Kalte Progression: Endlich nachhaltige Steuerpolitik?
Bundesfinanzminister Schäuble hat kürzlich angekündigt, das seit Jahren immer wieder diskutierte Problem der kalten Progression nun endlich zu lösen. Hintergrund sind die jüngsten Ergebnisse des Arbeitskreises Steuerschätzungen, die die positiven Erwartungen der November-Schätzungen noch einmal deutlich übertroffen haben: Bis zum Jahr 2019 kann der Staat mit Zusatzeinnahmen von etwa 38 Mrd. Euro rechnen. Geplant ist daher, die Steuerzahler zum 1. Januar 2016 durch einen Ausgleich des in den beiden vorangegangenen Jahren aufgelaufenen Effektes der kalten Progression zu entlasten. Aufgrund der niedrigen Inflationsrate von nur 0,9% im Jahr 2014 und einer vermutlich noch geringeren Preissteigerungsrate 2015 führt diese Maßnahme lediglich zu einer Entlastung der Bürger um 1,5 Mrd. Euro. Darüber hinaus sollen Bundestag und Bundesrat künftig alle zwei Jahre diskretionär auf Grundlage eines Berichts zur Wirkung der kalten Progression über weitere Tarifanpassungen entscheiden.
Grundsätzlich ist dieses Vorhaben begrüßenswert, denn es war bereits im vergangenen Jahr schwer verständlich, weshalb die große Koalition trotz des hohen Steueraufkommens und trotz der Zustimmung sowohl von Arbeitgeber- als auch von Arbeitnehmerseite den Ausgleich der kalten Progression in dieser Legislaturperiode zunächst kategorisch ausgeschlossen hatte. Unabhängig davon wie groß die Entlastung im konkreten Fall ausfällt, sollte die kalte Progression in jedem Fall beseitigt werden, da sie dem Prinzip der Leistungsfähigkeit widerspricht. Sie kommt nämlich allein dann zustande, wenn Lohnerhöhungen lediglich die Inflation ausgleichen, der Arbeitnehmer aber durch die progressive Ausgestaltung des Steuertarifs mehr Steuern zahlen muss, so dass er letztendlich an Kaufkraft verliert.
Dass die politische Entscheidung jetzt fällt, dürfte zwei Gründe haben: Zum einen die aktuelle Haushaltslage, die für die Umsetzung jeder aufkommensmindernden Steuerreform entscheidend ist. Zum anderen die Erwartungen hinsichtlich der Inflationsentwicklung, die die Höhe der zu erwartenden Mindereinnahmen determinieren. Beide Faktoren sind derzeit so günstig wie selten, so dass kaum ein künftiger Finanzminister je eine so große Chance haben wird, die kalte Progression dauerhaft zu beseitigen, ohne dabei den eigenen Handlungsspielraum substanziell einschränken zu müssen. Daher stellt sich Frage, warum keine automatische Anpassung des Tarifs an die Inflation eingeführt wird. Der aktuelle Vorschlag legt die Vermutung nahe, dass der Staat sich die kalte Progression als potenzielle Einnahmequelle in wirtschaftlich schlechten Zeiten offen halten möchte. In diesem Fall wäre die angekündigte Anpassung des Einkommensteuertarifs lediglich ein politisches Signal, dass der Staat seine Bürger an der aktuell guten wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben lässt. Ziel sollte es jedoch sein, die Wirkung der kalten Progression nicht nur durch diskretionäre Anpassungen des Steuertarifs temporär abzuschwächen, sondern sie dauerhaft zu beseitigen. Letztendlich bleibt abzuwarten, ob künftige Bundesregierungen auch zu Tarifanpassungen bereit sein werden, wenn sich die Staatseinnahmen nicht mehr so gut entwickeln oder andere politische Ziele in den Vordergrund rücken. Spätestens dann wird sich zeigen, ob es sich bei dem geplanten Vorhaben lediglich um ein politisches Signal handelt oder tatsächlich um eine nachhaltige Steuerpolitik.
Tarifeinheitsgesetz: Streikrecht behutsam anpassen
Im Jahr 2010 hat das Bundesarbeitsgericht in drei Entscheidungen seine Rechtsauffassung zur Tarifpluralität im Betrieb fundamental geändert. Der bis dahin geltende Grundsatz „Ein Betrieb, ein Tarifvertrag“ wurde gekippt. Gut fünf Jahre später hat der Bundestag nun am 22. Mai 2015 das Gesetz zur Regelung der Tarifeinheit beschlossen. Am 1. Juli 2015 soll es in Kraft treten. Danach sollen in Betrieben, in denen mehrere Gewerkschaften vertreten sind, für eine Berufsgruppe künftig im Streitfall nur die von der Mehrheitsgewerkschaft ausgehandelten Regelungen gelten.
Nicht wenige Ökonomen begrüßen das Gesetz, weil es „britische Verhältnisse“ und die Häufung von Streiks im Bahn- und Luftverkehr verhindern soll. Gelingen wird dies jedoch nur bei der Bahn. Das Tarifeinheitsgesetz wird nämlich nur dann zur Anwendung kommen, wenn zwei oder mehr Gewerkschaften Tarifverträge für die gleichen Beschäftigtengruppen abschließen wollen. Dies ist bei der Bahn der Fall, wo die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GdL) um dieselben Mitarbeitergruppen konkurrieren. Im Luftverkehr ist der Fall jedoch anders: Cockpit vertritt die Piloten, die Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO) die Flugbegleiter, Verdi das Abfertigungs- und Sicherheitspersonal und die Gewerkschaft der Flugsicherung (GDF) die Fluglotsen. Die Zuständigkeiten sind somit klar abgegrenzt. Da sich alle vier Gewerkschaften auf bestimmte Berufsgruppen beschränken, kommt es gar nicht erst zu etwaigen Tarifkollisionen. Somit findet das Tarifeinheitsgesetz keine Anwendung. Dies bedeutet auch, dass die verschiedenen Gewerkschaften weiter abwechselnd streiken können.
Für die GdL dürfte das neue Gesetz hingegen einem Streikverbot gleichkommen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Arbeitsgerichte einen Streik für unverhältnismäßig erklären, wenn eine Gewerkschaft künftig für einen Tarifvertrag streiken will, der wegen der Mehrheitsverhältnisse ohnehin keine Chance hätte. In Betrieben, in denen eine Gewerkschaft weniger Mitglieder hat als eine andere, gesteht das neue Gesetz der kleinen Gewerkschaft bei Tarifverhandlungen nur ein Anhörungsrecht sowie die Möglichkeit, den Tarifvertrag der größeren Gewerkschaft eins zu eins zu übernehmen, zu. Für einen eigenen Tarifvertrag streiken darf sie aber wohl nicht, weil der wegen der Mehrheitsverhältnisse nicht zur Anwendung käme. Schon heute ist nach den Aussagen zahlreicher Verfassungsrechtler relativ klar, dass das Gesetz nicht verfassungskonform sein dürfte, da es die grundgesetzlich geschützte Koalitionsfreiheit empfindlich berührt. Selbst der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass das Gesetz vom Bundesverfassungsgericht gekippt wird.
Auch aus ökonomischer Sicht ist das Gesetz nicht unproblematisch: Die neuen Spartengewerkschaften haben allesamt begonnen, selbst Tarifverhandlungen zu führen, nachdem sich 2001 fünf Einzelgewerkschaften zu Verdi zusammengeschlossen hatten. Offensichtlich fühlen sich die Spartengewerkschaften nicht mehr gut von Verdi vertreten. Nimmt man diesen Arbeitnehmern jetzt das Recht zur Abwanderung („Exit“), so bekommen Großgewerkschaften einen Freibrief, die Interessen von Minderheiten zu ignorieren.
Besser als der Zwang zur Tarifeinheit wäre eine behutsame Anpassung des Streikrechts und dies an die Marktmacht von Gewerkschaften zu koppeln. Auch auf Produktmärkten dürfen marktmächtige Unternehmen nicht alles tun, was kleinen Unternehmen erlaubt ist. Analog sollte man das Streikrecht anpassen, sodass eine besondere Machtfülle von Gewerkschaften nicht zulasten Dritter missbraucht werden darf. Die negativen Auswirkungen auf unbeteiligte Dritte, die nichts zur Lösung von Tarifkonflikten beitragen können, müssten dann stärker bei der Prüfung, ob ein Streik verhältnismäßig ist, berücksichtigt werden.
Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage: EU-Harmonisierung lohnend
Am 27. Mai 2015 fand in der Europäischen Kommission eine Orientierungsaussprache über Maßnahmen für eine gerechtere, wachstumsfreundlichere und transparentere Unternehmensbesteuerung statt. Darauf aufbauend will die Kommission im Juni 2015 in einem umfassenden Aktionsplan festlegen, wie die bei der OECD unter dem Schlagwort „Base Erosion and Profit Shifting“ (BEPS) diskutierten Ansätze innerhalb der EU umgesetzt werden können und durch welche Maßnahmen die steuerliche Transparenz erhöht werden kann. Zusätzlich soll eine Strategie formuliert werden, um die Arbeiten an einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) neu zu beleben.
Die Einführung einer GKKB wäre mit einer grundlegenden Reform der Besteuerung von EU-Konzernen verbunden. Insbesondere die Aufteilung der nach einheitlichen Kriterien ermittelten Gesamtbemessungsgrundlage mittels einer mehrdimensionalen Schlüsselung wirft zahlreiche Fragen auf. Die aktuelle politische Diskussion bezieht sich deshalb zunächst nur auf die Harmonisierung der Regelungen zur steuerlichen Gewinnermittlung. Diese Harmonisierung (gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage, GKB) kann sich aus deutscher Sicht nicht auf Kapitalgesellschaften beschränken. Vielmehr sind diese Regeln rechtsformübergreifend anzuwenden (gemeinsame Unternehmensteuer-Bemessungsgrundlage, GUB).
Die GKB bzw. GUB führt zu Vorteilen, die weit über die mit der Harmonisierung der steuerlichen Gewinnermittlung verbundene Senkung der Deklarationskosten hinausgehen. Sie bildet die Grundlage für die Lösung von zahlreichen, seit Langem im Zusammenhang mit der steuerlichen Behandlung grenzüberschreitender Sachverhalte diskutierten Probleme. Zumindest wird deren Bewältigung wesentlich erleichtert. Als Beispiele seien die Besteuerung von Dividenden und Veräußerungsgewinnen, die Regelungen zur Abgrenzung zwischen Eigen- und Fremdkapital, die Behandlung von Unternehmen als transparente oder intransparente Rechtsträger, die Überführung eines Wirtschaftsguts in eine ausländische Betriebsstätte und die grenzüberschreitende Verlustverrechnung sowie die Weiterentwicklung der Voraussetzungen für eine Gruppenbesteuerung genannt. Für die auf OECD-Ebene diskutierten Maßnahmen zur Vermeidung von als unerwünscht angesehenen Gestaltungen ist die gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage insoweit von Bedeutung, als damit die EU-Staaten für grundlegende Fragen (z.B. Umfang der abziehbaren Fremdkapitalaufwendungen, Ausgestaltung einer allgemeinen Missbrauchsregelung, Hinzurechnungsbesteuerung) eine einheitliche Leitlinie verfolgen würden.
Aufgrund dieser „Zusatzvorteile“ wäre die Einführung einer gemeinsamen Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage für die Unternehmensbesteuerung in der EU ein größerer Schritt, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Seit der Vorlage des Richtlinienentwurfs durch die Kommission im Jahr 2011 wurde für die meisten offenen Punkte ein Kompromiss gefunden. Der nunmehr vorliegende aktualisierte Vorschlag von Ende 2014 stellt eine gute Grundlage dar, um die Arbeiten an einer Harmonisierung der steuerlichen Gewinnermittlung zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Dieser überarbeitete Entwurf enthält keine Regeln, die mit den Grundsätzen des deutschen Steuerrechts unvereinbar sind. Er könnte also relativ einfach in das deutsche Steuerrecht integriert werden. Der Aktionsplan der EU-Kommission verdient deshalb zumindest in diesem Punkt nachhaltige Unterstützung.
Frequenzversteigerung: Schnelles Internet: Effekte fraglich
Zum vierten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wird seit dem 27. Mai 2015 Spektrum für den Mobilfunk in Deutschland versteigert. Drei zur Auktion zugelassene Unternehmen bieten für 2017 beginnende und bis 2033 befristete Nutzungsrechte für insgesamt 31 Frequenzblöcke in vier Bändern. Bei 17 Blöcken im 900- bzw. 1800-MHz-Bereich handelt es sich um Frequenzen, die schon bisher überwiegend für den Mobilfunk verwendet wurden, deren Nutzungsrechte nun aber auslaufen. 14 Blöcke, die im Spektrumbereich von 700 bzw. 1500 MHz liegen, werden erstmals für den Mobilfunk zur Verfügung gestellt. Die Nutzungsrechte sind mit der Auflage versehen, dass ihre Erwerber innerhalb von drei Jahren nach Zuteilung bundesweit eine Netzabdeckung von mindestens 98% der Bevölkerung mit Anschlüssen, die in der Regel Übertragungsraten von 10 Mbit/s und mehr bieten, erreichen müssen.
In dieser Situation stellt sich die Frage, welche Beiträge die Auktion zum Erreichen des Ziels der Bundesregierung, schnelles Internet flächendeckend verfügbar zu machen, leisten kann. Die vorherige Regierung verfehlte ihre 2009 geäußerte Zielvorstellung, dass bis Ende 2014 von 75% der Haushalte ein 50-Mbit/s-Anschluss genutzt werden kann, mit einer Versorgungsquote von 66% klar – ohne dass dieser Umstand eine intensivere politische oder publizistische Debatte ausgelöst hätte. Die aktuelle Regierung verkündete dann in dem im November 2013 geschlossenen Koalitionsvertrag ein neues Ziel: Demnach soll bis Ende 2018 jeder Haushalt und jedes Unternehmen hierzulande einen 50-Mbit/s-Anschluss beziehen können.
Die Versteigerung 2015 könnte das Erreichen des derzeitigen Versorgungsziels auf zwei Wegen beeinflussen. Erstens könnten die Zuteilungsinhaber Mobilfunknetze in bisher schlecht mit schnellem Internet versorgten ländlichen Regionen ausbauen. Hier ist allerdings zu beachten, dass zumindest zwei der drei Auktionsteilnehmer die 98%-Auflage heute schon fast erfüllen, so dass dieser Expansionsimpuls schwach ausfällt. Außerdem liegt die Auflage, eine Mindestdatenrate von 10 Mbit/s zu garantieren, weit unter dem 50-Mbit/s-Ziel der Bundesregierung. Zweitens führt die Auktion zu einmaligen Staatseinnahmen. Die Erlöse für die 700-MHz-Frequenzen werden hälftig zwischen Bund und Ländern aufgeteilt, die Einnahmen aus der Vergabe des restlichen Spektrums stehen dem Bund zu. Bund und Länder haben angekündigt, die Gelder zur Verbesserung der Verfügbarkeit von schnellem Internet in dünn besiedelten Gebieten einzusetzen. Aufgrund des großen Zeitverzugs zwischen dem Eingang der Auktionserlöse und dem Abschluss von Bauprojekten zur Erweiterung des Angebots von schnellem Internet wird der Beitrag der Versteigerung 2015 zum Erreichen des auf 2018 terminierten Ziels sehr gering sein.
Bezogen auf die Effekte von aus den Auktionseinnahmen gespeisten staatlichen Förderprogrammen zum Ausbau schneller Internetanschlüsse jenseits von 2018 ist davon auszugehen, dass die Gelder primär investiert werden dürften, um in existierenden Kupferdoppeladernetzen Glasfaserleitungen ein wenig näher zu den Endkunden (genauer: bis zu den Kabelverzweigern) zu bringen. Sinnvoller für eine zukunftsfähige Versorgung mit schnellem Internet wäre dagegen, nur Projekte zu unterstützen, bei denen Glasfaser bis in jeden Gebäudekeller verlegt wird. Eine solche Subventionsstrategie würde den Wettbewerb zwischen alten Kupferdoppelader-, alten Koaxialkupfer- und neuen Glasfasernetzen stimulieren. Die empirische Evidenz spricht klar dafür, dass intensiver Wettbewerb auf Breitbandmärkten eher als eine monopolähnliche Struktur zur Angebotsverbesserung beiträgt. Wirtschaftspolitiker täten gut daran, diese Erkenntnis beim Design von Programmen zur Breitbandförderung mit Einnahmen aus der Frequenzauktion nicht aus den Augen zu verlieren.