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In der Juliausgabe veröffentlichte der Wirtschaftsdienst einen Aufsatz von Georg Erber mit dem Titel „Irrungen und Wirrungen mit der Leistungsbilanzstatistik“. Dazu äußert sich Jan Priewe kritisch. Anschließend stellt Georg Erber in einer Erwiderung seine Sicht dar.

Anmerkungen zu „Irrungen und Wirrungen mit der Leistungsbilanzstatistik“ von Georg Erber

Von Jan Priewe

Georg Erbers Aufsatz1 trägt ungewollt zu den im Titel angeführten Irrungen und Wirrungen bei; so oder so ähnlich sind sie weit in den Medien, in der Politik, aber auch teilweise in der Wissenschaft verbreitet. Im ersten Satz wird behauptet, die „Leistungsbilanz sei ein wichtiger Indikator für die internationale Wettbewerbsfähigkeit“ (S. 465). Ferner „können Defizite in der Leistungsbilanz als Folge von Überschüssen in der Kapitalbilanz interpretiert werden“ (ebenda). Andererseits wird das Gegenteil gesagt: „Überschüsse in der Leistungsbilanz führen zu einem Kapitalexport in andere Länder, wo sich … höhere Renditen erwirtschaften lassen (S. 467) und „Im Wesentlichen wird der Handelsbilanzsaldo von Unterschieden in der Wachstumsdynamik der jeweiligen Länder bestimmt“ (S. 469).

Leistungsbilanzüberschüsse an sich, so der Autor, seien unproblematisch, insbesondere im Fall Deutschlands und der Eurozone: „Allein die vorhandenen Ungleichgewichte in den Salden zeigen keine Fehlentwicklungen auf“ (S. 470). Alles sei „viel Lärm um nichts“. Wenn Probleme auftauchen, sind es allein die Defizitländer, die Kapitalzuflüsse nicht produktiv verwenden anstatt dem Rat des Autors zu folgen: „Es hilft den Ländern, die Kapital importieren, sich schneller zu entwickeln“ (S. 470).

Bei der Beurteilung der deutschen Überschüsse wird auf bilaterale Salden gegenüber den Defizitländern in der Eurozone abgestellt, und diese seien unbedeutend. Für Deutschland als seit 100 Jahren erfolgreiche Exportnation gelte: „Im Gegenzug exportiert es Kapital in die übrige Welt, wo vergleichsweise Kapitalmangel herrscht“ (ebenda). Es gäbe folglich kein Problem mit der Konstruktion der Europäischen Währungsunion (EWU), denn „die Eurokrise ist vorrangig hausgemacht“ (ebenda). Am Ende überkommen den Autor aber Zweifel: „Eher ist denjenigen, die leichtfertig Kapital nach Griechenland exportierten, vorzuwerfen, dass sie sich zu wenig um den sinnvollen Einsatz der Mittel Gedanken gemacht haben“ (ebenda.) Dann gibt es also doch gefährliche Kapitalexporte?

Da die Beurteilung der Leistungsbilanzsalden in der Eurozone von zentraler Bedeutung für die Therapie der Eurokrise und das Überleben der EWU ist, sollen sieben kritische Punkte knapp angeschnitten werden.

  1. Ist der Leistungsbilanzsaldo wirklich ein Indikator der internationalen Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften?
  2. Inwiefern können „Kapitalexporte“ Leistungsbilanzsalden erklären?
  3. Wann sind Leistungsbilanzsalden, insbesondere in der Eurozone problematisch?
  4. Wie sind bilaterale Salden zwischen Deutschland und den Defizitländern in der EWU, die als Argument für die Unschädlichkeit deutscher Überschüsse benutzt werden, zu beurteilen?
  5. Ist die produktive Verwendung von Kapitalströmen in der alleinigen Verantwortung der Defizitländer?
  6. Welche Rolle spielen Wachstumsdifferenzen für die Entstehung von Leistungsbilanzsalden?
  7. Wie ist der Zusammenhang zwischen Leistungsbilanzsalden und möglichen Konstruktionsfehlern der EWU?

Leistungsbilanz und internationale Wettbewerbsfähigkeit

Was immer man unter dem Begriff der internationaler Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft versteht, Leistungsbilanzsalden sind kein guter Indikator. Ein Land, das nur langsam oder gar nicht wächst oder in eine Rezession abgleitet, wird wenig importieren und bei höherem Wachstum im Rest der Welt eventuell hohe Leistungsbilanzüberschüsse aufweisen. Protektionismus, Kapitaleinfuhrkontrollen, reale Unterbewertung des Wechselkurses durch spezielle Wechselkursregimes, Booms bei Ölpreisen oder anderen Rohstoffen können ebenfalls zu Leistungsbilanzüberschüssen führen. Nur insoweit Leistungsbilanzsalden durch über- oder unterbewertete reale Wechselkurse beeinflusst sind, sagen sie etwas über die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen eines Landes aus.

Da sich der reale effektive Wechselkurs der Überschuss- und Defizitländer in der Eurozone seit 1999 ebenso wie die Preisniveaus und das Wachstum der nominalen Lohnstückkosten massiv auseinander entwickelt haben, dürfte dieser – sehr problematische – Grund einen großen Teil der Leistungsbilanzungleichgewichte erklären (stellvertretend für die Divergenzen vgl. Abbildung 1 und 2). Wenn die Defizite der GIIPS-Länder2 mit schwacher relativer Wettbewerbsfähigkeit zu tun haben, dann muss es sich folglich um ein symmetrisches Problem der realen Über- bzw. Unterbewertung der Defizit- und der Überschussländer handeln und somit Ausdruck einer Fehlentwicklung in der Eurozone sein.

Abbildung 1
Verbraucherpreisindex in GIIPS-Ländern gegenüber Deutschland
Index 1999 = 100
30045.png

Quelle: World Bank, World Development Index, 2012.

Abbildung 2
Nominale Lohnstückkosten in Euro
Index 2000 = 100
30055.png

Anmerkung: Großbritannien, USA und Japan in nationaler Währung.

Quellen: Ameco (letztes Update 11.5.2012); Schätzung EU-Kommission für 2012 und 2013.

Kapitalexporte und Leistungsbilanzdefizite

Der überwiegende Teil von sogenanten Kapitalexporten sind Bruttokapitalexporte und damit reine Finanztransaktionen, die den Kapitalbilanzsaldo und die Leistungsbilanz nicht tangieren. Sie erzeugen automatisch eine Gegenbuchung in der Kapitalbilanz.3 Die Frage ist also, wie es zu Nettokapitalexporten, denen dann Leistungsbilanzdefizite gegenüberstehen, kommt. Die Saldenmechanik zeigt nur eine Identität der Salden, keine Kausalität. Höhere Renditeerwartungen im Ausland erzeugen per se keinen Nettokapitalexport. Der Begriff Kapitalexport ist missverständlich, denn er bezieht sich in der Zahlungsbilanz lediglich auf die Zunahme von Forderungen bzw. Abnahme von Verbindlichkeiten gegenüber dem Rest der Welt. Wenn eine Ware im Tausch gegen Devisen oder per Kreditzahlung exportiert wird, wird eine Forderungszunahme in der Kapitalbilanz, die als „Kapitalexport“ erscheint, gebucht.

Nettokapitalexporte können logischerweise allein durch die Kapitalbilanz nicht erklärt werden. Sie bzw. Leistungsbilanzüberschüsse entstehen im Kern dann, wenn ein Land einen Wettbewerbsvorteil gegenüber dem Rest der Welt hat oder langsamer als der Rest der Welt wächst; letzteres hat Georg Erber richtig dargestellt, ersteres ausgeklammert. In beiden Fällen ist vorausgesetzt, dass sich die Importeure die notwendigen Zahlungsmittel beschaffen können. Bei konvertibler Währung kann dies auch durch Umtausch nationaler Ersparnisse (oder durch Kreditaufnahme geschaffener Finanzierungsmittel) in Fremdwährung geschehen, was ceteris paribus mit Abwertung und tendenziell geringem Leistungsbilanzdefizit verbunden ist.

Bruttokapitalimporte können nun eine Zunahme von Zahlungsmitteln bewirken, die zu mehr Einnahmen führen und, sofern diese nicht gespart werden, für Konsum oder Investitionen oder Staatsausgaben verwendet werden. Dann wird entsprechend der bestehenden Importneigung auch mehr importiert. Kauft ein Deutscher eine Immobilie oder eine Aktie in Spanien und zahlt mit Bargeld oder Bankkredit von einer deutschen Bank, ändert sich zunächst der Saldo der Kapitalbilanz in Deutschland und in Spanien nicht. Erst wenn mit dem Zahlungsmittelzufluss mehr aus Deutschland importiert würde, entstünden Änderungen in den Salden.

Gute versus schlechte Leistungsbilanzsalden

Es gibt eine umfangreiche und kontroverse Diskussion über „gute“ und „schlechte“ Leistungsbilanzsalden.4 Um die konkurrierenden Auffassungen anzuführen:

  • Überschüsse und Defizite sind aus neoklassischer Sicht Ausdruck intertemporaler Kapitalallokation.
  • Ebenfalls aus neoklassischer Sicht fließt produktives Kapital bei vollkommener Kapitalmobilität von Ländern mit hoher in solche mit geringerer Kapitalausstattung, weil die Grenzproduktivität des Kapitals bei letzteren höher ist. Demnach wären Kapitalbilanzsalden, die durch Direkt­investitionen im Ausland entstehen und dort zu höherem Wachstum führen, und nur diese, produktiv und „fundamental“ gerechtfertigt.
  • Nettokapitalströme, die direkt oder indirekt die Investitionsquote sowie die Exportfähigkeit des Defizitlandes erhöhen, sind positiv zu bewerten, solche, die kon­sumsteigernd sind oder spekulative Vermögenspreisblasen befeuern, negativ. Auch jene, die überwiegend staatliche Budgetdefizite finanzieren und zu nicht-nachhaltiger Staatsverschuldung führen, sind in Form von „twin deficits“ kritisch zu sehen.
  • Kapitalströme, die auf Divergenz der preislichen Wettbewerbsfähigkeit beruhen und ihre Ursache in realer Unter- bzw. Überbewertung des Wechselkurses haben, sind gefährlich und führen über kurz oder lang zu Überschuldung und Zahlungsbilanzkrisen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Kapitalexporte selbst Aufwertungen in den Kapitalimportländern verursachen können (z.B. in der Schweiz oder in Brasilien in den letzten Jahren).
  • Nettokapitalexporte, die im Überschussland auf mangelnder Inlandsnachfrage und geringen Importen bei Unterauslastung von Kapital und Arbeit beruhen, sind Ausdruck von „Beggar-thy-neighbour-Politik“, also im Kern neo-merkantilistisch, und daher für das Defizitland und eventuell auch für das Überschussland schädlich.

Hier ist nicht der Ort, die verschiedenen Thesen im Detail zu diskutieren. Aber in allen Varianten müssten „gute“ Kapitalimporte für das Defizitland, das früher oder später zum Nettoschuldnerland wird, dauerhaft tragbar sein. Steigt die Nettoschuldnerposition unaufhörlich an oder überschreitet ein kritisches Niveau, wird es irgendwann zu einer Umkehr kommen. Der entscheidende Punkt ist nun, dass die Umkehr häufig mit schweren Zahlungsbilanzkrisen verbunden ist. In einer Währungsunion müssen „interne Abwertungen“ über Lohn- und Preisdeflation erfolgen; in der Regel ist dies mit steigenden Realzinsen verbunden, die zur Insolvenz von Banken und Staaten führen können. Die Eurokrise bietet Lehrbuchbeispiele für schädliche Kapitalströme, die nicht nachhaltig sind. Es geht dabei nicht nur um die „produktive“ Verwendung von Kapitalzuflüssen, sondern auch um deren Umfang, da dieser durch die Kumulation den Bestand an Nettoauslandsverschuldung eines Landes bestimmt. In der Eurozone haben sich die internationalen Nettovermögenspositionen krass auseinander entwickelt (vgl. Abbildung 3).

Abbildung 3
Internationale Nettovermögensposition
in % des BIP
30113.png

Quelle: Eurostat, 10.8.2012.

Bilaterale Leistungsbilanzsalden

Richtig ist, dass die Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands und anderer Überschussländer in der Eurozone überwiegend nicht gegenüber den kleinen Defizitländern wie Griechenland, Portugal oder Irland erzeugt werden. Allerdings müssen zusätzlich indirekte bilaterale Defizite berücksichtigt werden, wie sie z.B. entstünden, wenn Deutschland einen bilateralen Überschuss gegenüber Österreich oder Frankreich hat, diese wiederum bilaterale Überschüsse gegenüber südeuropäischen Ländern. Deutschland hatte beispielsweise 2008 (bei einem Leistungsbilanzüberschuss von 6,2% des BIP) 62,3% seines Leistungsbilanzüberschusses mit Ländern der Eurozone, 30,4% mit den GIIPS-Ländern und 83,8% mit EU-Ländern.5 2008 bestand immerhin ein Viertel des spanischen sowie des portugiesischen Leistungsbilanzdefizits gegenüber Deutschland, in Italien waren es knapp 40%, in Griechenland indessen nur 11,2% (Irland hatte gegenüber Deutschland einen kleinen Überschuss).6 Damit sind zumindest für Italien, Spanien und Portugal die direkten bilateralen Leistungsbilanzdefizite gegenüber Deutschland keineswegs unerheblich.

Jedoch haben bilaterale Salden keine makroökonomische Aussagekraft für die Leistungsbilanz eines Landes. Österreich hat ein Defizit gegenüber Deutschland, ist aber ein Überschussland. Griechenland hat Defizite gegenüber fast allen Ländern, mit denen es handelt. Die EWU-Defizitländer haben eben ein schwerwiegendes Wettbewerbsproblem, weil sie systematisch real und effektiv gegenüber vielen Ländern überbewertet sind, genauso wie Deutschland umgekehrt unterbewertet ist.

Zu Recht schreibt Georg Erber, dass die ausgeglichene Leistungsbilanz der Eurozone täuscht. Sie resultiert einerseits aus großen internen Ungleichgewichten, andererseits haben alle Defizit- bzw. Überschussländer auch große Defizite bzw. Überschüsse gegenüber dem Rest der Welt. Die EWU ist schließlich massiv in die globale Handels- und Kapitalverflechtung einbezogen und damit sind die internen Ungleichgewichte Teil der viel diskutierten globalen Ungleichgewichte (vgl. Abbildung 4). Die Defizitländer haben also ein massives Wettbewerbsproblem gegenüber vielen Ländern, und es wäre in der Tat einseitig, nur Deutschland zu inkriminieren. Wichtiger ist aber, dass der effektive Wechselkurs des Euro, der sowohl von den europäischen Überschuss- wie den Defizitländern beeinflusst ist, weder zum exportschwachen Griechenland noch zum exportstarken Deutschland passt. Selbst wenn alle Überschüsse und Defizite der Überschuss- und Defizitländer der EWU allein gegenüber Nicht-EWU-Ländern aufträten, also die bilateralen Salden Null wären, gäbe es dieses Problem. Hier kann nicht diskutiert werden, was der fundamental richtige Gleichgewichtswechselkurs ist. Legt man aber gleiche Maßstäbe an, lässt sich nicht behaupten, die europäischen Überschussländer hätten einen fundamental bestimmten – also gleichgewichtigen und damit nachhaltigen – realen Wechselkurs und die Defizitländer nicht.

Der Einfluss der Überschussländer in der EWU, namentlich Deutschlands, auf die Defizitländer in der EWU zeigt sich weniger in den bilateralen Leistungs- als in den bilateralen Kapitalbilanzen. Diese sind nur in einem Zweiländer-Modell kongruent. Obwohl Deutschland beispielsweise nur einen relativ kleinen Leistungsbilanzüberschuss gegenüber Griechenland hat, ist es ein wichtiges Gläubigerländer für Griechenland.7

Die Überschussländer können Defizitländer in der EWU über ihre überlegene preisliche Wettbewerbsfähigkeit indirekt in eine Defizitposition hineindrücken und dort halten. Es ist für schwache Länder eben schwierig, mit der überlegenen deutschen Konkurrenz mitzuhalten. Im freien Binnenmarkt ist Industriepolitik nicht vorgesehen, um nachholend zu industrialisieren bzw. eine hinreichende Exportbasis aufzubauen. Wenn im Überschussland die Wachstumsrate der Lohnstückkosten und Preise unter der Zielinflation der EZB liegt, und im Defizitland darüber, und wenn es keine geldpolitischen Mechanismen zur Vermeidung von Inflationsdifferenzen gibt, dann sind auch Überschussländer ebenso wie die europäische Politik des Ignorierens von Inflationsdifferenzen Teil des Problems. Griechenland und Portugal sind in der Währungsunion in einer Position wie einst die neuen Bundesländer gegenüber den alten. Der Unterschied ist, dass in der EWU die Migration gering ist, statt Transferzahlungen Auslandsverschuldung aufgebaut wird und die Divergenzen kumulativ in kleinen Schritten ausgebaut wurden. Im Übrigen sind gerade Griechenland und Portugal bereits mit Leistungsbilanzdefiziten in die Währungsunion eingetreten. Bis auf den heutigen Tag klammern die Konvergenzkriterien Leistungsbilanzsalden von Beitrittskandidaten aus.

Abbildung 4
Globale Leistungsbilanzungleichgewichte1
in Mrd. US-$
30169.png

1 Teilweise Schätzungen (IMF) über 2009 bis 2011, Prognosen ab 2012.
2
Ab 2004 inklusive Irak.

Quellen: IMF, WEO April 2002, eigene Berechnungen.

Was bestimmt die Verwendung von Kapitalimporten?

Die These, dass Kapitalex- und -importe per se gut sind, solange sie „produktiv“ im Kapitalimportland verwendet werden, hört man häufig. Wenn es zu Krisen kommt, sind folglich immer die Defizitländer Schuldner und Schuldige zugleich. Übertragen auf nationale Kapitalströme hieße es, dass bei Bankenkrisen immer die Schuldner, etwa die Hauskäufer in den USA, allein an der Krise schuld sind – zweifellos eine fragwürdige Aussage.

Bezieht sich das Argument der guten oder schlechten Verwendung von Kapitalzuflüssen im Kapitalimportland auf die Bruttoströme, dann ist damit nichts über die Leistungs- bzw. Kapitalbilanzsalden ausgesagt. Bezieht sich das Argument auf Nettoströme, sind folgende Fälle zu unterscheiden. Käme es im Kapitalimportland zu „produktiver“ Verwendung im Sinne von Exportförderung oder Importsubstitution, würden Leistungsbilanzdefizite wie -überschüsse abschmelzen, ergo wären hohe Salden Indikatoren für eine unproduktive Verwendung. Bezieht sich „produktive“ Verwendung auf die Erhöhung des BIP-Wachstums, könnten die Leistungsbilanzdefizite zwar absolut zunehmen, aber relativ zum BIP konstant bleiben oder gar abnehmen – je „produktiver“, desto geringer der Saldo relativ zum BIP. Ob die Defizite dauerhaft tragbar sind, wäre jedoch zu prüfen. Wenn die Verwendung sich auf Immobilien, privaten Konsum oder Staatsausgaben, die ja überwiegend konsumtiv sind, bezieht, kann dies vorübergehend zu mehr Wachstum führen und erst jene Wachstumsdifferenz erzeugen, welche die Leistungsbilanzsalden eigentlich erklären sollen. Die Wirkung würde zur Ursache erklärt. Erhöhen sich infolge des Kapitalexports die Vermögenspreise in den Defizitländern, etwa Aktienkurse oder Immobilienpreise, ist mit indirekten temporären Wirkungen auf Konsum und Wohnungsbauinvestitionen, eventuell auch auf „produktive“ Anlageinvestitionen zu rechnen. Insgesamt gilt wohl: je „produktiver“ die Verwendung der Kapitalzuflüsse, desto geringer das Leistungsbilanzdefizit relativ zum BIP (und umgekehrt).

Was motivierte deutsche (und andere) Kapitalexporte in die Defizitländer? Nominalzinsdifferenzen können es nicht gewesen sein, weil die Europäische Zentralbank einheitliche Zinsen am kurzen Ende setzt, die über integrierte europäische Kapitalmärkte in nahezu einheitliche langfristige Zinsen übersetzt wurden. Es war eine Binnenmarktillusion, die die Möglichkeit von schädlichen Leistungsbilanzungleichgewichten zwischen den Mitgliedsländern, trotz gemeinsamer Währung der Nationalstaaten, verdrängte. Leistungsbilanzsalden wurden von den Finanzinvestoren ähnlich wie von Georg Erber unkritisch betrachtet. Im Kern gibt es dann nur drei mögliche Gründe für Nettokapitalexporte in die Defizitländer:

  • Wachstumsdifferenzen in der Eurozone könnten produktive Nettoströme von Gütern und Kapital stimuliert und die Wachstumsunterschiede verstärkt haben;
  • spekulative Renditeerwartungen in den Defizitländern bei Vermögenspreisinflation könnten Bruttokapitalimporte induziert haben, die Einnahme- und (konsumlastige) Nachfragezuwächse und damit mehr Importe nach sich zogen;
  • Divergenz der Wettbewerbsfähigkeit infolge auseinander driftender Preis- und Lohnentwicklungen, so dass bei realer Über- bzw. Unterbewertung der Währung Nettoimporte bzw. Nettoexporte induziert wurden.

Wahrscheinlich haben alle drei Motive eine wichtige Rolle gespielt. Über die unmittelbare Verwendung der Kredite bestimmen die Kapitalgeber. Sie waren es, die faktisch teilweise riskante Investments getätigt und in Ländern massiv angelegt haben, die heute als unsolide angesehen werden. Die Vorstellung, „Kapital“ sei eine amorphe Finanzmasse, die in einen großen Topf geworfen wird und von den Empfängern nach Belieben verwendet werden kann, ist irreführend. Empirische Untersuchungen zu den Wirkungen von Kapitalimporten in Schwellenländern zeigen, dass Bruttozuflüsse ähnlich wie die inländische Nachfrage verwendet werden, also stark konsumlastig sind.8

Für jegliche wirtschaftliche Transaktion, für inländische ebenso wie für grenzüberschreitende Kapitalströme, sind Geber und Empfänger, Gläubiger und Schuldner, verantwortlich, sowohl für die Entstehung der Transaktionen als auch für deren Folgen. Ordnungspolitisch müssten das Verursacher- und das Haftungsprinzip gelten. Damit wären Überschuss- und Defizitländer gleichermaßen beteiligt.

Summa summarum bleibt vom Verwendungsargument nicht viel übrig. Richtig ist daran jedoch (was vom Autor aber ausgeklammert wird), dass die Inflation weder in den Überschuss- noch in den Defizitländern, also auf der Entstehungs- und Verwendungsseite der Nettokapitalflüsse hinreichend kontrolliert wird. Hier liegt ein institutionelles Defizit.9 Die EZB sieht sich für die Eurozone insgesamt zuständig, nationale Geldpolitik existiert nicht mehr, Inflationsdifferenzen sind möglich. Selbst kleine, jedoch anhaltende Inflationsdifferenzen in der Größenordnung von zwei Prozentpunkten können zu starken Divergenzen der Preisniveaus kumulieren. Sie übertragen sich in prozyklische Realzinsdifferenzen, in nominale Lohnstückkostenspreizung und ein Auseinanderdriften der realen effektiven Wechselkurse, schließlich in eine faktische Spaltung der EWU. Dass die Inflationsabweichung nach oben in den Defizitländern größer als die nach unten in den Überschussländern war, kann man nicht einfach als hausgemachtes Problem der GIIPS-Länder abtun. Es ist ein systemisches Problem der Eurozone.

Wachstumsdifferenzen und Leistungsbilanzsalden

Es ist zutreffend, dass schneller wachsende Länder gegenüber langsamer wachsenden bei gegebenem Wechselkurs Leistungsbilanzdefizite aufbauen, solange die Import- und Exportquoten der Länder konstant sind. Das heißt aber noch lange nicht, dass entsprechende Leistungsbilanzungleichgewichte damit fundamental gerechtfertigt sind. Entscheidend ist, ob das durch Auslandsfinanzierung ermöglichte Wachstum nachhaltig ist und ob die Schuldenlast stabil ist. Wenn die Leistungsbilanzdefizite ansteigen oder das Wachstum zurückfällt, wenn die Gläubiger ihre Risikoorientierung infolge symmetrischer oder asymmetrischer Schocks ändern, kann es zu den berücksichtigten „sudden reversals“ kommen, die häufig in Zahlungsbilanz- und Bankenkrisen enden. Wenn dies in einer Währungsunion ohne nominale Abwertungsoption passiert, steigen die Risikozuschläge, die die Kapitalgeber fordern. Überschussländer sind mitgefangen, auch wenn sie hilflos beteuern, sie seien doch seit hundert Jahren erfolgreiche Exporteure (Erber mit Hinweis auf Rürup und Heilmann). Auch die Defizite müssen fundamental legitimiert sein, und wenn sie es nicht sind, sind auch die Überschüsse nicht hinreichend fundamental gerechtfertigt. Vielmehr sind es dann hochriskante Kapitalexporte.

Immer wieder sind Schwellenländer in „middle income traps“ gefallen, weil sie sich bei höherem Wirtschaftswachstum auf zu hohe Nettokapitalimporte eingelassen haben oder sich der Masse der Zuflüsse nicht erwehren konnten, was häufig genug zur Aufwertung ihrer Währung führte und die Leistungsbilanz weiter verschlechterte. Indessen haben diese Länder entweder den Strukturwandel in Richtung auf eine Exportdiversifizierung vernachlässigt oder zu frühzeitig Importe von Gütern oder Kapital liberalisiert, oder sie haben es versäumt, ihr Wechselkursregime an wettbewerbsfähigen realen Wechselkursen auszurichten.

Konstruktionsfehler der EWU

Hohe Leistungsbilanzbilanzdefizite und größere Finanzkrisen treten in der Regel gemeinsam auf.10 Georg Erber übersieht, dass die Defizite in der EWU teilweise durch mangelnde Wettbewerbsfähigkeit verursacht wurden, die umso schwerer zu Buche schlägt, weil reale Abwertung nur noch durch schwierige interne Abwertung, d.h. durch kontraktiv wirkende Preis- und Lohndeflation möglich ist. Selbst wenn Deutschland seine Überschüsse nur mit Ländern außerhalb der EWU erzielen würde und die Defizitländer ihre Defizite ebenfalls nur mit Nicht-EWU-Ländern, müsste man konstatieren, dass die realen Wechselkurse für beide Ländergruppen nicht passen und, schlimmer noch, dass die Konstruktion der Währungsunion keine wirksamen Vermeidungs- oder Korrekturmechanismen vorsieht.11 Für die verlorenen nominalen Wechselkurse zwischen den Währungen der Mitgliedsländer ist kein Ersatz geschaffen worden. Ein einheitlicher Kapitalmarkt wurde gefördert, nicht aber eine einheitliche Kapitalmarkt- und Bankenregulierung; Vermögenspreisblasen wurden als ernsthaftes Problem weder seitens der nationalen Wirtschaftspolitiken noch seitens der EZB oder der EU-Kommission wahrgenommen. Das ist ein ganzes Bündel an Konstruktionsfehlern, die die Rahmenbedingungen für gefährliche Leistungsbilanzungleichgewichte geschaffen haben.

  • 1 G. Erber: Irrungen und Wirrungen mit der Leistungsbilanzstatistik, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 7, S. 465-470.
  • 2 Griechenland, Irland, Italien, Portugal, Spanien.
  • 3 Vgl. auch C. Borio, P. Disyatat: Global imbalances and the financial crisis – link or no link?, BIS Working Papers 346, Basel 2011.
  • 4 Vgl. zur Übersicht J. Priewe: Die Weltwirtschaft im Ungleichgewicht. Ursachen, Gefahren, Korrekturen, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2011; B. Eichengreen: Global Imbalances and the Lessons of Bretton Woods, Cambridge MA, London 2007; O. Blanchard, G. M. Milesi-Ferretti: (Why) Should Current Account Balances Be Reduced?, IMF Staff Discussion Notes, Nr. 11/03, Washington DC; S. Claessens et al. (Hrsg.): Rebalancing the Global Economy: A Primer on Policymaking, CEPR, London 2010.
  • 5 Deutsche Bundesbank: Zahlungsbilanz nach Regionen. Statistische Sonderveröffentlichung 11, Juli 2012.
  • 6 Berechnet nach AMECO und Deutsche Bundesbank, a.a.O.
  • 7 Zum Beispiel hatte Deutschland 2009 einen Leistungsbilanzüberschuss von 4 Mrd. Euro gegenüber Griechenland, aber eine Nettokapitalausfuhr von 10 Mrd. Euro. 2007, auf dem Höhepunkt der globalen Ungleichgewichte, hatte Deutschland einen Leistungsbilanzüberschuss von 27 Mrd. Euro gegenüber den USA, aber einen Nettokapitalexport von 100 Mrd. Euro. Besonders deutlich war die Diskrepanz 2007: der deutsche Leistungsbilanzüberschuss gegenüber Mitgliedsländern der Eurozone lag bei 107 Mrd. Euro, aber die Nettokapitalexporte in diese Länder betrugen 388 Mrd. Euro. Vgl. Deutsche Bundesbank, a.a.O.
  • 8 J. Williamson: Curbing the Boom-Bust Cycle: Stabilizing Capital Flows to Emerging Markets, Washington DC 2005, S. 54.
  • 9 Vgl. zu den Divergenzen J. Priewe: Economic divergence in the Euro area – why we should be concerned, in: E. Hein, J. Priewe, A. Truger (Hrsg.): European Integration Crisis, Marburg/Lahn 2007, S. 103-130. Zur Geldpolitik vgl. H. Krämer: Die Konstruktionsfehler des Euro-Stabilitätspaktes, in: Wirtschaftsdienst, 90. Jg. (2010), H. 6, S. 379-384.
  • 10 C. M. Reinhart, K. S. Rogoff: This Time is Different, Princeton, Oxford 2009.
  • 11 Ausführlich dazu J. Priewe: European imbalances and crisis of the European Monetary Union, in: H. Herr et al. (Hrsg.): From crisis to growth? The challenge of debt and imbalances, Marburg/Lahn 2012, S. 331-360.

Erwiderung auf die Replik von Jan Priewe

Von Georg Erber

Zunächst eine Klarstellung bezüglich meines Beitrags „Irrungen und Wirrungen mit der Leistungsbilanzstatistik“. Zahlreiche Ökonomen argumentieren, dass die Leistungsbilanzsalden einzelner Länder, z.B. die Deutschlands, gegenüber der übrigen Welt mitschuldig an der Krise der Eurozone seien. Ich wollte anhand empirischer Fakten belegen, dass diese Argumentation empirisch nicht stichhaltig ist. Ein Blick auf die bilateralen Leistungsbilanzsalden zwischen Deutschland und den Krisenländern der Eurozone macht deutlich, dass diese Argumentation nicht aufrecht zu erhalten ist: Es gibt keine spiegelbildliche Äquivalenz zwischen dem Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands und den Leistungsbilanzdefiziten der Krisenstaaten der Eurozone. Ausgangspunkt der Kontroverse sind die strukturellen Ungleichgewichte zwischen den Leistungsbilanzen einzelner Länder der Weltwirtschaft. Bereits im Vorfeld der großen Wirtschafts- und Finanzkrise diskutierten Vertreter des Internationalen Währungsfonds (IWF) die globalen Leistungsbilanzungleichgewichte zwischen einzelnen Ländern – wie insbesondere den USA und der Volksrepublik China – als strukturelles Problem der Weltwirtschaft.1 Als wesentliche Ursache wurde dabei das Problem der Inflexibilität der Wechselkurse gegenüber dem US-Dollar angesehen, da hierdurch eine marktadäquate endogene Anpassung verhindert werde.

Kritik an der deutschen Exportorientierung verfehlt

Mit dem Ausbruch der Eurokrise wurde diese Denkweise auf die Eurozone übertragen. Da hier ex definitione die Wechselkursanpassung bei Fortbestand der Währungsunion ausgeschlossen ist, müssen die Anpassungsprozesse intern über andere Mechanismen erfolgen. Da die Leistungsbilanzsalden der gesamten Eurozone gegenüber der übrigen Welt ausgeglichen sind, lässt sich das Problem als ausschließlich internes Ungleichgewicht der Eurozone zwischen den Überschuss- und den Defizitländern interpretieren. Jedoch liegt hier keine Transitivität hinsichtlich der unterstellten Leistungsbilanzsalden zwischen Defizit- und Überschussländern vor. Die Krisenländer der Eurozone erwirtschaften einen wesentlichen Teil ihrer Leistungsbilanzdefizite auch gegenüber der übrigen Welt – in etwa rund die Hälfte – insbesondere auch gegenüber der Volksrepublik China und den Ölstaaten. Der rasante Ölpreisanstieg vor Ausbruch der Krise hat diese Verschlechterung der Leistungsbilanzen der Krisenländer noch erheblich beschleunigt. Diese Überlegungen wurden jedoch von den Kritikern an der deutschen exportgetriebenen Wirtschaft schlichtweg ignoriert. Weil die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse zusammen mit denen der übrigen Nordländer der Eurozone die Defizite der Südländer der Eurozone in etwa ausgeglichen haben, wurde eben das Leistungsbilanzproblem der Krisenländer als rein internes gegenüber den Überschussländern der Eurozone und insbesondere gegenüber Deutschland gedeutet. Diese Interpretation ist jedoch anhand der vorliegenden Statistiken nicht aufrechtzuerhalten. Darauf bezog sich zunächst der Titel meines Beitrags.

Sicherlich weist Deutschland Leistungsbilanzüberschüsse auch gegenüber den Krisenländern der Eurozone auf, aber sie sind keineswegs so dramatisch wie es die Ökonomen, die Deutschland als Mitverursacher der Krise ansehen, der Öffentlichkeit glauben machen wollen. Seit dem Ausbruch der Eurokrise werden die Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands gegenüber den Krisenländern allmählich abgebaut. Mithin wirken auch die Marktkräfte bereits auf einen Ausgleich hin.2 Allerdings ist auch hier anzumerken, dass dieser Abbau nur parallel mit dramatischen Anpassungen im Zuge einer nachhaltigen Rezession in diesen Ländern erzwungen wird. Ein Abbau der Defizite sollte aber nicht bereits als Gesundung der Wirtschaften der betreffenden Länder gedeutet werden, da insbesondere aufgrund der dortigen Rezession zwangsläufig die Importnachfrage von Waren- und Dienstleistungen auch aus Deutschland zurückgeht. Dies geht keineswegs zwangsläufig mit einem nachhaltigen Anstieg der Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder einher.3

Kapital- oder Leistungsbilanz?

Jan Priewes Anmerkungen zu meinem Beitrag setzen an einem anderen Punkt an: der Interpretation von Leistungsbilanzsalden. In den Beiträgen zur Frage struktureller Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen der Weltwirtschaft bzw. der Eurozone wird der Leistungsbilanzüberschuss eines Landes als grundsätzlich schädlich für die anderen Länder angesehen. Schließlich wird durch den höheren Export von Waren- und Dienstleistungen das eigene Wirtschaftswachstum zu Lasten der anderen Länder gesteigert. Länder mit dauerhaft hohen Leistungsbilanzüberschüssen betreiben nach dieser Sichtweise eine merkantilistische Beggar-thy-neighbor-Politik. Gedanklich liegt dem ein Modell eines zu verteilenden Kuchens mit konstanter Größe zugrunde. Wenn einige Länder systematisch mehr Waren- und Dienstleistungen produzieren, als sie zu konsumieren bereit sind, dann verdrängen sie damit Wachstums- und Beschäftigungschancen anderswo.

Dem habe ich eine andere Sichtweise gegenübergestellt. Sie fußt auf der Zahlungsbilanzmechanik, die besagt, dass Leistungsbilanzüberschüsse durch einen entsprechenden Kapitalexport finanziert werden müssen. Kein Land kann einen Leistungsbilanzüberschuss erzielen, ohne ex definitione auch einen Kapitalexport in entsprechender Höhe an das Ausland zu tätigen.4 Mithin stellt sich spiegelbildlich zur Debatte über Leistungsbilanzüberschüsse die Henne-Ei-Frage: „Nutzt oder schadet der Kapitalexport ins Ausland Ländern?“ Offenbar gibt es darauf keine allgemein gültige Antwort. Es hängt im Wesentlichen davon ab, wie die Kapital­importländer diese zusätzlichen Ressourcen, die vom Ausland auf Kredit finanziert werden, einsetzen. Werden sie dort produktiv oder konsumtiv verwendet?

Kapitalimporte, die mit einem Leistungsbilanzdefizit einhergehen, können investiv verwendet werden und dadurch ein höheres Wirtschaftswachstum herbeiführen. Der Kuchen im Kapitalimportland wächst dann schneller und es werden neben den fälligen Zinszahlungen an das Ausland Überschüsse erwirtschaftet. Deutschland hat im Zuge der Wiedervereinigung nach 1990 bewusst diesen Weg bestritten. Es importierte in erheblichem Umfang Kapital aus dem Ausland, um den Aufbau Ost auch darüber teilweise zu finanzieren. Kapitalimporte können aber auch konsumtiv im Empfängerland verwendet werden. Dann bauen sich dort schrittweise Forderungen des Auslands zuzüglich fälliger Zinszahlungen zu einer hohen Gesamtverschuldung auf, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Zahlungsbilanzkrise münden können.

Das ist gängiges Lehrbuchwissen. In der Entwicklungstheorie wird ein Kapitalexport aus entwickelten Ländern in kapitalarme weniger entwickelte Länder als hilfreich angesehen, da die zusätzlichen finanziellen Ressourcen die Entwicklung vorantreiben können. Leistungsbilanzüberschüsse und entsprechende Kapitalexportdefizite können je nach Verwendungszweck dieser Ressourcen positive oder negative Wirkungen nach sich ziehen. Es ist daher im Einzelfall jeweils zu prüfen, wie sie gewirkt haben. Allgemein sind die bestehenden Salden allein noch kein Beurteilungskriterium. Exemplarisch habe ich dies anhand der völlig unterschiedlichen Ergebnisse für die beiden Nachbarländer Griechenland und Türkei gezeigt. Beide Länder wiesen 2011 ein Leistungsbilanzdefizit von etwa 8% im Verhältnis zum jeweiligen Bruttoinlandsprodukt (BIP) aus. Während das BIP Griechenlands in diesem Jahr dramatisch schrumpfte, wuchs das der Türkei mit rund 6%.

Jan Priewe stellt in seinen Anmerkungen zu meinem Beitrag dann weitere Überlegungen an, was man noch in die Betrachtung über die Bewertung von Leistungsbilanzungleichgewichten berücksichtigen sollte. Dem will ich hier keineswegs widersprechen. Ziel meines Beitrags war es jedoch nicht, eine Antwort auf diese von ihm aufgeworfenen Fragen zu liefern, sondern im Sinne von Popper eine fehlerhafte Erklärung, die Deutschland zum Hauptschuldigen der Eurokrise bloßstellt, anhand empirischer Fakten und grundlegender Missverständnisse über den Aussagegehalt von Leistungsbilanzsalden zu widerlegen. Falsifikation eines populären Erklärungsmodells war das Ziel meines Beitrags. Für eine differenzierte Betrachtung der Ursachen und Folgen der Eurokrise ist daher ein neuer Freiraum geschaffen worden. Da die Eurokrise derzeit noch nicht überwunden ist, und es auch keine allgemein akzeptierte schlüssige Erklärung für ihre Ursachen und Folgen gibt, sollte die Scientific Community sich weiterhin intensiv damit beschäftigen. Zur Frage, wie es zu der Divergenz zwischen Löhnen und Preisen innerhalb der Eurozone kam und wie man dieses Problem lösen könnte, werde ich in einem anderen Beitrag gerne Stellung beziehen.

  • 1 O. Blanchard: Current Account Deficits in Rich Countries, Mundell-Fleming Lecture, 7TH JACQUES Polak Annual Research Conference, 9.-10.11.2006.
  • 2 J. Matthes: Rebalancing der Leistungsbilanzdefizite in den Peripheriestaaten des Euroraums, in: IW-Trends, 1/2012, Institut der deutschen Wirtschaft, Köln 2012.
  • 3 Dpa-AFX: Bundesbank sieht Fortschritte bei Wettbewerbsfähigkeit von Krisenländern, Meldung vom 19.11.2012; Finanz.net: Zweifel an Krisenländern – ifo-Präsident Sinn: „Zweckbehauptungen, damit die Deutschen zahlen“, Meldung vom 29.11.2012.
  • 4 S. Homburg: Anmerkungen zum Target2-Streit, in: Wirtschaftsdienst, 91. Jg. (2011), H. 8, S. 526-530.

Title:Critical Remarks on Erber’s “Trials and Tribulations with the Statistics of the Current Account Balance” and Erber’s Answer

Abstract:Priewe rejects several propositions: The current account balance is not a sound indicator of the competitiveness of an economy, the direct use of gross capital inflows is not pre-determined by anyone other than foreign investors, capital flows do not determine the current account balance, bilateral capital flows between member countries of the eurozone are not relevant for the balance of payment, and absolving the surplus countries and solely blaming the deficit countries for improper use of capital inflows obfuscates the fact that both surplus and deficit countries are involved in the making of imbalances. In his reply, Erber stresses that the intention of his article was to point out that the empirical facts blaming Germany for being responsible for the current eurozone crisis are not supported by the data. Furthermore, current accounts are mere accounting identities. Therefore, focussing on the current accounts alone is insufficient for identifying the causes of the euro crisis.


DOI: 10.1007/s10273-013-1478-4

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