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In der „Eurokrise“ hat die Bundesrepublik über den befristeten Euro-Rettungsschirm und den permanenten Europäischen Stabilitätsmechanismus Finanzgarantien übernommen, die die jährliche Höhe des Bundeshaushalts überschreiten. Fiskalpakt und europäische Bankenaufsicht weisen auf eine „europäische Wirtschaftsregierung“ als Gegenstück zur Währungsunion hin. Das führt zwangsläufig zum Konflikt über einen EU-Zentralisierungsschub. Die Konflikte hören dort nicht auf: Aus den Anläufen zur Währungsunion, dem Werner Plan von 1970, kann man wissen: Ohne eine begrenzte Sozialunion kann eine so stark vergemeinschaftete „Wirtschaftsunion“ gar nicht bestehen. Wir stehen mitten in einem „großen Umbruch“, in dem wir mindestens ein Jahrzehnt gewagte Schritte nach vorn tun müssen – oder die Einigung insgesamt riskieren und als Teil einer Ansammlung protektionistischer europäischer Ministaaten zurückbleiben.

Nun hat das Bundesverfassungsgericht im Urteil zum Lissabonvertrag deutlich gemacht, dass nach Art. 79 III Grundgesetz (GG) in Deutschland eine Volksabstimmung unerlässlich ist, wenn die Ewigkeitsgarantie verletzt wäre: Eine so weitreichende Zuständigkeitsverlagerung führe dazu, dass die Republik verfassungs- und staatsmäßig umgegründet werde, was nach Art. 146 GG die Zustimmung des Volkes erfordere. Ist diese Sicht nicht arg übertrieben? Immerhin haben wir drei Jahrzehnte lang unter dem Grundgesetz quer durch die Parteien Europa als „Bundesstaat“ bezeichnet, gesehen und gestärkt und das war „Verfassungs-Geschäftsgrundlage“ – unsere großen Souveränitätsempfindlichkeiten haben wir erst nachträglich ab Mitte der 1980er Jahre ausgebildet!

Sehen wir davon ab, so ist im heute herrschenden Verständnis die nächste Runde der jahrzehntealten Debatte über Sinn oder Unsinn direkter Demokratie auf Bundesebene eingeläutet. Die Gründe auf beiden Seiten sind so häufig durchgekaut, dass sie kein Wiederholen lohnen. Die üblichen Fronten sind verkehrt: Sozialdemokraten, Grüne und etliche Liberale, die sonst für direktdemokratische Verfahren eintreten, sind genervt, weil sie befürchten, dass die Bundesbürger mit Mehrheit Nein sagen. Genau deshalb fordern etliche Konservative bis hin zur CSU, die sonst auf jede Form von Volksabstimmung allergisch reagieren, sie nachdrücklich ein und hoffen die Entwicklung der europäischen Einigung engzuführen oder sie gar samt Euro aus dem Gleis zu werfen. Jede Diskussion scheint müßig: Die befürchtete oder erhoffte Ergebniserwartung bestimmt die Haltung zum Thema Volksabstimmung.

Dabei gehen zwei Aspekte unter, die vorab zu klären sind, wenn eine solche Volksabstimmung nicht wie das Hornberger Schießen ausgehen soll: Sie befriedet die heutigen politischen Auseinandersetzungen nicht und sie beschädigt das Instrument selbst. Erstens, über was soll konkret abgestimmt werden? Bislang erfolgten Hoheitsübertragungen in der EU in kleinen Schritten als konkrete Problemlösungen, die jeweils nachträglich in EU-Vertragsartikel gefasst wurden. Daher rühren seit den 1980er Jahren die vielen Vertragsänderungen und dicken Vertragswerke. Soll das Volk nicht alle paar Monate bei jeder neuen „verfassungskritischen“ Krisenbewältigungsaktion befragt werden, ob es dieser oder jener technischen Lösung zustimmt – im Detail verstehen sie meist ohnehin nur wenige Experten – oder soll nicht alternativ „Integrationsoffenheit“ als Generalklausel beschlossen werden, was schon in Art. 24 GG steht, bleibt nur: Wir beschließen einen Kompetenzkatalog wie bei Art. 72 ff. GG, der genau die Zuständigkeiten benennt, die Deutschland an die EU abtreten will, und die, die aus deutscher Sicht unverzichtbarer Kern von Staatlichkeit sind. Das wäre mehrfach absurd: Wir werfen den anderen Ländern den Knochen hin, den sie abzunagen haben, auch wenn viele der europäischen Zuständigkeiten derzeit gar nicht zur Diskussion stehen. Wir legten zudem einseitig die „finalité européenne“, die Ziele jeder Einigung, fest. Damit ist der Streit in der EU programmiert und das Pferd vom Schwanz her aufgezäumt. Zweitens, auf welche Einrichtungen übertragen wir die Zuständigkeiten? Wir konzentrieren uns auf das „Weg-Von“ und tun so, als würden die Zuständigkeiten „auf die EU“ übertragen. Auf was oder wen denn konkret? Auf das supranationale Mitentscheidungsverfahren der EU 27 des Lissabonvertrags, Kommission und Parlament eingebunden? Auf die Euro-Gruppe der 17 Mitglieder der Währungsunion? Auf den Europäischen Rat der 27 Staats- und Regierungschefs als Krisenmanager? Oder einfach auf Merkozy oder Merkhola, in den Medien nun die Retter – oder Zerstörer – des Abendlands? Wir tun nun plötzlich so, als sei die EU ein Bundesstaat, in dem politische Zuständigkeiten klar bestimmten Ebenen zugeordnet werden können. Das stimmt selbst in Deutschland nicht, man betrachte nur Gebilde wie die Kultusministerkonferenz, in der die Bundesländer bundesweit Bildungspolitik koordinieren, dem Bund aber keine Kompetenzen überlassen, oder hybride Gebilde wie die GWK, die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz.

Was heißt das alles? Ob die EU schon Bundesstaat ist oder erst werden soll, darf eigentlich beim Suchen nach sinnvollen Problemlösungen keine Rolle spielen. Will man aber nicht bloß pauschal ein bestimmtes Ergebnis – Ja oder Nein – einer einzigen Volksabstimmung zum „Euro“, dann muss man den Menschen sagen: Politik ist heute komplizierter als es uns die Medien weismachen wollen. Dann taugt eine Volksabstimmung leider nicht, weil sie Eindeutigkeit – wir bauen den Stuttgarter Bahnhof oder nicht – vorgaukelt, wo es sie noch nie gab und nie geben wird. Dazu ist das Instrument einer Volksabstimmung zu wertvoll.

Was tun? Die Europäische Einigung ist „Integration durch Recht“, die EU ist derzeit zuvörderst Rechtsgemeinschaft. Vieles was die EU ausmacht, ging vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) aus und ist im Mit-(und Gegen-)einander mit dem Bundesverfassungsgericht verstetigt worden. Will man das Problem, das zur Volksabstimmungsdiskussion geführt hat, inhaltlich in den Griff bekommen, muss man neue Wege gehen: Warum nicht die Zuständigkeiten auch weiterhin nach Bedarf übertragen, aber das Bundesverfassungsgericht aktiv – und nicht nur passiv wie bislang – dafür verantwortlich machen, dass die deutschen Verfassungsgrundsätze gewahrt bleiben? Das kann auch ohne Klagen oder Beschwerden geschehen, als eine grundgesetzliche Bewährungsaufsicht über Kompetenzverlagerungen. Das trägt immerhin der Geschwindigkeit und dem fließenden Prozesscharakter Rechnung. Es löst nicht alle Probleme, ist aber als Legitimation problemangemessener als eine ins Leere laufende „Volksabstimmung auf Rädern“.

Entfernen wir uns vom Schlachtgetümmel des „Alles oder Nichts“, des „Verfassungswidrig oder Verfassungsmäßig“. Europa gerät schneller als 1990 erwartet in einen zweiten großen Umbruch hinein, zugespitzt durch seine „hinkende Währungsunion“: Es wird ein neues Europa geben – mit neuen Lasten und neuen Perspektiven. Oder wir fallen ins alte Europa der Nationalstaaten zurück – mit großen Altlasten und keinen Perspektiven. Ob man das Neue Bundesstaat nennt, wie noch bis etwa 1985, oder supranational oder System eigener Art: Solche historischen Umbrüche haben immer Jahrzehnte gedauert, bis sie zur klaren Form fanden, und meist wurde mit Generalklauseln wie der „commerce clause“ operiert, die nach Lage „gefüllt“ wurden. Unsere Sicherheiten finden wir nicht in festen Kompetenzkatalogen, nur in ausgebauten demokratischen und gerichtlichen Verfahren in Europa und Deutschland. Nächstliegend ist daher eine Stärkung der Demokratie in Europa im Verbund mit den nationalen Parlamenten und eine Stärkung des Europäischen Gerichtshofes im Verbund mit den nationalen Verfassungsgerichten. Was sagte Joseph A. Schumpeter zur Modernisierung? „Autos mit Bremsen“ können „schneller fahren, als sie es sonst täten“. Das Europaauto muss heute schneller fahren. Also müssen wir die geeigneten Bremsen an der richtigen Stelle anbringen – und laufend, auf Sicht nutzen. Der „große Hammer“ des Art. 79 III GG ist dafür untauglich.

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DOI: 10.1007/s10273-012-1400-5

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