Hierfür sind vor allem zwei Gründe verantwortlich: Erstens wird in Deutschland auf Arzneimittel der volle Mehrwertsteuersatz von zurzeit 19% erhoben, während in den meisten europäischen Ländern auf alle oder zumindest die verschreibungspflichtigen Arzneimittel keine Mehrwertsteuer erhoben wird oder nur der ermäßigte Mehrwertsteuersatz Anwendung findet. Zweitens konnten Pharmafirmen in Deutschland bislang die Preise für neue Arzneimittel frei festlegen, während es in fast allen anderen europäischen Ländern Preisverhandlungen zwischen der Industrie und den Kostenträgern gibt.20

Dass die Mehrkosten für das deutsche Gesundheitssystem aufgrund der hohen Arzneimittelpreise durchaus beträchtlich sind, wird im Arzneiverordnungs-Report 2010 gezeigt. Dort werden für patentgeschützte Arzneimittel und Generika die Apothekenverkaufspreise in Deutschland mit denjenigen in Schweden – einem Land, das keine Mehrwertsteuer auf verschreibungspflichtige Arzneimittel erhebt – verglichen. Basierend auf den deutschen Verordnungsvolumina des Jahres 2009 wäre es allein in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu Minderausgaben von ca. 10 Mrd. Euro gekommen, wenn die Arzneimittelpreise in Deutschland genauso hoch wie in Schweden gewesen wären.21 Dies entspräche einem Anteil von ungefähr 0,4% des BIP.

Unterschiedlicher Altersaufbau

Ein internationaler Vergleich des Ressourceneinsatzes im Gesundheitswesen würde idealerweise die unterschiedliche Morbidität ex ante, das heißt vor Erbringung der Gesundheitsleistungen berücksichtigen. Diese hypothetische Morbidität lässt sich jedoch nicht bestimmen. Allerdings steigt die individuelle Morbidität in der Regel mit dem Lebensalter an. Das hat zur Folge, dass sich die durchschnittlichen Gesundheitsausgaben ebenfalls mit zunehmendem Alter erhöhen. Dementsprechend weisen Gesellschaften mit einem hohen Durchschnittsalter („alte Gesellschaften“) eine größere durchschnittliche Morbidität auf als junge Gesellschaften. Ein Blick auf die OECD-Daten zum Altersaufbau der Bevölkerung zeigt, dass die Gesellschaft in Deutschland vergleichsweise alt ist – mit Ausnahme von Italien und Japan haben alle OECD-Staaten eine jüngere Bevölkerung als Deutschland.

Berücksichtigt man diese Tatsache, so relativiert sich das Bild vom teuren deutschen Gesundheitssystem. Detaillierte Berechnungen hierzu haben Niehaus und Finkenstädt durchgeführt.22 Dabei wurde für 19 Länder bestimmt, wie hoch die Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben jeweils wären, falls die altersabhängigen Pro-Kopf-Ausgaben genau den deutschen Werten entsprechen würden.23 Der so ermittelte hypothetische Wert gibt an, welche durchschnittlichen Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben in einem Land anfallen würden, wenn dort das deutsche Gesundheitssystem mit den deutschen Ausgabenprofilen implementiert wäre. Dieser hypothetische Wert dient dazu, Kostenunterschiede aufgrund einer abweichenden Altersstruktur von Kostenunterschieden, die andere Ursachen haben, zu trennen: Unterschiede zwischen den hypothetischen Pro-Kopf-Ausgaben eines Landes und den tatsächlichen Pro-Kopf-Ausgaben in diesem Land sind auf andere Ursachen zurückzuführen. Setzt man die tatsächlichen Pro-Kopf-Ausgaben in Relation zu dem berechneten hypothetischen Wert, so erhält man eine Aussage darüber, um wie viel Prozent das ausländische Gesundheitssystem bei gleicher Altersstruktur teurer oder preisgünstiger als das deutsche wäre.

Folgendes Beispiel veranschaulicht diese Vorgehensweise: Im Jahr 2007 betrugen die Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben in Deutschland 2025 Euro.24 Hätten in jenem Jahr die Einwohner der USA zu den deutschen altersabhängigen Kosten versorgt werden können, hätten sich in den USA Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben von ca. 1770 Euro ergeben. Der geringere amerikanische Wert ist ausschließlich auf die günstigere Altersstruktur in den USA zurückzuführen. Tatsächlich betrugen jedoch die amerikanischen Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben 4114 Euro. Die Differenz beträgt 2344 Euro (ca. 132% von 1770 Euro) und ist allein auf Besonderheiten des amerikanischen Gesundheitssystems (z.B. umfangreichere Leistungen, höhere Preise, Ineffizienzen) zurückzuführen. Damit übertreffen die Ausgaben im amerikanischen Gesundheitssystem die deutschen Ausgaben bei vergleichbarer Altersstruktur um 132%. Setzt man hingegen die tatsächlichen Pro-Kopf-Ausgaben in den USA (4114 Euro) und in Deutschland (2025 Euro) in Relation, so liegt der amerikanische Wert „nur“ um ca. 103% über dem deutschen. Wie dieses Beispiel zeigt, führt eine Nichtberücksichtigung der unterschiedlichen Altersstrukturen dazu, dass der Kostenvorteil des deutschen Gesundheitssystems gegenüber dem amerikanischen unterzeichnet wird.

Ein vermeintlicher Kostenvorteil kann sich bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Altersstrukturen sogar als Kostennachteil entpuppen, wie das Beispiel Irlands zeigt: Bei einem Vergleich der tatsächlichen Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben liegt Irland um ca. 4,57% unter dem deutschen Niveau, vergleicht man hingegen die tatsächlichen Ausgaben in Irland mit den hypothetischen Ausgaben bei Gültigkeit der deutschen Ausgabenprofile, so liegt das irische Ausgabenniveau um 14,33% über dem deutschen.

In dem Aufsatz von Niehaus und Finkenstädt wurde für 19 Länder ein Vergleich von tatsächlichen und hypothetischen Pro-Kopf-Ausgaben vorgenommen und so jeweils die Abweichung vom deutschen Ausgabenniveau bestimmt. Ermittelt man für alle Länder die Abweichung des tatsächlichen vom hypothetischen Ausgabenniveau und bildet den Mittelwert dieser Abweichungen, so zeigt sich, dass die Gesundheitssysteme der betrachteten 19 Länder um durchschnittlich 5,64% teurer sind als das deutsche.25 Das vermeintlich teure deutsche Gesundheitssystem schneidet im internationalen Vergleich also sogar relativ gut ab, wenn die unterschiedlichen Altersstrukturen berücksichtigt werden.

Fazit

Um die Effizienz eines Gesundheitssystems zu beurteilen, erscheint die Gegenüberstellung des Anteils der Gesundheitsausgaben am BIP und der Lebenserwartung problematisch. Zunächst einmal lässt sich die Lebenserwartung nicht monokausal als Output des Gesundheitswesens interpretieren, vielmehr wird sie von einer Fülle anderer Faktoren beeinflusst. Diese aber sind von Land zu Land unterschiedlich. Darüber hinaus beeinflusst bei gegebenen Gesundheitsausgaben der Wert des BIP die Höhe des ermittelten Ausgabenanteils. Kurzfristige konjunkturelle Schwankungen können damit fälschlicherweise Effizienzveränderungen suggerieren. Aber auch eine längerfristige BIP-Schwäche kann zu problematischen Schlussfolgerungen verleiten, wie das Beispiel Ostdeutschlands zeigt: Der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP wäre dort höher als in den alten Bundesländern, auch wenn die Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben in beiden Landesteilen identisch wären; der gesamtdeutsche Wert für den Gesundheitsausgabenanteil wird dadurch nach oben getrieben. Im Falle Ostdeutschlands ist zudem zu berücksichtigen, dass die dortige Lebenserwartung immer noch niedriger als in Westdeutschland ist, was jedoch auch auf Einflüsse außerhalb des Gesundheitswesens zurückzuführen sein dürfte. Damit zeigt gerade das Beispiel der neuen Bundesländer, dass es kaum möglich ist, die Effizienz eines Gesundheitssystems zu messen, indem der Anteil der Gesundheitsausgaben zur Lebenserwartung in Bezug gesetzt wird.

Einige der angesprochenen Probleme lassen sich umgehen, wenn die absoluten Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben miteinander verglichen werden. Aber auch hier sind gravierende Einschränkungen zu beachten; zu nennen ist insbesondere das Problem eines international unterschiedlichen Altersaufbaus. Berücksichtigt man diese Einschränkungen, scheint sich das Bild vom teuren deutschen Gesundheitswesen zu relativieren. Allerdings sollte dieses Ergebnis vorsichtig interpretiert werden: Das deutsche Gesundheitswesen ist nicht durchgehend mit schlechteren Ausgangsbedingungen – wie z.B. einer älteren Bevölkerung – konfrontiert, sondern findet in Teilbereichen auch bessere Voraussetzungen vor: So ist beispielsweise die HIV-Prävalenz in Deutschland geringer als in anderen Ländern; dies hat einen kostendämpfenden Einfluss. Der vorliegende Beitrag sollte daher keinesfalls so interpretiert werden, dass es in Deutschland keinen Reformbedarf gebe, um die Effizienz des Gesundheitssystems zu erhöhen.

Allerdings dürfte deutlich geworden sein, dass der häufig vorgebrachte Beleg für die Ineffizienz des deutschen Gesundheitssystems zweifelhaft ist: Eine einzige Zahl – sei es der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP oder die absolute Höhe der Pro-Kopf-Ausgaben – ist nicht adäquat, um die Effizienz eines Gesundheitssystems zu beurteilen oder gar konkrete Effizienzreserven aufzuzeigen. Vielmehr sollten Teilbereiche des Versorgungsgeschehens (z.B. Arzneimittelversorgung, indikationsspezifische Versorgungsroutinen) differenziert analysiert werden. Dabei können internationale Vergleiche durchaus hilfreich sein, um Hinweise darauf zu erhalten, in welchen Versorgungsbereichen Verbesserungspotenziale bestehen. So zeigt beispielsweise eine Untersuchung der Europäischen Kommission, dass die Zahl der radiologischen Untersuchungen in Deutschland wesentlich höher ist als in den meisten anderen europäischen Ländern.26 Ein anderes Beispiel lässt sich im Bereich kardiologischer Untersuchungen finden: Zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es erhebliche Unterschiede in der Anzahl an Linksherzkatheter-Untersuchungen – in Deutschland werden auf die Einwohnerzahl bezogen fast doppelt so viele Untersuchungen durchgeführt wie in der Schweiz.27 Es wäre aufschlussreich, der Frage nachzugehen, ob und in welchem Maße diese Unterschiede medizinisch gerechtfertigt sind oder ob sie auf Ineffizienzen schließen lassen.

  • 1 Im Jahr 2007 gehörten 30 Staaten der OECD an. Für die vorliegenden Berechnungen wurden die vier osteuropäischen Mitgliedsländer (Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei) sowie die beiden Schwellenländer Mexiko und Türkei nicht berücksichtigt.
  • 2 Daten abrufbar unter http://www.oecd-ilibrary.org/social-issues-migration-health/health-key-tables-from-oecd_20758480 (21.12.2011).
  • 3 Vgl. beispielsweise R. Osterkamp: Das deutsche Gesundheitssystem im internationalen Vergleich: Bewertung und Reformalternativen, in: ifo-Schnelldienst, 54. Jg. (2001), H. 10, S. 9-16; A. Haufler: Welche Vorteile bringt eine Pauschalprämie für die Finanzierung des Gesundheitswesens?, in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 124 (2004), H. 4, S. 539-556; W. Richter: Finanzierung des Krankenversicherungsschutzes: Entgleiste Reformdebatte wieder auf Spur, in: G + G Wissenschaft, 10. Jg. (2010), H. 4, S. 7-16.
  • 4 Eigene Berechnungen auf Grundlage von World Health Organization: World Health Report 2004: Changing History, Genf 2004, S. 132-135. Es konnten keine Veröffentlichungen gefunden werden, in denen die HALE für Jahre nach 2002 bis auf eine Nachkommastelle genau ausgewiesen wird.
  • 5 Weltgesundheitsorganisation: Der Europäische Gesundheitsbericht 2009, Gesundheit und Gesundheitssysteme, Kopenhagen 2010, S. 8.
  • 6 Vgl. etwa Robert Koch Institut (Hrsg.): Gesundheit in Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Berlin 2006.
  • 7 Vgl. dazu etwa den Sammelband J. Cromm, R. D. Scholz (Hrsg.): Regionale Sterblichkeit in Deutschland, Göttingen 2002.
  • 8 Robert Koch Institut (Hrsg.): Sterblichkeit, Todesursachen und regionale Unterschiede, Berlin 2011, S. 20.
  • 9 T. Pischon et al.: General and Abdominal Adiposity and Risk of Death in Europe, in: New England Journal of Medicine, Vol. 359 (2008), Nr. 20, S. 2105-2120.
  • 10 M. Luy: Warum Frauen länger leben: Erkenntnisse aus einem Vergleich von Kloster- und Allgemeinbevölkerung. Materialien zur Bevölkerungswissenschaft, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung beim Statistischen Bundesamt, Wiesbaden 2002.
  • 11 M. Luy: Verschiedene Aspekte der Sterblichkeitsentwicklung in Deutschland von 1950 bis 2000, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 29. Jg. (2004), H. 1, S. 3-62.
  • 12 P. Gans: Klare regionale Unterschiede in der Lebenserwartung, Leipzig 2008, http://aktuell.nationalatlas.de/Lebenserwartung.11_10-2008.0.html (21.12.2011).
  • 13 So ist es beispielsweise in diversen Ländern zwischen 2007 und 2009 zu einem deutlichen Anstieg der Quote gekommen; vgl. OECD: Health Data 2011, Paris 2011. Grund hierfür dürfte in erster Linie der BIP-Rückgang im Rahmen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise sein.
  • 14 Vgl. auch S. Erbe: Kostenexplosion im Gesundheitswesen?, in: Wirtschaftsdienst, 80. Jg. (2000), H. 5, S. 308-311.
  • 15 Die entsprechenden Werte lagen bei 22 207 Euro (neue Bundesländer einschließlich Berlin) und 31 429 Euro (alte Bundesländer), der gesamtdeutsche Durchschnitt betrug 29 569 Euro. Vgl. Statistische Ämter der Länder: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder, Reihe 1, Länderergebnisse Bd. 1, Stuttgart 2011.
  • 16 Die Umrechnung von den lokalen Währungen in US-Dollar erfolgt dabei zu Kaufkraftparitäten, um den Einfluss kurzfristiger Wechselkursschwankungen auszugleichen.
  • 17 Vgl. OECD: A System of Health Accounts, Paris 2000, S. 57.
  • 18 Vgl. „Note on general comparability of Health Expenditure and Finance Data“ sowie länderspezifische Informationen zu den Datengrundlagen, in: OECD: Health Data 2008, Paris 2008.
  • 19 Vgl. G. Anderson u.a.: It’s The Prices, Stupid: Why The United States Is So Different From Other Countries, in: Health Affairs, 22. Jg. (2003), H. 3, S. 89-105.
  • 20 Seit Ende 2010 gibt es eine gesetzliche Neuregelung in Deutschland: Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz sieht nun auch hierzulande Preisverhandlungen zwischen Herstellern und Krankenkassen nach Einführung neuer Arzneimittel vor.
  • 21 Vgl. U. Schwabe: Arzneiverordnungen 2009 im Überblick, in: U. Schwabe, D. Paffrath (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2010, Berlin u.a.O. 2010, S. 3-46.
  • 22 F. Niehaus, V. Finkenstädt: Deutschland – ein im internationalen Vergleich teures Gesundheitswesen?, WIP Diskussionspapier 12/09, Wissenschaftliches Institut der PKV, Köln 2009.
  • 23 Bei allen 19 Staaten handelt es sich um hoch entwickelte OECD-Mitglieder. Nicht in die Analyse einbezogen wurden Island, Korea, Luxemburg und Neuseeland.
  • 24 Dabei wurden nur solche Ausgabenarten berücksichtigt, für die altersabhängige Ausgabenprofile aus den Daten des Risikostrukturausgleichs bzw. der Kopfschadenstatistik der PKV zur Verfügung standen. Diese Ausgabenarten hatten im betrachteten Jahr 2007 nur einen Anteil von 77,3% an den gesamten Gesundheitsausgaben. Um den internationalen Vergleich durchführen zu können, wurden die Gesundheitsausgaben für alle Länder auf 77,3% des von der OECD ausgewiesenen Wertes vermindert und von US-Dollar in Euro umgerechnet.
  • 25 Eigene Berechnungen auf Basis der von Niehaus und Finkenstädt veröffentlichten Zahlen. Ein Vergleich der tatsächlichen ausländischen Pro-Kopf-Ausgaben mit den tatsächlichen deutschen Werten würde hingegen zu dem Ergebnis führen, dass die ausländischen Gesundheitssysteme im Schnitt um 1,42% kostengünstiger als das deutsche sind.
  • 26 Vgl. European Commission: Radiation Protection Nr. 154, European Guidance on Estimating Population Doses from Medical X-Ray Procedures, Annex 1 – DD Report 1, Brüssel 2008, S. 28.
  • 27 Vgl. E. Bruckenberger: Herzbericht 2010, Hannover 2011, S. 246.


DOI: 10.1007/s10273-012-1362-7

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