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Im März hat die Bundesregierung beschlossen, die gezielte Anwerbung von IT-Spezialisten aus Nicht-EU-Ländern zu erleichtern, um der Wirtschaft die Deckung ihres akuten Fachkräftebedarf zu ermöglichen. Ist die Green Card das geeignete Mittel, den Mangel an EDV-Experten zu beheben? Sollte sie auch für andere Bereiche eingeführt werden?

Das Sofortprogramm zur Deckung des IT-Fachkräftebedarfs

Mitte März haben die Bundesregierung und die Informations- und Kommunikationstechnologie-Wirtschaft das „Sofortprogramm zur Deckung des IT-Fachkräftebedarfs in Deutschland" vereinbart. Dieses Programm dient zum einen der kurzfristigen Deckung des akuten Bedarfs an IT-Spitzenfachkräften, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt zur Zeit nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen. Zum anderen wurden ergänzende Maßnahmen im Bereich der Aus- und Weiterbildung vereinbart, die den mittel- und langfristigen Bedarf von IT-(Spitzen-)Fachkräften decken sollen.

Deckung des akuten IT-Spitzenkräftebedarfs

Zur Zeit sind in der Informationswirtschaft ca. 1,74 Mill. Arbeitnehmer beschäftigt. Nach Angaben der Wirtschaft fehlen momentan ca. 75.000 IT-Fachkräfte in Deutschland, vorwiegend Spitzenfachkräfte. Die EU hat bereits 1998 das Fehlen von europaweit ca. 500.000 IT-Fachkräften berichtet; im Jahre 2003 sollen sogar bis zu 1,7 Mill. IT-Fachkräfte fehlen, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden. In Deutschland sind zwar ca. 30.000 EDV-Fachleute arbeitslos gemeldet, darunter finden sich aber viele Berufsgruppen, die von der Qualifizierung her nicht zu den Spitzenfachkräften zu rechnen sind, etwa Datenverarbeitungskaufleute, EDV-Vertriebsfachleute etc. Auch stehen vielfach die heute benötigten Kenntnisse nicht zur Verfügung.

Dringend fehlen hingegen Informatiker mit Hoch- oder Fachhochschulabschluss, die vor allem im Bereich der Softwareentwicklung benötigt werden. Hier werden vielfach auch zusätzliche Kompetenzen aus anderen Wissenschaftsbereichen erwartet, also z.B. gute Kenntnisse im Bereich der Wirtschaft oder der Technik. Für die Entwicklung einer betriebswirtschaftlichen Software wäre es hervorragend, wenn der Bewerber nicht nur die modernen Programmiersprachen beherrscht, sondern auch noch über gute betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Kenntnisse verfügt. Im Bereich der technischen Softwareentwicklung werden hingegen beispielsweise tiefgehende Kenntnisse aus dem Bereich der Elektronik verlangt. Die Hoch- und Fachhochschulen, die zur Zeit jährlich deutlich unter 10.000 Informatik-Absolventen in den Arbeitsmarkt entlassen, können den akuten Bedarf nicht decken. Viele dieser Fachkräfte haben bereits vor dem förmlichen Abschluss ihres Studiums einen Arbeitsvertrag in der Tasche und treten auf dem freien Stellenmarkt erst gar nicht in Erscheinung. Die ca. 36.000 Umschulungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen pro Jahr seitens der Bundesanstalt für Arbeit führen meistens nur zu Qualifikationen aus dem unteren und mittleren Fachbereich.

Wegen des Fachkräftemangels ist es denn auch tatsächlich so, dass viele Unternehmen momentan auf die Annahme von zusätzlichen Aufträgen verzichten müssen. Diese Aufträge werden daher teilweise von Wettbewerbern im Ausland wahrgenommen, auch viele eigene geplante Innovationen und Vorhaben können von den Unternehmen nicht realisiert werden. Einige Unternehmen verlassen aus diesem Grunde sogar den Standort Deutschland oder gründen stattdessen Niederlassungen im Ausland, wo sie leichter an das benötigte Personal gelangen können. Wenn wir also mit Hilfe der ausländischen IT-Spitzenfachkräfte die Möglichkeit erlangen, in Deutschland mehr Aufträge zu bearbeiten, die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen zu stärken und unser Bruttosozialprodukt zu steigern, warum sollten wir dies nicht tun? Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass eine neue IT-Spitzenfachkraft zusätzliche IT-Arbeitsplätze dort entstehen lässt, wo (zur Zeit arbeitslose) IT-Fachkräfte der unteren und mittleren Qualifikationsstufe benötigt werden.

Die ca. 4 Mill. Arbeitslosen in Deutschland können also leider nur sehr begrenzt dabei helfen, den akuten Bedarf an IT-Spitzenfachkräften zu decken. Die einreisenden Fachkräfte können aber sehr gut dabei helfen, die Arbeitslosigkeit in Deutschland stärker abzubauen!

Interessenten können bis zu fünf Jahre ihre Tätigkeit in Deutschland verrichten und dabei wertvolle Erfahrungen für ihr eigenes berufliches Fortkommen erwerben. Mit der Verabschiedung einer eigens hierfür vorgesehenen Verordnung soll der IT-Spitzenfachkraft eine erleichterte Einreise nach Deutschland ermöglicht werden. Dabei ist vorgesehen, zunächst 10.000 Spitzenkräften die Einreise zu ermöglichen. Die Bundesregierung wird die Entwicklung beobachten und das Kontingent bei Bedarf kurzfristig auf 20.000 erhöhen. Die USA behelfen sich übrigens schon seit einigen Jahren mit dieser Möglichkeit, den auch dort vorherrschenden akuten Fachkräftemangel zu lindern. Bereits 1998 wurden dort die vergleichbaren Visa von 65.000 auf 115.000 erhöht. Diese Visa ermöglichen ebenfalls einen temporären Arbeitsaufenthalt im Land (im Gegensatz zur Green Card, die eine uneingeschränkte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in den USA ermöglicht; die Bezeichnung „Green Card" ist daher für das deutsche Vorhaben nicht so ganz passend). Kürzlich wurde in den USA gar eine Gesetzesinitiative eingebracht, wonach diese Visa, die einen Aufenthalt bis maximal sechs Jahren erlauben, auf 195.000 erhöht werden sollen.

Hiermit zeigt sich also deutlich, dass IT-Spitzenkräfte in der Welt umworben sind und dass es somit überhaupt nicht selbstverständlich sein wird, dass diese Kräfte nun ohne weiteres in ausreichendem Umfang nach Deutschland kommen werden. Eine negative, ausländerfeindliche Stimmungsmache, wie sie zur Zeit von der Opposition in NRW betrieben wird, ist da sicher nicht hilfreich. Für mein Empfinden verlieren wir zu viel hervorragende Studienabgänger ins Ausland und gewinnen parallel dazu immer weniger ausländische geistige Eliten zu Leben und Mitarbeit in unserem Land.

Ergänzende Maßnahmen

Mit der Einreise von ausländischen Fachkräften können wir nur kurzfristige Engpässe abdecken. Vorrangiges Ziel ist es natürlich, die Kapazitäten im eigenen Land signifikant zu erhöhen, um auch mittel- und langfristig über das erforderliche Personal zu verfügen. Die Bundesregierung wird daher im Zusammenwirken mit den Bundesländern im Hochschulbereich eine Offensive mit dem Ziel starten, die Zahl der Studienplätze zu erhöhen, zusätzliche Lehrkapazitäten in den Universitäten und Fachhochschulen zu schaffen, die Studiengänge noch stärker zu internationalisieren und im Ausland intensiver für den Studienstandort Deutschland zu werben. Ziel ist die schnellstmögliche Verdoppelung der Zahl der Hochschulabsolventen im IT-Bereich. Zu dieser Offensive gehört es ebenfalls, das Interesse junger Menschen für Studium und Ausbildung in IT-Berufen zu fördern und dazu auch besondere Akzente bei der Aus- und Weiterbildung von Schul- und Berufsschullehrern zu setzen.

Daneben wurde eine Reihe von Maßnahmen vereinbart, die insbesondere im Bereich der unteren und mittleren Berufsqualifizierung von Bedeutung sind:

  • Die Bundesanstalt für Arbeit wird ihre IT-Weiterbildungsmaßnahmen kurzfristig von der bisher schon erreichten Teilnehmerzahl von 36.000 auf 40.000 erhöhen.
  • Die Bundesanstalt für Arbeit wird ihre Vermittlungs- und Weiterbildungsanstrengungen darauf richten, die Zahl der etwa 32.000 arbeitslosen IT-Fachkräfte deutlich zu reduzieren; auch die Zahl der etwa 60.000 arbeitslosen Ingenieure soll nachhaltig verringert werden.
  • Die Wirtschaft wird im IT-Bereich bis zum Jahr 2003 mindestens weitere 20.000 über die bereits im Bündnis für Arbeit zugesagten 40.000 Ausbildungsplätze hinaus, also insgesamt 60.000 Plätze, anbieten.
  • Die Wirtschaft sagt zu, die innerbetriebliche Weiterbildung in Hinsicht auf internetrelevante Technologien erheblich und nachweisbar zu steigern. Dazu wird die Wirtschaft ein Konzept für die innerbetriebliche Weiterbildung entwickeln, das auch ältere Arbeitnehmer mit einbezieht.
  • Die Wirtschaft wird durch geeignete Maßnahmen das Interesse der jungen Menschen an einer Ausbildung und Tätigkeit in der IT-Branche verstärken. Insbesondere soll der Frauenanteil deutlich erhöht werden.

Mit allen diesen Maßnahmen stellen wir gemeinsam mit der Wirtschaft sicher, dass Deutschland weiterhin die Chance behält, in der Entwicklung der Informationsgesellschaft einen Spitzenplatz einnehmen zu können. Bereits in fünf Jahren soll die Informations- und Kommunikationstechnologie-Branche in Deutschland die 300-Milliarden-DM-Umsatz-Schwelle überspringen. Sie wird damit zum größten deutschen Wirtschaftszweig überhaupt.

Daher kann ich heute jedem Schüler, der an den neuen Technologien Interesse hat, durchaus raten, sich über ein Studium der Informatik bzw. artverwandter Studiengänge Gedanken zu machen.

Wird Deutschland ein Einwanderungsland?

Ausbildung und Einwanderung – so muss unsere Antwort auf den Fachkräftemangel in Deutschland lauten. Beides ist notwendig, um den Bedarf an qualifizierten Mitarbeitern in den deutschen Unternehmen mittelfristig zu decken. Umfragen der Industrie- und Handelskammern zeigen einen Fachkräftemangel, der nicht auf den Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien beschränkt ist. Auch andere Branchen – von den Ingenieurberufen bis zu den Hotelbeschäftigten – haben Schwierigkeiten bei der Suche nach geeignetem Personal.

Insbesondere im IT-Bereich ist der Fachkräftemangel jedoch zu einem Engpass für die wirtschaftliche Entwicklung der gesamten Branche geworden. Die stürmische Entwicklung der Internet-Ökonomie und die globale Vernetzung sind dafür verantwortlich, dass die Nachfrage nach IT-Spezialisten weltweit zugenommen hat – und zwar so schnell, dass die Bildungssysteme selbst bei guter Anpassungsfähigkeit nicht entsprechend reagieren konnten.

Dieses Wachstumshemmnis behindert generell die Beschäftigungsentwicklung im deutschen Dienstleistungssektor. Denn die Beschäftigung von EDV-Spezialisten schafft in Deutschland auch Arbeitsplätze in weiteren Unternehmensbereichen wie Vertrieb, Marketing, Verwaltung und Produktion. Auch andere Branchen – von der Automobilindustrie über die Kreditinstitute bis zu Handelsunternehmen – leiden unter diesem IT-Engpass, suchen sie doch für die entsprechenden Unternehmensbereiche ebenfalls händeringend Fachleute. Softwareentwicklung spielt in der Entwicklung von Autos und in der Abwicklung von Finanzdienstleistungen bereits heute eine zentrale Rolle; schon morgen wird es im Handel ähnlich sein.

Unbürokratische Umsetzung notwendig

Von einer Beseitigung des Engpasses bei IT-Spezialisten würden vor diesem Hintergrund positive gesamtwirtschaftliche Wirkungen ausgehen. Insofern ist das Sofortprogramm zur Deckung des IT-Fachkräftebedarfs, das die Bundesregierung gemeinsam mit der Wirtschaft umsetzen will, ein richtiger Schritt. Die vorgesehene Befristung der Arbeitsgenehmigung darf aber nicht das letzte Wort sein: Die Politik ist gefordert, den IT-Spezialisten eine weitergehende Perspektive zu eröffnen, wenn sich ihr Aufenthalt – wovon ich sicher ausgehe – als förderlich für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland erweist.

Jetzt kommt es aber in den nächsten Monaten zunächst entscheidend darauf an, dass die Erleichterungen bei der Anwerbung von IT-Spezialisten aus dem Nicht-EU-Ausland flexibel und unbürokratisch umgesetzt werden. Die grundsätzliche Entscheidung für eine Öffnung des inländischen Arbeitsmarktes darf nicht in der Umsetzungsphase durch bürokratische Hürden eingeschränkt werden.

In der Vergangenheit hat manche Schwerfälligkeit in den Arbeitsämtern und Ausländerbehörden bei der Anwendung der bestehenden Ausnahmeregelungen bei Unternehmen zu Verärgerung geführt – sind doch dadurch Anstrengungen zur Anwerbung von besonders qualifizierten Mitarbeitern gescheitert. In einer Branche, in der menschliches Wissen und unternehmerische Strategien ohnehin nur eine sehr kurze Halbwertzeit haben, ist es nicht vertretbar, dass Anträge auf Arbeitsgenehmigungen für besonders qualifizierte Spezialisten drei bis sechs Monate Bearbeitungszeit benötigen. Drei bis sechs Wochen wären die Obergrenze, um im internationalen Wettbewerb um IT-Fach- und Führungskräfte mithalten zu können.

Dazu müssen in Zukunft Arbeitsämter, Ausländerbehörden und vor allem auch die deutschen Botschaften im Ausland enger zusammenarbeiten, um im Interesse der deutschen Volkswirtschaft die notwendigen Fachkräfte ins Land kommen zu lassen. Denn es dürfte potenziellen Mitarbeitern aus dem Ausland nur schwer vermittelbar sein, warum sie in Deutschland zweimal – nämlich für die Arbeitsgenehmigung und für die Aufenthaltserlaubnis – ein ähnliches Verfahren durchlaufen müssen.

Die deutschen Auslandshandelskammern helfen bei der Suche nach ausländischen Computer-Experten. Spezielle Technologie-Experten des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT), sogenannte Technologie Area Manager, stehen in den für Softwareentwicklung besonders interessanten Ländern Indien, Süd-Korea, China, Mexiko und Argentinien als Ansprechpartner für mittelständische deutsche Unternehmen zur Verfügung, um sie bei der Suche geeigneter IT-Fachkräfte zu unterstützen. Mit diesem Leistungsangebot ist gleichzeitig ein „Qualitäts-Check" verbunden. Aus einer möglichen hohen Zahl ausländischer Bewerber werden nur die vermittelt, die tatsächlich den Anforderungen deutscher Unternehmen entsprechen.

Kommt es zu einem Brain Drain?

Die öffentliche Diskussion vermittelt den Eindruck, als würden die Spezialisten in aller Welt nach einer deutschen „Green Card" – um diesen sachlich nicht ganz korrekten Begriff hier einmal zu verwenden – Schlange stehen. Richtig ist jedoch, dass andere Staaten – insbesondere die USA – im Wettbewerb um solche Spezialisten bessere Karten haben. Nicht nur Sprache oder Klima, sondern z.B. auch die stärkere Verbreitung von Aktienoptionen als attraktives Entlohnungssystem tragen dazu bei. Berichte über Ausländerfeindlichkeiten in Deutschland und die wenig sachlichen Äußerungen mancher deutscher Politiker helfen auch nicht, die Attraktivität des deutschen Arbeitsmarktes für ausländische Spezialisten zu steigern. Werden die Rahmenbedingungen für ausländische Fachkräfte nicht verbessert, so besteht die Gefahr, dass diese Experten weiterhin einen Bogen um Deutschland machen. Schon jetzt zeigt sich daneben ein „Brain Drain" der besonderen Art: Viele Top-Absolventen hiesiger Universitäten mit deutschem Pass suchen sich lieber einen Arbeitsplatz in einem anderen Land!

Das entwicklungspolitisch motivierte Argument, Deutschland würde den asiatischen und mittel- und osteuropäischen Ländern ihre Spezialisten „wegnehmen", verkennt die Situation globaler Märkte. Wenn wir Deutschland für solche mobilen Arbeitskräfte verschlossen hielten, würden wir uns nur selbst schaden – den aufstrebenden Ländern in verschiedenen Weltregionen aber nicht damit helfen. Die Verantwortlichen in diesen Ländern wissen, dass sie von der internationalen Mobilität ihrer Fachkräfte profitieren. Denn solche Spezialisten kehren häufig als erfahrene Topkräfte ins eigene Land zurück und fördern die dortige Entwicklung. Oder aber sie bewirken, dass Aufträge in ihr Heimatland vergeben werden. In jedem Fall sind derartige Erfolgsstories qualifizierter Arbeitnehmer ein starker Anreiz für die nachwachsende Generation in diesen Ländern, den erfolgversprechenden Weg auf den IT-Arbeitsmarkt ebenfalls einzuschlagen. An einer solchen Aufbruchstimmung fehlt es hingegen in Deutschland!

Mängel des Bildungssystems

Die Diskussion um die Einwanderung von IT-Experten hat völlig zu Recht auch den Finger in die offenen Wunden des deutschen Bildungssystems gelegt. Nahezu naturbedingt besteht dabei das Dilemma, dass Bildungssysteme den Entwicklungen in der Wirtschaft hinterherhinken: Sie können nämlich künftige Entwicklungen in der Regel nicht voraussehen. Zu kritisieren ist jedoch das Tempo, mit dem Schule, Hochschule und Ausbildung hierzulande auf derartige Veränderungen reagieren:

  • Die Schulen sind trotz guter Beispiele nach wie vor nicht flächendeckend auf die IT- und Mediengesellschaft vorbereitet. Die Lehrerausbildung widmet den Möglichkeiten der neuen IT-Techniken noch viel zu wenig Raum, und der aufgeschlossene Lehrernachwuchs kann sich mangels freier Stellen nicht entwickeln. Die Ausstattung der Schulen mit qualifiziertem Personal ist deshalb ebenso mangelhaft wie die Ausstattung mit aktueller Hard- und Software.
  • Die Hochschulen haben die Bedeutung der Informations-, Kommunikations- und Medienwirtschaft zwar erkannt; jedoch sind auch hier die Kapazitäten nach wie vor unbefriedigend, und die Studiendauer ist zu lang. Ein Alarmsignal sollte auch sein, dass in den Informatik-Studiengängen fast jeder Zweite das Studium abbricht. Außerdem dauert es an den Hochschulen zu lange, bis die Studien- und Prüfungsordnungen an neue Entwicklungen in der Praxis angepasst werden. Die Hochschulen sollten deshalb den jetzigen Fachkräftemangel als Chance begreifen. Sie können durch die Einführung kürzerer Studiengänge – wie Bachelor- und Master-Programme – zu einer Entspannung der Situation beitragen. Auch die Informatik-Studiengänge der Berufsakademien stellen eine hervorragende Alternative dar.
  • In der betrieblichen Ausbildung ist die Wirtschaft selbst in der Pflicht. Der DIHT hat seit 1995 – neben anderen zukunftsträchtigen Ausbildungsberufen im Medienbereich – vier neue IT-Berufe vorgeschlagen, die nach kurzer Entwicklungszeit in Kraft getreten sind. Diese Berufe wurden im Herbst 1997 erstmals angeboten; Ende dieses Jahres werden sich bereits 40.000 Jugendliche in einer Ausbildung zum IT-Systemelektroniker, zum Fachinformatiker, zum IT-Systemkaufmann oder zum Informatikkaufmann befinden. Im Herbst 1999 haben z.B. zuletzt mehr als doppelt so viele Schulabgänger die Ausbildung zum Fachinformatiker aufgenommen, als dies noch ein Jahr zuvor der Fall war. Die Wirtschaft will ihr Angebot an IT-Ausbildungsplätzen bis zum Ende des Jahres 2003 noch auf insgesamt 60.000 erhöhen. Voraussetzung dafür ist, dass Schulen und Arbeitsämter über die Chancen in diesen Bereichen hinreichend informieren.

Fortschritte sind auch notwendig bei der Gestaltung der Weiterbildungsebenen für die Absolventen dieser Ausbildung. Es ist zu hoffen, dass sich Wirtschaft und Gewerkschaften auch hier sehr bald auf eine flexible Struktur der Weiterbildungsprüfungen einigen können.

Diskussion um ein Einwanderungsgesetz

Die Diskussion um die Zuwanderung ausländischer IT-Spezialisten hat nicht nur die Auseinandersetzung um die Bildungspolitik in Deutschland belebt. Sie hat auch dazu beigetragen, das Thema Einwanderungspolitik auf die Tagesordnung der öffentlichen Auseinandersetzung zu bringen. Die deutsche Politik kann deshalb nicht länger darüber hinwegsehen, dass der Arbeitsmarkt für Fach- und Führungskräfte – keineswegs nur im IT-Bereich – inzwischen ein weltweiter Markt ist. Dem müssen auch die deutschen Einwanderungsregeln künftig in viel stärkerem Maße Rechnung tragen.

Deutschland braucht deshalb neben den jetzt vorgesehenen kurzfristigen Maßnahmen in absehbarer Zeit ein Einwanderungsgesetz, das klare Spielregeln für die Zuwanderung enthalten muss. Nur so kann eine offene Gesellschaft der zunehmenden Mobilität der Menschen Rechnung tragen. Für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in Deutschland ist es ebenso wichtig, dass unsere Grenzen auch für diejenigen Menschen geöffnet werden, die durch ihre qualifizierte Arbeit einen wichtigen Beitrag zu Wachstum und Innovation hierzulande beitragen können.

Die Diskussion um ein Einwanderungsgesetz, das die Belange sämtlicher Wirtschaftsbereiche berücksichtigen muss, hat bereits begonnen. Sie wird die politische Diskussion in den kommenden Jahren auf vielfältige Art und Weise beeinflussen. Die Debatte wird in jedem Fall kritische Anfragen an das heimische Bildungssystem und hinsichtlich der Regulierungen am deutschen Arbeitsmarkt auslösen: So klagt das Hotel- und Gaststättengewerbe seit Jahren über den Mangel an Mitarbeitern, gerade für einfachere Dienstleistungen – und das bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit in diesem Segment des Arbeitsmarktes. Die Einwanderungsdiskussion zwingt uns deshalb, auch Reformen in der Arbeitsmarktpolitik in Angriff zu nehmen.

Die demographische Entwicklung lässt darüber hinaus erwarten, dass sich im Bereich der privaten Pflegewirtschaft ebenfalls eine steigende Nachfrage nach Fachkräften entwickeln wird. Seit Jahren fordert der DIHT deshalb eigenständige Pflegeberufe in der dualen Ausbildung. Mehrfache Vorstöße in diese Richtung sind an der reservierten Haltung der zuständigen Ministerien sowie der Sozialverbände gescheitert. Keiner darf sich deshalb wundern, wenn die betroffenen Pflegeunternehmen bald auch die Zuwanderung ausländischer Mitarbeiter verlangen – wie die Unternehmen im Hotel- und Gaststättengewerbe bereits heute.

Fazit: Die sogenannte „Green-Card-Lösung" wird kurzfristig den IT-Unternehmen helfen, wenn sie unbürokratisch, flexibel und wirtschaftsnah gehandhabt wird. Wichtig ist aber auch, dass sie die Debatte um die mittelfristige Ausrichtung der Bildungspolitik einerseits und der Einwanderungspolitik andererseits vorantreiben wird.

Die Green Card löst nicht alle Probleme

Zur Deckung des akuten Bedarfs an IT-Experten will die Bundesregierung die gezielte Anwerbung von Fachleuten aus Nicht-EU-Ländern erleichtern, da sonst nicht nur das Wachstum dieses Schlüsselbereichs, sondern auch das aller übrigen Branchen behindert werden könnte.

In der Debatte um die geplante Maßnahme wird versucht, die Gewerkschaften in eine Bremserrolle zu rücken. Dies Urteil ist jedoch nicht haltbar. Langjährige Erfahrungen mit Ausbildungsplatzmangel, Lohndumping und dem Herausdrängen älterer Arbeitnehmer aus den Betrieben sensibilisieren uns für die sozialen Auswirkungen arbeitsmarktrelevanter Maßnahmen. Darum fragen wir nach den strukturellen Ursachen von Wachstumshemmnissen und sehen unsere Aufgabe darin, vor Scheinlösungen zu warnen.

In der „Green Card-Debatte" geht es um die Auswirkungen teilweise unvorhersehbarer Dynamiken wirtschaftlicher Entwicklung, aber auch um die Folgen einer kurzsichtigen Personalpolitik der Unternehmen und Versäumnisse in Bildung und Ausbildung.

Die Ausgangslage

In der Tat bildet die Informations- und Kommunikationstechnologie-Industrie den am schnellsten wachsenden Wirtschaftsbereich in den Ländern der OECD. Hier ist auch das größte Arbeitsplatzwachstum zu verzeichnen. Die Segmente Software und Dienstleistungen sind die wesentlichen Wachstumsmotoren im Bereich der Informationstechnik.

Während die USA und Schweden mit 8 bis 9% führen, befindet sich Deutschland mit knapp 6% Anteil des IuK-Bereichs am BIP im unteren Drittel der Mitgliedstaaten.

Die Entwicklung hierzulande ist jedoch positiv: Bei Dienstleistungen und Software liegen die durchschnittlichen Wachstumsraten oberhalb von 10%, im Bereich der Hardware sind es 6 bis 8%. Als Folge dieser Entwicklung häufen sich die Klagen über einen Mangel an IT-Fachleuten. Alle Anhaltspunkte weisen darauf hin, dass ein kurzfristig nur schwer zu deckender Bedarf vorhanden ist. Auch der europäische Binnenmarkt ist leergefegt. Die Länder der EU konkurrieren weltweit und insbesondere mit den USA.

Weil Wohlstand und Entwicklungschancen eines Landes aber in wachsendem Maße von der Durchdringung der Wirtschaft mit IT und deren effektiver Nutzung durch hochqualifizierte Menschen abhängen, ist in diesem Expertenmangel eine Gefahr für wirtschaftliches Wachstum und die Entstehung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze angelegt. Längerfristig kann er den Verzicht auf unternehmerische Aktivitäten oder die Suche nach Alternativen, wie die Verlagerung von Entwicklungszentren in andere Länder zur Folge haben.

Besonders bei den neu gegründeten Unternehmen wirkt sich ein Fachkräftemangel oftmals durchaus existenzbedrohend – also folgenreicher aus als bei etablierten Branchenriesen. Letztere haben mehr Möglichkeiten, zu rekrutieren und ihre Interessen durchzusetzen.

Präzise Bedarfszahlen können kaum ermittelt werden, weil es sich hierbei um einen äußerst schwer abgrenzbaren Teilarbeitsmarkt handelt. Softwareentwickler werden nicht nur im Herstellerbereich, sondern auf Dauer noch stärker bei den Anwendern in Dienstleistung und Industrie benötigt. Da die zahlreichen kleineren Unternehmen meist auch über schlechtere Artikulationsmöglichkeiten verfügen und zunächst weniger in Verbandsaktivitäten involviert sind, könnte es sein, dass das wahre Ausmaß des Fachkräftemangels in der Öffentlichkeit eher unter- als überschätzt wird.

Wie hilfreich ist die Green Card?

Ist die Green Card geeignet, den Mangel an Know-how im Bereich IT-Techniken/EDV-Entwicklung zu decken? Der wesentliche und zugleich besonders schwierig aufzufüllende Teil der Fachkräfte-Lücke findet sich im sogenannten „Knowledge Gap" zwischen System- und Anwendungswissen. Diese Lücke ist kurzfristig weder durch Umschulung noch durch den Import von Softwareentwicklern zu schließen. Vielmehr ist es erforderlich, langfristig gewachsenes Erfahrungswissen in speziellen Anwendungsfeldern mit IT-Systemwissen zu verbinden.

Dieses Expertenwissen muss vorwiegend in den unterschiedlichsten Formen von komplexer interner und externer Beratungstätigkeit angewendet werden. Diese bedeutsame „Wissenslücke" lässt sich in der Regel auch nur mit Personen aus dem jeweiligen Kulturkreis schließen, da hier in hohem Maße Einfühlungsvermögen in die Denkweise, Methoden und Sprache des jeweiligen Anwendungsgebiets erforderlich ist. Die direkte Arbeit mit dem Kunden setzt Branchen- und Sprachkenntnisse voraus. Reine Softwareentwicklung kann im Vergleich dazu relativ leicht verlagert werden.

Die große Bedeutung dieses Erfahrungswissens zeigt sich auch daran, dass gerade junge Internet- und Multimedia-Unternehmen, die oft erheblich mit den Folgen ihres rasanten Wachstums zu kämpfen haben, seit geraumer Zeit bevorzugt sogenannte VEPs (very experienced persons) suchen. Sie benötigen Unterstützung im Management von Unternehmensprozessen, insbesondere fehlen die „soft skills" wie Kommunikations- und andere Sozialkompetenzen, verbunden mit soliden Kenntnissen der Informationstechnik und ihren Anwendungen.

Fazit

Das nötige Expertenwissen ist nicht nur weltweit knapp, es kann auch aus fachlichen Gründen nicht kurzfristig einfach zugekauft werden. Allein schon deshalb muss die gezielte Anwerbung von IT-Experten aus Nicht-EU-Ländern eine Überbrückungshilfe bleiben. Im Zuge der Globalisierung werden jedoch Belegschaften selbstverständlich internationaler werden und zunehmend vielfältige, multikulturelle Teams entstehen, die die wachsende Internationalisierung und Verflechtung von Märkten und Unternehmen widerspiegeln. Der Austausch und Erwerb von Wissen über Grenzen hinweg ist notwendig und wird wachsen. Hierfür sind unbürokratische Verfahren zu entwickeln.

Mittel- und langfristiger Handlungsbedarf

Da wirtschaftliches Wachstum bereits heute in erster Linie vom Produktionsfaktor „Wissen" angetrieben wird, muss die „Green Card-Debatte" den Auftakt für eine umfassende Mobilisierung der sogenannten Humanressourcen bilden. Um dauerhaft das erforderliche Experten- und Erfahrungswissen heranzubilden, muss IT-Kompetenz auf allen Ebenen des Bildungs- und Ausbildungssystems vermittelt werden.

Wie wir bereits festgestellt haben, liegen die Ursachen der Misere nur zum Teil in der nicht vorhersehbaren Dynamik der Entwicklung: Es sind auch langjährige Versäumnisse von Politik und Wirtschaft zu nennen.

Für die Vernachlässigung unseres Bildungssystems zahlen wir heute einen hohen Preis. Nach wie vor fällt Unterricht in naturwissenschaftlichen Fächern aus. Es fehlen Lehrer mit IT-Kompetenz und technische Ausrüstungen – auch in den Berufsschulen! Dieser Mangel ist mit „Schulen ans Netz" nicht zu beheben, hier bedarf es einer gemeinsamen Anstrengung von Bund und Ländern und eines verstärkten Engagements der Wirtschaft. Der Ausfall von Vorlesungen, überfüllte Hörsäle und die mangelhafte Ausstattung in Bibliotheken und Laboren lassen das von Ministerin Bulmahn zu Recht erstrebte Markenzeichen „Qualified in Germany" in fast allen Studiengängen noch immer außer Reichweite bleiben.

Was muss sich ändern?

Unter anderem muss die Vermittlung von Medienkompetenz und englischen Sprachkenntnissen auf allen Ebenen des Bildungssystems selbstverständlich werden. Die Reform der Studiengänge, darunter Informatik und Mathematik, muss beschleunigt in Angriff genommen werden. Die Kapazitäten der Hochschulen sind so auszubauen, dass kein Numerus Clausus neu eingeführt werden muss. An einer Bildungsoffensive führt jedenfalls kein Weg vorbei!

Nicht verkannt werden darf, dass die Wirtschaft den aktuellen Fachkräftemangel mitverschuldet hat. Als zu Beginn der 90er Jahre die Computerbranche nur langsam wuchs und wenige Arbeitsplätze anbot, halbierte sich die Zahl der Informatikstudenten. In den Unternehmen unterschätzte man die Dynamik des Arbeitsmarkts und sandte die falschen Signale. Statt Wissen vorzuhalten, wurden Arbeitsplätze abgebaut.

Auch die betriebliche Ausbildung wurde vernachlässigt. Sie wird vielfach nicht als Investition, sondern in erster Linie als Kostenfaktor betrachtet. Nach Jahren fehlender Lehrstellen scheint eine Ausweitung des Facharbeitermangels programmiert. Dies zeigt sich deutlich an den Bedarfsmeldungen aus solchen Branchen, die keine gleichermaßen dynamische Entwicklung durchlaufen haben, wie der IT-Bereich. Notwendig ist eine politische Rahmensetzung, die solche Verwerfungen des Ausbildungsmarkts künftig verhindert.

Es kann gegengesteuert werden!

Mit der Entwicklung der neuen IT- und Medienberufe haben die Sozialpartner gezeigt, dass sie in der Lage sind, in kurzer Zeit akzeptierte und zukunftsfähige Ausbildungsordnungen zu schaffen. Bis Jahresende soll ein IT-spezifisches Weiterbildungssystem vorhanden sein, das Maßstäbe für die Gestaltung dieses wichtigen Bereichs beruflicher Qualifizierung setzen dürfte. Es bietet auch Orientierungspunkte für Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit zur Qualifizierung der arbeitslosen EDV-Fachkräfte. Auch aus diesem Grund müssen ihre Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau erhalten werden.

Die Zielvorgaben der Qualifizierungsoffensive, die im Bündnis für Arbeit vereinbart wurden, müssen weiter gesteigert werden.

Zur aktiven Förderung der IT-Qualifikationen ihrer Beschäftigten können die Unternehmen noch mehr tun, wie einige von ihnen beweisen, die z.B. ihren Mitarbeitern Internet und PCs überlassen. Ausgaben für Beschäftigte und ihre Ausbildung sind Investitionen in die Zukunft! Ihre Kreativität, Problemlösungskompetenz und Selbständigkeit müssen sich entfalten können und dürfen nicht durch hierarchische Reglementierung behindert werden.

Zu den Grundlagen einer wissenschaftlichen Ökonomie gehören daher moderne Unternehmensstrukturen, innovative Formen der Arbeitsorganisation und eine neue Unternehmenskultur. Trotz der Veränderungen in vielen Unternehmen ist die Überwindung traditioneller Formen der Arbeitsteilung in Deutschland noch nicht weit genug vorangekommen. Der DGB hat daher ein Aktions- und Innovationsprogramm der Bundesregierung „Zukunft der Arbeit – Unternehmen der Zukunft" vorgeschlagen.

Im Zentrum aller Aktivitäten hat die Verhinderung einer Zweiklassen-Gesellschaft zu stehen. Der „digital divide", die Spaltung der Bevölkerung in solche, die wegen ihrer Ausbildung die Zukunftsmedien nutzen können und in solche, die weder Zugang dazu haben, noch entsprechend ausgebildet sind, ein Hauptproblem der USA, muss durch koordinierte Aktivitäten aller gesellschaftlichen Gruppen verhindert werden. Der Politik kommt dabei eine besondere Verantwortung zu.

In dem Maße, wie die Menschen ihre Chancen in der Informationsgesellschaft erkennen und nutzen können, wächst auch ihre Akzeptanz für die Veränderungen infolge des Strukturwandels und der Globalisierung.

Von der Green Card zum Einwanderungsgesetz

Deutschland - ein Einwanderungsland mit entsprechendem Regelungsbedarf? Was noch vor kurzer Zeit seitens der Politik ungeachtet manch anderslautender Stimme mehrheitlich verneint worden ist, scheint sich im Jahr 2000 anzuschicken, allgemeine Erkenntnis zu werden. Endlich, möchte man aus Sicht der Wissenschaft hinzufügen. Endlich werden Scheuklappen auch dort gelockert, wo sie bislang einer sachlichen Diskussion um Zuwanderungsbedarf und Zuwanderungsgesetzgebung im Weg standen.

Zu danken ist diese veränderte Ausgangslage der sogenannten „Green-Card"-Initiative des Bundeskanzlers. Gewiss, sie selbst ist kaum dazu geeignet, wie ein Befreiungsschlag den gordischen Knoten zu zerschlagen, der sich in Deutschland würgend um das Thema Immigration gelegt hat, trägt sie doch in Form mancher Restriktion den Einwänden der Bedenkenträger Rechnung. In Wahrheit ist sie nicht mit der gleichnamigen Karte amerikanischen Ursprungs, die einen dauerhaften Aufenthalt sichert, zu vergleichen. Dennoch ist sie ein richtungsweisender Schritt, der bislang nahezu undenkbar schien, nun aber den Startschuss für eine hoffentlich unaufgeregte Debatte um das Für und Wider zuwanderungsgesetzlicher Regelungen gegeben hat.

Zentrum der Wanderungsbewegung

Die Fakten sprechen eine eindeutige Sprache. Deutschland hat zu Beginn der neunziger Jahre mehr Zuwanderer und Flüchtlinge aufgenommen als die klassischen Einwanderungsländer USA, Kanada und Australien zusammen. Nach wie vor steht die Bundesrepublik im Zentrum der Wanderungsbewegungen nach Westeuropa. Zwar haben sich die Zuzugszahlen nicht zuletzt aufgrund rechtlicher Veränderungen reduziert, dennoch reisen weit mehr Zuwanderer nach Deutschland ein als in alle übrigen EU-Staaten.

Es wäre jedoch falsch, die große Zahl der Einreisen zum alleinigen Maßstab der Bewertung zu machen. In jüngster Zeit ist zu beobachten, dass mehr Ausländer Deutschland verlassen als einreisen - der um deutsche oder deutschstämmige Einreisende bereinigte Wanderungssaldo ist zuletzt negativ ausgefallen. Diese hohe Fluktuation ist durchaus typisch für ein Einwanderungsland wider Willen.

Bemerkenswerterweise greifen nur dort de facto zuwanderungsgesetzliche Bestimmungen, wo man sie am wenigsten erwarten würde: bei der Einreise deutschstämmiger Spätaussiedler. Sie unterliegt einer - jüngst auf 100000 halbierten - jährlichen Höchstquote und wird zusätzlich über das Auswahl-Instrument von Sprachprüfungen gelenkt. Allein dieser Umstand wäre Anlass genug zum Nachdenken darüber, ob ein ähnlicher Mechanismus nicht für den gesamten Bereich der Zuwanderung gelten sollte.

Dies führt zunächst zu der Frage nach dem Zuwanderungsbedarf. Er ist angesichts dauerhaft hoher Arbeitslosigkeit schwer vermittelbar. Dennoch ist er gegeben - und zwar längst nicht nur in der Informationstechnologie. Der deutsche Arbeitsmarkt hat ein Kardinalproblem: er weist zur gleichen Zeit sowohl eklatante Arbeitslosigkeit als auch spürbaren Arbeitskräftemangel auf. Der übergroße Teil der gegenwärtig Arbeitslosen zählt zu den geringer Qualifizierten oder Ungelernten. Deren Arbeitslosigkeit ist in alarmierende Höhen gestiegen. Demgegenüber herrscht bei gesuchten Fachkräften in Maschinenbau, Chemie, Biotechnologie, in der IT-Branche oder den Pflegeberufen eine Mangelsituation. Dass sie gleichwohl nicht zur völligen Räumung des Arbeitsmarktes führt, sondern nach wie vor eine - wenn auch vergleichsweise sehr niedrige - Arbeitslosigkeit belässt, ist auf Beschränkungen bei der räumlichen Mobilität, auf zu wenig transparente Vermittlungsstrukturen, aber eben auch hier auf Qualifikationsdefizite zurückzuführen.

Defizite des Ausbildungssystems

Unser duales Ausbildungssystem sowie die universitäre Bildung haben sich zwar im Ganzen bewährt und Deutschland über lange Jahre eine Spitzenposition gesichert, doch inzwischen laufen sie Gefahr, mit der rasanten Dynamik der Entwicklung nicht mehr Schritt zu halten. Die Reaktionszeiten der Ausbildung sind zu träge, ihre Berufsbilder hinken der Realität hinterher. Gleichzeitig taucht die Tendenz auf, immer spezieller auszubilden und der Kurz- vor der Langfristigkeit den Vorzug zu geben. Den betriebsspezifisch optimal einsetzbaren Mitarbeiter passgenau und rasch dem Ausbildungsbetrieb entnehmen zu können, das mag unter Kostengesichtspunkten ein zunächst einleuchtendes Kalkül sein. Doch es übersieht, dass der Spezialist von heute bereits morgen nur noch eingeschränkt verwendbar sein kann, wenn es ihm an der umfassenden Grundlage fehlt, Neues aufnehmen und verarbeiten zu können.

Das Tempo des Fortschritts in der Informations- und Kommunikationstechnologie lässt Spezialwissen schnell veralten. Hinzu kommt, dass die Wissensverengung unweigerlich eine Einschränkung der beruflichen Mobilität nach sich zieht. Der betriebsspezifisch ausgebildete, von Freisetzung betroffene Arbeitnehmer wird es schwerer haben, anderswo einen adäquaten Arbeitsplatz zu finden als derjenige, der auf einen breiteren Ausbildungsfundus zurückgreifen kann.

Die universitäre Ausbildung dauert im internationalen Vergleich zu lang. Sie hat sich unter dem Diktat leerer Kassen und bürokratischer Zwänge als zu wenig flexibel erwiesen. Dass noch vor wenigen Jahren einem Ingenieur- oder Informatikstudium schlechte Aussichten beigemessen wurden, erweist sich heute als fatal. Dass Englisch als Lehrsprache an deutschen Hochschulen nach wie vor ein Randdasein fristet, zeugt nicht von Weitsichtigkeit - und schränkt im Übrigen die Attraktivität des Studienstandortes Deutschland ein. Dabei sollte es in unserem eigenen Interesse liegen, diese Attraktivität bestmöglich auszugestalten statt sie ausländerrechtlich zu beschneiden. Ein Studium in Deutschland ist die Basis für wichtige Netzwerkstrukturen, von denen die deutsche Wirtschaft im internationalen Geschäft profitieren kann; ganz abgesehen davon, dass ausländische Studierende nach ihrem Studium in Deutschland bleiben können sollten, wenn es dem Arbeitsmarkt nützt (damit wir sie nicht später, und dann vielleicht vergeblich, per Green Card oder Zuwanderungsgesetz wieder ins Land einladen müssen).

Zumindest vier Überlegungen ergeben sich aus dieser Diagnose: Zum einen muss der berufsbegleitenden Weiterbildung ein noch viel größeres Gewicht zukommen, als dies gegenwärtig der Fall ist. Dort, wo ihr Wert unterschätzt wird, tritt nahezu unweigerlich Dequalifikation ein. Zweitens müssen Umschulungsmaßnahmen intensiviert werden, um Fehlqualifizierten neue Chancen zu eröffnen. Zum dritten wird die Ausbildung generell wieder mehr Wert auf die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen legen müssen, die ein solides Fundament für den „Aufbaukurs Spezialwissen" gründen. Dazu gehören neben sozialen, interkulturellen und Sprachkompetenzen vor allem Entscheidungs- und Teamfähigkeit sowie strategisches Denken. Viertens schließlich führt kein Weg daran vorbei, diesen günstigstenfalls mittelfristig wirksamen Maßnahmen eine intelligente, bedarfsangepasste Zuwanderung von Arbeitskräften an die Seite zu stellen, um akute Lücken zu schließen, die sich ansonsten zum Nachteil der gesamten Volkswirtschaft auswirkten. Das Beispiel der IT-Branche zeigt nicht zuletzt, wie wichtig die Besetzung hochqualifizierter Arbeitsplätze für die Perspektiven gering qualifizierter Arbeitsuchender ist. Im Umfeld eines jeden IT-Arbeitsplatzes entstehen mehrere Jobs für Zulieferer aller Art. Bliebe der Arbeitsplatz unbesetzt, litte darunter nicht nur die Produktivität des betroffenen Unternehmens, sondern auch der Arbeitsmarkt insgesamt.

Fehlende Bestandsaufnahme

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der deutschen Einwanderungssituation, dass sie zwar unleugbar gegeben ist und sich inzwischen - spät, aber immerhin - auch in einem veränderten Staatsangehörigkeitsrecht ausdrückt, aber bislang nicht zu einer systematischen Bestandsaufnahme des tatsächlichen Zuwanderungsbedarfs geführt hat. Wohl gibt es stark schwankende Angaben der Verbände, aber keine bundesweit systematisierte Erfassung der Bedarfssituation. Der Fachkräftemangel in der Informatikbranche ist vor allem deshalb so augenscheinlich, weil hier die Rasanz der wirtschaftlichen Entwicklung förmlich mit Händen zu greifen ist. Zahllose kleine und mittlere Unternehmen wollen binnen kurzer Zeit expandieren, boomende Märkte erobern und ihren Personalbestand nicht selten vom einen auf den anderen Tag vervielfachen. Ist dieser Bedarf nicht zu decken, resultiert daraus unvermeidlich ein Wettbewerbsnachteil, ein Knick in der Geschäfts- und Beschäftigungsentwicklung. Denn die Nichtverfügbarkeit von Fachpersonal gefährdet auch bestehende Arbeitsplätze. Hierauf zu reagieren, war überfällig. Doch auch in den genannten anderen Branchen, in denen vielleicht derzeit nicht eine derart starke Expansion auf der Tagesordnung steht, sollte er auf pragmatische Weise gedeckt werden können.

Dass dies nicht durch immer neue unechte „Green Cards" nach dem Motto „first come, first served" geschehen kann, leuchtet ein. Ohnehin bleibt abzuwarten, ob die vielgenannten indischen EDV-Spezialisten einen Aufenthalt in Deutschland, verglichen mit den tendenziell attraktiveren Bedingungen in den USA, Kanada oder auch Großbritannien, überhaupt in nennenswerter Zahl anstreben werden. Wir werden um die Besten regelrecht werben müssen. Dafür erweisen sich unser Steuer- und Abgabensystem, die Konzentration auf temporäre Migranten und unsere restriktiven Vorstellungen vom Familiennachzug als gravierender Standortnachteil.

Um so dringender erscheint es, ein in sich schlüssiges Gesamtpaket zu schnüren, das Transparenz nach innen und außen, Berechenbarkeit und Kontinuität miteinander verbindet. An seinem Beginn muss eine systematische Erfassung des gegebenen Zuwanderungsbedarfs unter Arbeitsmarkt- und demographischen Gesichtspunkten stehen. Hierfür dürfte die Einsetzung einer Fachkommission unerlässlich sein. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass Zuwanderung die Bewältigung des bevorstehenden demographischen Wandels nur flankieren kann. Der Überalterungsprozess ist derart gravierend, dass er durch Zuwanderung allein keinesfalls aufgefangen werden kann, soll sie nicht in einem Ausmaß erfolgen, das das Gesicht der Gesellschaft stark verändern würde. Die Arbeitsmarktbelange sollten bei der Bemessung des Zuwanderungsbedarfs im Vordergrund stehen.

Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, eine Quotierung der Zuwanderung setze bestehende Einreiserechtsansprüche außer Kraft. Das Beispiel der Einreisemodalitäten für Spätaussiedler zeigt, dass sehr wohl rechtliche Garantien mit Quotierungen verknüpft werden können. Dies könnte analog auch für den Familiennachzug gelten, so dass bei ausgeschöpfter Quote ein Rechtsanspruch erst zu Beginn des Folgejahres einlösbar wäre. Demgegenüber kann die Gewährung von Asyl naturgemäß nicht quotiert werden.

Zuwanderung von Arbeitskräften

Aus ökonomischer Sicht ist entscheidend, welche Modalitäten für die Einreise von Arbeitskräften gefunden werden, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt nachgefragt werden. Für sie müssen separate Quoten und flexible Mechanismen greifen, die verhindern, dass über Bedarf eingereist wird. Ändert sich die Arbeitsmarktsituation, muss die Quotierung entsprechend niedriger angesetzt werden und könnte somit durchaus auch einmal bei Null liegen. Steigt der Bedarf, kann die Quote heraufgesetzt werden. Echte Green Cards mit permanentem Aufenthaltsrecht könnten im Rahmen der Quotierung analog zum kanadischen Punktesystem aufgrund langfristiger Kriterien wie Sprachkenntnisse, Alter und Ausbildung gewährt werden. Es versteht sich von selbst, dass in diesem Zusammenhang die bestehenden arbeitserlaubnisrechtlichen Barrikaden geschleift werden müssen und auch die Möglichkeit vorgesehen werden sollte, bereits im Land lebende Zuwanderer mit unsicherem Aufenthaltsrecht aufgrund einer Bedarfssituation nachträglich zu dauerhaften Immigranten zu „befördern".

Die volkswirtschaftlich überzeugendste Lösung für temporäre Zuwanderungen wäre ein Auktionsmodell, bei dem unterhalb einer Obergrenze zeitlich begrenzte Einwanderungsvisa und Arbeitserlaubnisse an Firmen versteigert werden. Sie erwürben damit die Möglichkeit, sich am Weltmarkt unkonventionell Fachkräfte zu suchen. Das Problemthema Lohndumping wäre schnell vom Tisch, denn Unternehmen würden das Anwerberecht bezahlen müssen. Der Markt würde rasch die Segmente identifizieren, in denen tatsächlich Knappheit vorliegt. Das wäre allemal besser, als dies der lokalen Arbeitsverwaltung zu überlassen. Verschiedene Laufzeiten wären denkbar, die Auktionserlöse könnten sowohl in das heimische wie auch in Form von Entwicklungszusammenarbeit in das Ausbildungssystem der Herkunftsländer fließen.

Wenn die Politik sich nicht zu umfassenden und doch pragmatischen Lösungen versteht, wird eine zusehends global vernetzte Wirtschaft Auswege suchen und finden. Produktionsprozesse dürften dann noch verstärkt ins Ausland verlagert werden. Die „virtuelle Migration" würde zusätzlich angefacht und Arbeitsplätze sowie mit ihnen Steuern, Sozialabgaben und Konsumbeteiligung via Internet „entführen". Eine vernünftige Regelung der Zuwanderung anhand ökonomischer Kriterien ist deshalb - national wie europäisch - ein arbeitsmarktpolitisches und gesellschaftliches Gebot ersten Ranges.

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