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Im Zuge der Finanzkrise, die in den USA ihren Ursprung hatte, und der darauf folgenden Schulden- und Vertrauenskrise im Euroraum sind zuvor über Jahre – und teilweise sogar Jahrzehnte – stabile Zusammenhänge zwischen verschiedenen geldpolitischen Indikatoren zusammengebrochen. Insbesondere aufgrund der starken Veränderungen auf dem Interbankenmarkt – vor allem das in der Krise erschütterte und nur teilweise zurückgekehrte Vertrauen der Banken untereinander – hat sich die Transmission der Geldpolitik auf die Geldmenge erheblich verändert.

Wenn der Interbankenmarkt eintrocknet, Banken sich also aufgrund mangelnden Vertrauens wechselseitig kaum mehr kurzfristige Kredite gewähren, entstehen erhebliche Liquiditätsrisiken. Auch Banken, deren Verbindlichkeiten meist kurzfristig einforderbar sind, können sich also – selbst wenn sie an sich solvent sind – nicht darauf verlassen, bei Bedarf schnell liquide Mittel von anderen Banken zu erhalten. Unter anderem aus diesem Grund halten die Banken seit der Krise erhebliche (freiwillige) Reserven bei der Zentralbank, statt wie zuvor die von der Zentralbank bereitgestellte Liquidität zur Kreditgewährung zu nutzen.

Kaum ein anderer Indikator kondensiert diese Veränderungen so sehr wie der so genannte Geldmultiplikator bzw. Geldschöpfungsmultiplikator, d.h. die Relation zwischen der Geldbasis (die die Zentralbank den Geschäftsbanken zu Verfügung stellt) und der daraus durch den Bankensektor geschöpften für die Privatwirtschaft verfügbaren Geldmenge (vgl. Kasten 1).1

Kasten 1
Der Geldschöpfungsmultiplikator

Obwohl man im Regelfall unterstellt, dass die Zentralbank die Geldmenge kontrolliert, erfolgt die Steuerung der Geldmenge (selbst bei Zentralbanken, die darauf achten) nur indirekt. Die Zentralbank stellt den Geschäftsbanken lediglich Zentralbankgeld zur Verfügung, aus dem die Banken dann – in wesentlich größerem Umfang – Geld „schöpfen“.

Die Bereitstellung von Zentralbankgeld an Banken erfolgt z.B. über Offenmarktgeschäfte, wenn die Zentralbank einer Bank für die selbst herausgegebene Währung ein Wertpapier abkauft oder einer Bank gegen die Sicherheit eines Wertpapiers einen Kredit gewährt. Die Bank kann dieses Geld nun an Geschäftskunden, z.B. einen Haushalt oder ein Unternehmen verleihen.

Da der Kunde der Bank das Geld im Regelfall benötigt, um etwas zu kaufen (schließlich würde er sonst keinen Kredit nehmen), gelangt das Geld sofort wieder in den Umlauf und wird (spätestens über Umwege) wieder bei einer Bank auf ein Girokonto eingezahlt. Dieses Geld kann die Bank nun teilweise erneut verleihen. So entsteht der zweite Kredit, der auf demselben Zentralbankgeld beruht.

Allerdings muss die Bank einen Teil jeder Einlage bei der Bank (also von jedem Girokonto) bei der Zentralbank als Reserve hinterlegen. Der zweite Kredit ist also ein wenig kleiner als der erste und dementsprechend ist auch die daraus wiederum geschaffene Einlage bei einer Geschäftsbank etwas kleiner.

Da, vereinfacht gesprochen, in jedem Umlauf ein Teil des ursprünglichen Zentralbankgeldes wieder zurück an die Zentralbank fließt, endet dieser Prozess genau dann, wenn die Einlagen bei der Zentralbank der ursprünglich in den Umlauf gegebenen Zentralbankgeldmenge entsprechen. Je mehr in jeder Iteration des beschriebenen Prozesses an die Zentralbank zurückfließt, desto kleiner ist die Menge an Krediten (und Einlagen), die insgesamt geschaffen werden.

Auch in normalen Zeiten legen Banken (als Risikopuffer) etwas mehr zurück als sie müssten (die Mindestreserve), allerdings ist auch diese freiwillige Reserve üblicherweise stabil. Wenn, wie jetzt beobachtet, die freiwilligen Reserven stark anschwellen, kann es durchaus passieren, dass eine Erhöhung des Zentralbankgeldes eben nicht zu einer Erhöhung der Geldmenge führt.

Krisenverhalten der Zentralbanken

Unmittelbar nach der Insolvenz von Lehman Brothers im September 2008 hat die Federal Reserve in den USA die Geldbasis nahezu verdoppelt (vgl. Abbildung 1). Um ein Übergreifen der Krise auf Europa zu begrenzen hat die EZB nur kurz darauf mit einer – allerdings deutlich moderateren Ausweitung von knapp 30% – auf die Krise reagiert (vgl. Abbildung 2). Anders als in früheren Jahren hat die Ausweitung der Geldbasis weder in den USA noch in Europa zu einer Ausweitung der Geldmenge geführt. Vielmehr haben die Banken die bereitgestellten Zentralbankkredite gehalten, um ihre eigene Liquidität längerfristig sicherzustellen. Das heißt, der Geldmultiplikator ging deutlich zurück.

Abbildung 1
Geldbasis und M2 in den USA
in Mrd. US-Dollar, Monatswerte
El-Shagi- Abb-3.ai

Quellen: Thomson Reuters Datastream; eigene Berechnungen.

Abbildung 2
Geldbasis und M2 im Euroraum
in Mrd. Euro, Monatswerte
El-Shagi- Abb-1.ai

Quellen: Thomson Reuters Datastream; eigene Berechnungen.

Über die letzten Jahre hat sich in den USA der Multiplikator mit den weiteren Stufen des quantitative Easing immer weiter nach unten verschoben und liegt nun mit ca. 3,8 deutlich unter der Hälfte seines Vorkrisenwertes, der sehr stabil um 8,5 lang (vgl. Abbildung 3).

In Europa kam es zunächst zu einem Wiederanstieg des Multiplikators bis fast auf den alten Wert (vgl. Abbildung 4). Allerdings lag diese Entwicklung nicht etwa an einer Normalisierung im Bankensektor. Die EZB hat sich deutlich mehr als die Federal Reserve Bank um eine Sterilisierung ihrer Maßnahmen bemüht. Das heißt, die Ausweitung der Geldbasis z.B. nach dem Kauf von Staatsanleihen gefährdeter Länder wurde durch die Verkleinerung anderer Komponenten der Geldbasis ausgeglichen. Ein ähnliches Muster findet sich daher abgeschwächt nach allen plötzlichen Ausweitungen der Geldbasis vor der extremen Zuspitzung der Schulden- und Vertrauenskrise. Seitdem steigt auch in Europa die Geldbasis fast ungebremst an, ohne dass es dabei zu einer entsprechenden Ausweitung der Geldmenge kommt. Im Zuge dieser Entwicklung ist der Geldmultiplikator von deutlich über 10 in Vorkrisenzeiten auf nur noch etwa 5 gefallen.

Abbildung 3
Geldschöpfungsmultiplikator (M2/Geldbasis) in den USA
Monatswerte
El-Shagi- Abb-4.ai

Quellen: Thomson Reuters Datastream; eigene Berechnungen.

Abbildung 4
Geldschöpfungsmultiplikator (M2/Geldbasis) im Euroraum
Monatswerte
El-Shagi- Abb-2.ai

Quellen: Thomson Reuters Datastream; eigene Berechnungen.

Einordnung und Ausblick

Damit liegt er sowohl in den USA als auch im Euroraum weit unter den Werten, die sich üblicherweise in fortgeschrittenen Volkswirtschaften finden. Tabelle 1 zeigt die Geldschöpfungsmultiplikatoren in einer Reihe von Industrieländern vor der Krise und – zum Vergleich – am aktuellen Rand der Daten (Mai/Juni 2012). Im Wesentlichen liegen die Werte für den Multiplikator zwischen 8 und 20, mit tendenziell eher steigendem Trend. Obwohl sich die Multiplikatoren zwischen den Ländern erheblich unterscheiden, wird an dieser Tabelle sowohl deutlich, wie außergewöhnlich niedrig die aktuellen Multiplikatoren in den USA und Europa sind, als auch wie groß der Sprung ist, den der Multiplikator in diesen Ländern gemacht hat. Selbst in Japan, wo viele Beobachter seit vielen Jahren von einer Liquiditätsfalle ausgehen, d.h. einer Situation, in der die Wirtschaftssubjekte kein weiteres Geld nachfragen und die Geldpolitik daher machtlos wird, ist der Multiplikator deutlich höher.2

Tabelle 1
Multiplikatoren in Industrieländern vor und nach der Krise
  USA Euro­raum Austra­lien Kanada Däne­mark Japan Nor-
wegen
Schweden Schweiz Groß­britannien
1984-1988 12,1 7,9 11,7 7,1 12,8
1989-1993 10,7 10,8 14,5 13,1 8,3 17,2
1994-1998 8,5 11,0 14,2 10,6 11,5 10,9 11,1 18,6
1999-2003 8,4 9,7 14,0 13,0 9,8 8,5 12,3 10,8 11,1 18,5
2004-2008 8,5 8,8 15,7 14,2 11,9 7,2 15,7 12,6 10,8 20,1
Mai/Juni 2012 3,8 5,0 20,5 17,2 12,0 6,8 22,1 7,1 2,7 20,5

Quellen: Thomson Reuters Datastream; eigene Berechnungen.

Alles deutet also darauf hin, dass die Struktur der Finanz- und Bankensysteme in diesen Regionen nicht langfristig mit einem Multiplikator in dieser Größenordnung vereinbar ist.

Dass die Banken die Liquidität in diesem Maße nachfragen und nicht in Form von Krediten weitergeben, ist wohl teilweise ein Beleg dafür, dass die Liquiditätsversorgung durch EZB und Fed notwendig war, um Schlimmeres im Bankensektor zu verhindern. Allerdings bedeutet es auch, dass bei einer Entspannung der Situation im Bankensektor ein erhebliches Potenzial zur Geldschöpfung besteht. Wenn die überschüssige Geldbasis dann nicht abgeschöpft werden kann, würde eine Inflation drohen.

Technisch besteht zu einer solchen Abschöpfung sicherlich die Möglichkeit. Unklar sind dabei allerdings die Kosten. Eine hektische Reduktion der Geldbasis, auf die zu spät reagiert wird, könnte den Bankensektor verunsichern und so zu einem Wiederaufflammen der Finanzkrise führen. Es ist entsprechend wichtig, dass schon frühzeitig – bevor mit dem Ausstieg aus der expansiven Geldpolitik begonnen wird – ein klarer Plan zum Ausstieg kommuniziert wird. Eine alternative Idee wird vor allem in den USA diskutiert: Statt die Geldbasis zu verringern, könnte auch die Rückkehr des Multiplikators zur Normalität verzögert werden, indem die Zentralbank hohe Zinsen auf die Einlagen der Geschäftsbanken bei ihr zahlt. Allerdings kommt es so zu einer erheblichen Umverteilung vom Steuerzahler zum Bankensystem.

  • 1 Dieser Text verwendet als Geldmenge aus Gründen der Vergleichbarkeit M2, die breiteste für die USA verfügbare Geldmengenabgrenzung. Die EZB berichtet auch die breitere Abgrenzung M3.
  • 2 Eine weitere Ausnahme ist die Schweiz, wo der Geldmultiplikator als indirekte Folge der Krise im Euroraum eingebrochen ist. Die Schweiz hat der Aufwertung des Schweizer Franken, zu der es nach Ausbruch der Krise im Euroraum kam, durch eine Deckelung des Wechselkurses entgegengewirkt. Um diese Deckelung durchzusetzen, mussten erhebliche Eurobestände für Schweizer Franken angekauft werden, die nun allerdings im Ausland (als liquide bisher wertbeständige Anlageform) gehalten werden und daher nicht in der Schweiz geldmengenwirksam werden.

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DOI: 10.1007/s10273-012-1421-0