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Veranstaltungsrückblick: Marcel Fratzscher: Die Deutschland-Illusion

Montag, 20.10.2014

18:00 – 19:30 Uhr

ZBW, Raum 519
Neuer Jungfernstieg 21
Hamburg

Gleich zu Beginn seines Vortrags konfrontiert Marcel Fratzscher seine Zuhörer mit einem Rätsel: Er beschreibt zwei Staaten – welche sind das? Zunächst einmal eine sehr erfolgreiche Volkswirtschaft, die die Krise gut überstanden hat, die wettbewerbsfähig ist, sich Exportweltmeister nennt, einen soliden Staatshaushalt vorlegt und deren Arbeitslosigkeit deutlich zurückging. Hier weiß natürlich jeder, dass es sich um Deutschland handeln muss. Anders sieht es in dem Staat aus, den Fratzscher beinahe als gescheitert beschreibt ...

Buchcover: Die Deutschland-Illusion

Gleich zu Beginn seines Vortrags konfrontiert Marcel Fratzscher seine Zuhörer mit einem Rätsel: Er beschreibt zwei Staaten – welche sind das? Zunächst einmal eine sehr erfolgreiche Volkswirtschaft, die die Krise gut überstanden hat, die wettbewerbsfähig ist, sich Exportweltmeister nennt, einen soliden Staatshaushalt vorlegt und deren Arbeitslosigkeit deutlich zurückging. Hier weiß natürlich jeder, dass es sich um Deutschland handeln muss. Anders sieht es in dem Staat aus, den Fratzscher beinahe als gescheitert beschreibt: mit im Vergleich zu Resteuropa niedrigen Wachstumsraten, einem stagnierenden Arbeitsvolumen, erheblichen Vermögensverlusten bei den privaten Haushalten. Aber auch dies ist Deutschland – eben die andere Seite der Medaille.

Die Realität wird in Deutschland jedoch ganz anders wahrgenommen: Dabei unterliegt man hierzulande drei Illusionen:

  1. Illusion: Die Wirtschaft erlebt die geschilderten Erfolge. Bei der Desillusionierung geht Fratzscher in die Einzelheiten: Nicht nur das Arbeitsvolumen, auch die Löhne seien – vor allem im unteren Einkommensbereich – gesunken. Das Vermögen liegt pro Kopf deutlich unter dem europäischen Durchschnitt. Zudem ist es so ungleich verteilt wie fast nirgends in den Nachbarländern, es fehlt an Chancengleichheit vor allem bei der Bildung, entsprechend ist auch die soziale Mobilität ungewöhnlich niedrig. Auffällig und möglicherweise verursachend sind die geringen öffentlichen und privaten Investitionen in Real- und Humankapital.
  2. Illusion: Deutschland braucht Europa nicht. Fratzscher macht deutlich, dass bei internationalen Verhandlungen Deutschland auch als große Volkswirtschaft ein „kleines Licht“ ist – gemeinsam mit der EU können aber Entscheidungen forciert werden, von denen vor allem Deutschland profitiert.
  3. Illusion: Die europäischen Nachbarn wollen an unser Geld, Deutschland ist der Zahlmeister Europas. In Wirklichkeit seien wir aber Nutznießer und nicht Opfer der EZB-Geldpolitik, meint Fratzscher. Die EZB habe durch ihre Politik immerhin beispielsweise spanische Banken gerettet, die dadurch in der Lage waren, ihre Kredite an deutsche Gläubiger zurückzuzahlen. Außerdem habe die Niedrigzinspolitik die Sparer nicht enteignet, vielmehr mache sie deutlich, dass die Deutschen „falsch“ sparen, ihr Vermögen nicht in profitablen Immobilien und Aktien, sondern auf dem kaum verzinsten Sparbuch anlegen.

Was sollte nun getan werden, um die Lage Deutschlands nachhaltig zu bessern? Fratzscher hält eine gut durchdachte Investitionsagenda für die Lösung vieler Probleme: Zum einen müssen die öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur angehoben werden und dies sollte vor allem dadurch geschehen, dass die Staatsausgaben vom Konsum zu den Investitionen umgeschichtet werden. Dann müsste noch nicht einmal die beschlossene Staats-Schuldenbremse aufgehoben werden. Zum anderen sei es aber vor allem wichtig, mehr in Bildung zu investieren und hier kommt es - wie verschiedene Studien gezeigt haben - entscheidend auf die frühkindliche Bildung an. Aber auch auf europäischer Ebene müsste einiges zu Ende gebracht werden, beispielsweise die Bankenunion, eine Fiskalunion und eine europäische Wirtschaftsregierung.

In der von Brigitte Preissl moderierten anschließenden Diskussion mit dem Publikum ging es unter anderem darum, ob der Staatskonsum so einfach gesenkt werden könne. Fratzscher stellt sich vor, dass eine Absage der Rentenreform sehr viele Mittel für andere effizientere Ausgabenposten freischaufeln würde. Auch die Bildungsinvestitionen wurden diskutiert, denn nicht jede Ausgabensteigerung führt automatisch zu guten Ergebnissen. Hier betonte Fratzscher nochmals, dass es eben darauf ankomme, die Effizienz der Staatsausgaben zu steigern. Es wurde gefragt, ob er glaube, dass die meisten Banken den demnächst anstehenden von der EZB durchgeführten Stresstest bestehen würden. Betroffen seien hier nur die großen Banken, auffällig findet Fratzscher aber, dass vor allem in Deutschland in der Krise kaum eine Bank geschlossen wurde, während in den europäischen Krisenländern oder in den USA weitaus mehr Finanzinstitute Bankrott gingen.

 

Zum Buch

Deutschland sieht sich gern als Hort der Stabilität in einem unsicheren Europa.
Es ist stolz auf seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und darauf, dass es ziemlich ungeschoren durch die Krise gekommen ist. Doch das schöne Bild trügt. Deutschland hat seit dem Jahr 2000 deutlich weniger Wachstum zu verzeichnen als andere europäische Staaten. Zwei von drei Arbeitern sind heute schlechter gestellt als vor 15 Jahren. Die deutsche Wirtschaft und der Staat leben von ihrer Substanz. Marcel Fratzscher legt den Finger in die Wunde und benennt die Herausforderungen, denen sich Politik und Gesellschaft stellen müssen.
Und er räumt auf mit dem Irrglauben, wir kämen ohne Europa besser zurecht.

Das Buch „Die Deutschland-Illusion“ ist im September 2014 im Carl Hanser Verlag erschienen. Weitere Literatur von Marcel Fratzscher finden Sie im Wirtschaftsdienst-Archiv und bei EconBiz, dem Online-Katalog der ZBW.

 

Zum Autor

Marcel Fratzscher studierte in Kiel, Bonn, Oxford, Harvard und Florenz. Nach beruflichen Stationen unter anderen bei der Europäischen Zentralbank und dem Harvard Institute for International Development in Jakarta ist er heute Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Professor für Makroökonomie und Finanzen an der Humboldt-Universität zu Berlin.