Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Seit Ausbruch der Finanzkrise ist die Wirtschaft in Griechenland viel stärker eingebrochen als in anderen Krisenländern (2008/2015): Die Lohnsumme der öffentlich Beschäftigten sank um 24%, in Portugal und Spanien nur um 15% bzw. 3%, die Sozialtransfers stagnierten in Griechenland, in den beiden anderen Ländern wurden sie hingegen um 12% bzw. 34% ausgeweitet, insgesamt wurden die Staatsausgaben in Griechenland um 12% gesenkt, in Portugal und Spanien jeweils um 18% erhöht. Die gesamte Lohnsumme sank in Griechenland um 27%, in den beiden anderen Ländern nur um je 8%. Die Zahl der Arbeitslosen nahm in Griechenland um 215% zu, in Portugal um 45% und in Spanien um 98%. Die Interpretation der Fakten hängt von der Weltanschauung ab. Für EU-Kommission, EZB, IWF und die meisten Professoren und Journalisten ist klar: Auf freien Märkten erhöhen Lohnsenkungen die Nachfrage nach Arbeit, Kürzungen der Sozialtransfers stärken die Eigenverantwortung, ein Rückzug des Staates stimuliert die Privatwirtschaft. Wenn all dies in Griechenland am radikalsten praktiziert wurde und die Wirtschaft dennoch in eine Depression schlitterte, dann müssen daran die Strukturprobleme schuld sein. In Portugal und Spanien seien sie kleiner, also reichte eine kleinere Dosis Austerität. Griechenland muss hingegen weiter sparen. Die griechische Regierung und ein paar altmodische Ökonomen interpretieren die Zusammenhänge mit „keynesianischer Brille“: Der Staat ist Teil des Gesamtsystems, er kann seinen Haushalt nur dann durch Sparen verbessern, wenn andere Sektoren ihre Nachfrage ausweiten. Sinken Konsum und Investitionen aber auch, dann braucht es steigende Exportüberschüsse. Die Austeritätspolitik ist Haupt­ursache der Stagnation in der EU, „Beggar-my-neighbour“-Ökonomien schneiden relativ besser ab, die anderen schlechter. Fazit: Ganz Europa braucht einen Kurswechsel zu einer systemisch orientierten Politik.

Wer hat Recht? Natürlich niemand, weil es keine „wahren“ Theorien gibt. Sie sind vielmehr Hilfsmittel zur Strukturierung von Beobachtungen, mitgeprägt von Interessen und kulturellen Rahmenbedingungen. Für eine bestimmte Zeit kann eine Theorie bestimmte Zusammenhänge erklären, dann treten neue Rätsel auf und eine neue Theorie löst die alte ab (auf Newton folgt Einstein, etc.). Nur in der Ökonomie strebt man unverdrossen nach der „wahren“ Theorie. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften verändern ökonomische Theorien ihr Objekt, die Realität, insbesondere die Verteilung von Einkommen und Macht. Daher lohnt es sich, via Think Tanks oder gesponserte Lehrstühle in die Theorieproduktion zu investieren. Deren Interessengebundenheit wird durch den Anspruch auf Wahrheit und Wertfreiheit verdeckt. So hat sich seit den 1970er Jahren folgende Vorstellung etabliert: Für jedes Problem gibt es ein „wahres Modell“, an ihm orientieren sich „rationale“ Akteure, gleichzeitig ist es mit jenem der neoklassischen Ökonomen selbst identisch (Freud’sche Projektion). Diese Theorie der „rationalen Erwartungen“ ist Kernstück der Restauration des alten „laissez-faire“ (in anderen Wissenschaften gibt es keine Rückkehr zu einem früheren Paradigma). Mehr als eine Generation von Ökonomen wurde nach dieser Theorie der „Welt als Wille und Vorstellung“ ausgebildet, die Besten sind heute Professoren, Topjournalisten oder in der Politik tätig. Ihnen musste ein Finanzminister Varoufakis als unbelehrbarer Egomane erscheinen, der Theorien von gestern lehrt (die herrschende Theorie ist freilich noch älter). Aus seiner Sicht begegneten ihm 18 Geisterfahrer gleichzeitig, da braucht man schon ein starkes Ego.

„Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“ – mit diesem Satz des Kybernetikers Heinz von Förster können Ökonomen nichts anfangen. Die Auseinandersetzungen in der Eurogruppe entsprechen daher einem Glaubenskrieg, und den gewinnt die Macht: Entweder Griechenland akzeptiert die Wahrheit über Austerität und lebt eine „marktkonforme Demokratie“ oder es muss die Währungsunion verlassen.

Was aber, wenn die Leitlinien der EU-Politik selbst Europa in eine Systemkrise geführt haben? Innerhalb eines Denksystems kann man das Denksystem selbst nicht als Krisenursache erkennen. Es lohnt sich aber, diese Hypothese „von außen“ zu prüfen wie die Nachkriegsgeschichte zeigt. Bis in die 1970er Jahre herrschte in Europa Vollbeschäftigung, prekäre Beschäftigung gab es nicht, die Jungen konnten leicht „flügge“ werden. Seither hat sich die soziale und ökonomische Lage immer mehr verschlechtert. Wodurch unterscheiden sich die „Spielanordnungen“ der Prosperitäts- und der Krisenphase am meisten? In den 1950er und 1960er Jahren konnte sich das Gewinnstreben nur in der Realwirtschaft entfalten, bei festen Wechselkursen, stabilen Rohstoffpreisen, niedrigen Zinsen und schlafenden Aktienbörsen war auf den Finanzmärkten nichts zu holen. Unter dieser Bedingung ereignete sich das „Wirtschaftswunder“ (ähnlich in China nach 1982).

Die „realkapitalistischen“ Anreizbedingungen, das Ziel der Vollbeschäftigung und der Ausbau des Sozialstaats „bändigten“ den Kapitalismus. Die wissenschaftliche Basis dafür war eine – stark vereinfachte – Version der Theorie von Keynes. Bei anhaltender Vollbeschäftigung gingen Gewerkschaften und Sozialdemokratie in die Offensive, dies begünstigte die neoliberale „Gegenreformation“, ihre Forderungen wurden wissenschaftlich legitimiert und ab 1971 in Etappen durchgesetzt: Ent-Fesselung der Finanzmärkte, Abbau des Sozialstaats, Schwächung der Gewerkschaften, Vorrang des Markts gegenüber der Politik. Schwankende Wechselkurse, Rohstoffpreise, Aktienkurse und Zinssätze verlagerten das unternehmerische Gewinnstreben von der Real- zur Finanzwirtschaft, das Wachstum sank von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stiegen. Nach der Finanzkrise 2008 führten Sparpolitik, Lohnkürzungen und sinkende Realinvestitionen bei gleichzeitig boomenden Aktienbörsen Europa in die Depression.

In einer Systemkrise gibt es immer ein schwächstes Glied, das war Griechenland. Gleichzeitig hatte es seine Budgetzahlen gefälscht, und – typisch südländisch – über seine Verhältnisse gelebt, auch herrschen dort seit jeher Korruption und Klientelismus. Das schuldige und verschuldete Griechenland machte es den EU-Eliten leicht, den systemischen Charakter der Krise zu verdrängen, und damit die eigene Mitschuld. Griechenland wurde daher einer Sonderbehandlung unterzogen: Das zeigen die makroökonomischen Daten, aber auch die Entwicklung von Kindersterblichkeit, Selbstmorden, Gesundheitsversorgung und Armut. Im Vergleich dazu waren die von Portugal und Spanien geforderten Sparmaßnahmen sanfte Abmagerungskuren. Folge: Die griechische Wirtschaft brach viel tiefer ein, und das bestätigte die These: „Die Griechen“ sind schuld an der Eurokrise. Daher schlossen sich „die Märkte“ der Sonderbehandlung an (als der Syriza-Sieg absehbar war): In allen Euroländern sanken die Zinsen für Staatsanleihen, nur für Griechenland stiegen sie wieder. Dem konnte sich die EZB nicht verschließen: Sie kaufte Staatsanleihen aller Euroländer, nur keine griechischen.

In biblischer Zeit wurden die eigenen Sünden auf einen Ziegenbock übertragen und dieser dann in die Wüste geschickt. Symptombekämpfung ist Teil des Prozesses der Vertiefung einer Systemkrise. Spielanordnungen nach dem Motto „Lassen wir unser Geld arbeiten“ haben sich in der Geschichte immer selbst zerstört, von den holländischen Republiken des 17. Jahrhunderts bis zum Finanzboom der 1920er Jahre. Die Griechenland-Krise ist eine Etappe in diesem Prozess. Eine gründliche Standortbestimmung könnte ihn verkürzen.


DOI: 10.1007/s10273-015-1846-3

Fachinformationen über EconBiz

EconBiz unterstützt Sie bei der Recherche wirtschaftswissenschaftlicher Fachinformationen.