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In vielen Ländern steht das Thema Gerechtigkeit ganz oben auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda. Vielfach glauben die Menschen, dass die soziale Gerechtigkeit in den letzten Jahren abgenommen habe. Unklar bleibt dabei, was unter Gerechtigkeit verstanden wird und was der Vergleichsmaßstab ist. Der Gerechtigkeits­index des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln1 erfasst Gerechtigkeit deshalb anhand von sechs verschiedenen Dimensionen (Bedarfs-, Leistungs-, Chancen-, Einkommens-, Regel- und Generationengerechtigkeit). Die Entwicklungen in 28 OECD-Staaten werden dann auf Basis von über 30 Einzelindikatoren messbar und vergleichbar gemacht, um einen realistischen Vergleich zu ermöglichen. Die Ergebnisse dieses Vergleichs werden hier zusammenfassend vorgestellt.2

Was ist gerecht?

In Politik und Medien wird immer wieder über Gerechtigkeit diskutiert. Dabei existieren viele verschiedene Vorstellungen davon, was unter „Gerechtigkeit“ zu verstehen ist. Eine umfangreiche Analyse der theoretischen Literatur im Rahmen der Forschungen für das Roman Herzog Institut3 kommt zu dem Ergebnis, dass sechs Dimensionen von Gerechtigkeit zu unterscheiden sind:4

  • die Bedarfsgerechtigkeit, der zufolge die Deckung des Grundbedarfs jedes Gesellschaftsmitglieds garantiert sein soll,
  • die Leistungsgerechtigkeit, nach der jeder Einzelne in dem Maße vom gesellschaftlichen Wohlstand profitieren soll, in dem er dazu beigetragen hat,
  • die Chancengerechtigkeit, wonach allen Gesellschaftsmitgliedern die gleichen (Start-)Chancen gegeben werden müssen,
  • die Einkommensgerechtigkeit, auf der die Forderung nach einer möglichst großen Gleichverteilung des Wohlstands beruht,
  • die Regelgerechtigkeit, nach der Gesetze des gesellschaftlichen Zusammenlebens für jeden gleichermaßen gelten und zudem transparent und nachvollziehbar gestaltet sein müssen, sowie
  • die Generationengerechtigkeit, die dann gewährleistet ist, wenn künftige Generationen durch politische Entscheidungen gegenüber der heutigen Generation nicht benachteiligt werden.

Eine repräsentative Bevölkerungsumfrage aus dem Jahr 2013 zeigt, welche Gerechtigkeitsdimensionen aus Sicht der deutschen Bevölkerung besonders wichtig sind.5 Die Chancengerechtigkeit steht dabei – genauso wie bei Politikern und Wissenschaftlern – an erster Stelle, gefolgt von der Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit. Die Einkommensgerechtigkeit spielt hingegen eine untergeordnete Rolle. Diese Rangfolge spiegelt wider, dass auch die Bevölkerung der Startchancengerechtigkeit mittlerweile mehr Bedeutung beimisst als der Ergebnis- oder Verteilungsgerechtigkeit (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1
Was ist soziale Gerechtigkeit?
Zustimmung in der deutschen Bevölkerung, in %
34865.png

Basis: Bundesrepublik Deutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre.

Quellen: IfD – Institut für Demoskopie Allensbach: Was ist gerecht? Gerechtigkeitsbegriff und -wahrnehmung der Bürger, Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 11001, Allensbach 2013.

Aber wie gut setzt Deutschland im internationalen Vergleich diese Gerechtigkeitsansprüche um? Subjektiv meinen knapp zwei Drittel (64%) der Bevölkerung in Deutschland, dass die soziale Gerechtigkeit in den letzten Jahren abgenommen habe. Dabei nutzen Menschen gerne Stereotype, vereinfachende Daumenregeln und Heuristiken sowie plakative Einzelfälle für die spontanen Gerechtigkeitsurteile, wie die empirische Gerechtigkeitsforschung zeigt.6 Allerdings ist das spontane und subjektive Empfinden wie das „Bauchgefühl“ nicht uneingeschränkt ein guter Ratgeber, um festzulegen, was in einer anonymen Großgesellschaft gerecht ist und was nicht. Was im Kleinen ein guter Indikator ist, kann im Großen versagen, weil die Bedingungen sich deutlich unterscheiden und z.B. Verteilungsprobleme anderer Regelungen bedürfen. Der gesamtgesellschaftliche Ordnungsrahmen und die Institutionen sind in großen, modernen Gesellschaften wesentlicher für die Beurteilung, da soziale Beziehungen und soziale Kontrolle in anonymen Großgesellschaften sehr viel weniger Einfluss darauf haben (können), dass es gerecht zugeht, als in Stammesgesellschaften oder in der Familie.

Wie lässt sich Gerechtigkeit messen?

Mit einem Gerechtigkeitsindex kann versucht werden, objektiver und umfassender zu erfassen, wie gerecht es in einem Land zugeht. Wie gerecht ist Deutschland im Vergleich zu anderen Staaten? Wie hat sich die Gerechtigkeit anhand objektiver, international vergleichbarer Daten entwickelt? Gibt es unterschiedliche Entwicklungen je nach Gerechtigkeitsdimension? Um diese Fragen zu beantworten, hat das IW Köln einen Gerechtigkeitsindex entwickelt, der die verschiedenen Dimensionen anhand unterschiedlicher Variablen misst und dann zu einem Gesamtindex aggregiert.7 Für den Index wurden ausschließlich Variablen verwendet, die gemäß den theoretischen und methodischen Überlegungen in angemessener Form ausgewählte Teilaspekte von Gerechtigkeit erfassen und die auf einer verlässlichen Erhebungsmethode basieren. Weitere Auswahlkriterien sind die Verfügbarkeit von Daten, deren Aktualität, deren Vorliegen für viele der OECD-Staaten und zudem für vergangene Perioden sowie die Annahme, dass die Daten mit großer Wahrscheinlichkeit weiterhin aktualisiert werden, sodass sich diese auch für künftige Untersuchungen verwenden lassen. Hierbei basiert der Gesamtindex auf objektiv nachvollziehbaren Daten und nicht auf selbst erstellten Bewertungen und Gewichtungen. Insgesamt ließen sich nach intensiver Datenrecherche 33 Teilindikatoren identifizieren, die den genannten Anforderungen entsprechen und für die sechs Gerechtigkeitsdimensionen genutzt werden konnten. Die Variablenauswahl ist in vielen Fällen ein Kompromiss, bei dem die Datenverfügbarkeit letztlich gegenüber dem theoretisch Wünschbaren ausschlaggebend sein musste, weil die Daten nicht nacherhoben werden können. Auch wenn die Grenzen von summarischen Indizes bekannt sind, bieten sie dennoch einen einfachen und kompakten Überblick im Ländervergleich, regen zur intensiveren Analyse im Detail an und bieten Stoff für die politische Debatte.

Tabelle 1
Internationaler Gerechtigkeitsindex: Skandinavien vorn
  2012 2010   2012 2010
Norwegen 79 74 Tschechien 59 61
Schweden 76 73 Slowenien 58 60
Dänemark 74 71 Großbritannien 58 54
Neuseeland 72 65 Irland 56 54
Österreich 71 70 Polen 55 56
Finnland 69 68 Slowakei 53 55
Niederlande 65 63 Spanien 53 49
Deutschland 65 62 Ungarn 51 59
Schweiz 62 64 Portugal 49 50
Australien 62 56 Italien 45 44
Luxemburg 62 54 USA 44 43
Belgien 61 61 Griechenland 43 42
Frankreich 60 59 Rumänien 41 40
Kanada 60 55 Türkei 30 28

Punkte im Gerechtigkeitsindex des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln: 0 = schlechtester Wert; 100 = bester Wert.

Gerechtigkeitsindex: gebildet als Durchschnittswert aus sechs Gerechtigkeitskategorien mit insgesamt 32 Indikatoren, jeder Indikator wurde auf eine Skala von 0 (Wert des schlechtesten Landes) und 100 (Wert des besten Landes) normiert; 2012: Schätzung.

Quellen: Ursprungsdaten: OECD, Datenbank, 2012, http://stats.oecd.org; Eurostat, Datenbank, 2012, http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/statistics/search_database; Weltbank, D. Kaufmann, A. Kraay, P. Zoido-Lobatón: The Worldwide Governance Indicators (WGI) Project, 2012, http://info.worldbank.org/governance/wgi/index.asp; Eurobarometer, Datenbank, 2012, http://ec.europa.eu/public_opinion/index_en.htm.

Ein internationaler Gerechtigkeitsindex

Der Ländervergleich liefert – über alle Dimensionen hinweg betrachtet – ein klares Ergebnis. Die skandinavischen Länder, Österreich und Neuseeland liegen vorne, ost- und südeuropäische Staaten und die USA schneiden beim Gerechtigkeitsvergleich hingegen schlecht ab. Ausgehend vom Gesamtindex erreicht Deutschland im Jahr 2010 und 2012 im Ranking von 28 OECD-Staaten hingegen einen guten 8. Platz (vgl. Tabelle 1). Diese Positionierung ist ein Zeichen dafür, dass die Soziale Marktwirtschaft hierzulande vielen verschiedenen Gerechtigkeitsvorstellungen „gerecht“ wird. Die einzelnen Dimensionen werden je nach Land und Wirtschaftsordnung teils in sehr unterschiedlichem Ausmaß umgesetzt. Auffallend ist, dass Deutschland bei allen Arten der Gerechtigkeit im Mittelfeld liegt. Norwegen, Schweden, Dänemark und Finnland erzielen vor allem in den Dimensionen Bedarfs-, Einkommens- und Generationengerechtigkeit Spitzenwerte.

Tabelle 2
Deutschland im internationalen Gerechtigkeitsranking
Rangplätze
  2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010
Bedarfsgerechtigkeit 6 6 6 7 7 12 9 9 9 9 8
Leistungsgerechtigkeit 10 12 7 13 9 12 11 10 17 10 11
Chancengerechtigkeit 18 21 22 23 24 24 24 24 23 21 16
Einkommensgerechtigkeit 16 16 21 21 20 19 18 21 21 18 18
Regelgerechtigkeit 15 14 14 14 15 15 15 14 15 12 12
Generationengerechtigkeit 13 16 15 16 17 17 15 15 13 13 14
Gesamtindex 11 12 8 14 14 19 15 15 15 10 9

Quelle: D. H. Enste, H. Haas, J. Wies: Internationaler Gerechtigkeitsindex – Analysen und Ergebnisse für 28 Industriestaaten, IW-Analyse 91, Köln 2013.

Das Entscheidende bei der Realisierung der Gerechtigkeitsvorstellungen ist allerdings nicht nur, wie viele der Gerechtigkeitsdimensionen innerhalb eines Landes verwirklicht werden, sondern inwiefern auch die Bevölkerung diese Realisierung jeweils als gerecht empfindet und welche Dimensionen für sie besondere Priorität haben. Diesbezüglich ist in Deutschland die Umsetzung der Chancengerechtigkeit, die bei den Menschen die Toppriorität hat, noch immer unbefriedigend. Wenngleich Deutschland sich hierbei im letzten Jahrzehnt auf Rang 16 verbessern konnte, ist ein Mittelfeldplatz für eine als zentral empfundene Gerechtigkeitsdimension nicht ausreichend (vgl. Tabelle 2). Wenngleich Deutschland zurzeit nicht nur wirtschaftlich besser dasteht, sondern es auch verglichen mit anderen Staaten gerechter zugeht als früher, gibt es insbesondere bei der Chancengerechtigkeit weiteren Reformbedarf.

Verbesserungen im Bildungssystem und weitere Maßnahmen zur Reduzierung der Langzeitarbeitslosigkeit sind aus Gerechtigkeitsüberlegungen heraus die zentralen Handlungsfelder für Wirtschaft und Politik. Auch bezüglich der Generationengerechtigkeit gibt es noch Optimierungspotenziale: Förderung von Innovationen durch eine Umstellung von der projekt- auf eine generelle steuerliche Förderung oder bei der Umsetzung der Haushaltskonsolidierung, um zukünftige Generationen nicht weiter zu belasten und die Lösung der aktuellen Staatsschuldenkrisen nicht noch mehr in die Zukunft zu verschieben.

  • 1 Vgl. zum Folgenden D. H. Enste, H. Haas, J. Wies: Internationaler Gerechtigkeitsindex – Analysen und Ergebnisse für 28 Industriestaaten, IW-Analyse 91, Köln 2013.
  • 2 Ebenda für Methodik, Datengrundlage und die Analysen.
  • 3 Vgl. www.romanherzoginstitut.de.
  • 4 Vgl. D. H. Enste, H. Haas, J. Wies, a.a.O., S. 6-11 und S. 59-60.
  • 5 IfD – Institut für Demoskopie Allensbach: Was ist gerecht? Gerechtigkeitsbegriff und -wahrnehmung der Bürger, Allensbach 2013.
  • 6 Vgl. unter anderem D. H. Enste, A. Haferkamp, D. Fetchenhauer: Unterschiede im Denken zwischen Ökonomen und Laien. Erklärungsansätze zur Verbesserung der wirtschaftspolitischen Beratung, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 10. Jg. (2009), Nr. 1, S. 60-78.
  • 7 D. H. Enste, H. Haas, J. Wies, a.a.O., S. 21 ff.


DOI: 10.1007/s10273-014-1640-7