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Integrationsgesetz: Das Vertrauen in den Markt fehlt

Von Herbert Brücker

Der Koalitionsbeschluss zur Verabschiedung eines Integrationsgesetzes sprach von der Pflicht zur Integration und stellte Sanktionen in den Vordergrund. Das damit vermittelte Bild, dass sich erhebliche Teile der geflüchteten Menschen der Integration in Deutschland entziehen wollen, ist vor dem Hintergrund jüngerer empirischer Erkenntnisse schwer zu halten: Eine jüngst durchgeführte Befragung von Flüchtlingen zeigt durchweg eine hohe Motivation, die deutsche Sprache zu lernen und einen Arbeitsplatz zu suchen. Ebenso zeigt sie eine große Zustimmung zu Werten wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Trennung von Staat und Religion. Das Angebot an Sprach- und Integrationskursen fällt dagegen weit hinter die Wünsche der Betroffenen zurück. Die Integrationspolitik in Deutschland hat ein Angebots-, kein Nachfrageproblem. Nun sind die beschlossenen Sanktionsmaßnahmen weitaus weniger problematisch, als die Rhetorik vermuten ließ. Eine Nichtteilnahme an Integrationskursen kann durch Leistungskürzungen sanktioniert werden – das ist nicht falsch, auch wenn die praktische Bedeutung eher gering ist. Die Erteilung einer dauerhaften Niederlassungserlaubnis wird an deutsche Sprachkenntnisse und die Fähigkeit, den Lebensunterhalt dauerhaft zu bestreiten, gekoppelt. Außerdem kann die Niederlassungserlaubnis bei sehr guten Sprachkenntnissen (C1) und einer guten Arbeitsmarktinteg­ration schon nach drei Jahren erreicht werden. Insbesondere das Setzen positiver Anreize ist sinnvoll, Gleiches gilt für eine Reihe anderer Maßnahmen wie das Senken von Hürden für die niedrigschwellige Arbeitsmarktintegration oder die Ausweitung von Arbeitsgelegenheiten für Asylbewerber, die noch nicht lange in Deutschland leben. Problematisch sind einige andere Teile des Gesetzespaketes.

Erstens erhalten nur Asylbewerber mit guter Bleibeperspektive während der Asylverfahren Zugang zu Integrationskursen und vielen anderen integrationsfördernden Maßnahmen. Gegenwärtig werden nur Migranten aus Eritrea, Irak, Iran und Syrien zu dieser Gruppe gerechnet. Andere schutzbedürftige Geflüchtete sind doppelt benachteiligt: Ihre Asylverfahren dauern sehr viel länger und sie haben während des Asylverfahrens keinen Zugang zu elementaren Integrationsmaßnahmen wie Sprachkursen. Das Gesetz geht offensichtlich von der Illusion aus, dass diese Menschen nicht in Deutschland bleiben werden. Damit wird das Integrationsproblem von morgen geschaffen.

Zweitens behindert das Integrationsgesetz mit der Wohnsitzauflage die Arbeitssuche. Durch eine Beschränkung der Freizügigkeit soll ethnische Ghettobildung mit ihren negativen Begleiterscheinungen wie schlechtem Sprach­erwerb, Isolation, Kriminalität usw. verhindert werden. Tatsächlich kann gezeigt werden, dass ethnische Konzentration den Spracherwerb behindert. Der Umkehrschluss, dass Freizügigkeitsbeschränkungen integrationsfördernd sind, ist aber unzulässig. So zeigt eine empirische Untersuchung, dass die Wohnsitzauflage die Beschäftigungsquoten von Spätaussiedlern zunächst um mehr als zehn Prozentpunkte gesenkt hat. In der Vergangenheit haben 60% der Flüchtlinge ihre erste Stelle in Deutschland durch Familienangehörige, Freunde und Bekannte gefunden. Die Vorstellung, dass der Staat besser als die Betroffenen weiß, wo sie sich integrieren können, widerspricht der modernen Arbeitsmarktökonomie, wonach von der Effizienz des „Matches“ zwischen Unternehmen und Arbeitssuchenden der Arbeitsmarkterfolg abhängt.

Drittens schließlich ist das Aussetzen der Vorrangprüfung halbherzig. Tatsächlich zeigen empirische Untersuchungen, dass der Wettbewerb zwischen Migranten und deutschen Arbeitnehmern oder Arbeitslosen in den fraglichen Arbeitsmarktsegmenten gering ist. Es ist deshalb richtig, die Vorrangprüfung auszusetzen. Das Integrationsgesetz will sie aber nur in Arbeitsmarktregionen mit unterdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit aufheben. Damit wird eine Inkonsistenz des Gesetzes deutlich: Auf der einen Seite werden die Flüchtlinge durch die Wohnortauflage an Regionen mit schlechten Beschäftigungsperspektiven gebunden, auf der anderen Seite bestraft es sie dafür, indem es die Vorrangprüfung in strukturschwachen Regionen beibehält.

Staatsanleihen: Warum die Politik Risiken ignoriert

Von Andreas Pfingsten

Wir befinden uns im Jahr acht nach Ausbruch der Finanzkrise. Das ganze Universum von Vermögensgegenständen in den Bankbilanzen muss zum Schutz des Bank- und Finanzsystems mit Eigenkapital unterlegt werden. Das ganze Universum? Nein! Eine von unbeugsamen Politikern und Regulatoren beschützte Sorte von Anleihen nicht. Für EU-Staatsanleihen, die sich in den Portfolios der Kreditinstitute finden, ist eine Kapitalunterlegung, ungeachtet ihrer Ratings, zumeist nicht erforderlich. Die Kursentwicklungen an den Kapitalmärkten haben in den letzten Jahren sehr deutlich gemacht, dass Investoren auch einige EU-Staatsanleihen als riskant ansehen. Gleichwohl ist manchem EU-Finanzminister die ökonomisch unsinnige Ausnahmeregel für EU-Staatsanleihen, die unter anderem von Bundesbankpräsident Jens Weidmann schon seit Jahren kritisiert wird, ganz lieb. Sie erleichtert und verbilligt nämlich den weiteren Absatz von Staatsschuldenpapieren.

Müssten die Kreditinstitute zukünftig Kapital vorhalten, wäre zum einen damit zu rechnen, dass sie sich beim Erwerb zusätzlicher Staatsanleihen zurückhielten. Besonders dürften Staaten mit relativ schlechten Ratings betroffen sein, für deren Anleihen Kreditinstitute dann relativ viel Eigenkapital benötigten. Deren Finanzminister hätten das vermutlich durch höhere Zinsen zu kompensieren, um sich nach wie vor die notwendigen Mittel zu beschaffen. Das ist ein erstes Hindernis, das einer Kapitalunterlegung von Staatsanleihen politisch im Weg steht. Vermutlich müssten die Kreditinstitute angesichts begrenzten Eigenkapitals zudem Risikoaktiva abbauen. Das würde nicht zwingend nur Staatsanleihen treffen, sondern möglicherweise auch Kundenkredite. Eine verschlechterte Kreditversorgung der Realwirtschaft mit ihren negativen Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung ist aber ebenfalls nicht im Interesse der Politik. Wir haben hier also ein zweites Hindernis für die Kapitalunterlegung von Staatsanleihen. Und ein drittes Hindernis kommt hinzu. Kreditinstitute dürfen – bei heutigen Regeln und etwas vereinfacht dargestellt – an einen einzelnen Schuldner insgesamt nur Kredite etc. in Höhe von 25% ihres Eigenkapitals ausleihen. Das Ziel dieser Vorschrift ist, dass ein Ausfall weniger Schuldner die Existenz eines Instituts nicht gefährden soll. Nur: Sie gilt nicht für staatliche Schuldner. Spätestens nach Abschaffung der Privilegierung von Staatsanleihen bei der Kapitalunterlegung dürfte aber auch diese Ausnahme entfallen. Selbst wenn die Obergrenze etwas erhöht würde, wäre sie für viele kleine und mittlere Kreditinstitute noch um Größenordnungen niedriger als deren heutige Volumina an Staatsanleihen. Das Finanzierungspotenzial der Staaten, inklusive derer mit guten Ratings, würde so weiter begrenzt.

Eine Ausblendung der Tatsache, dass in der Staatsfinanzierung ein existenzielles Risiko für Kreditinstitute stecken kann, ist letztlich nicht sachgerecht. Nach aktuellem Stand könnte einzig die Leverage Ratio, die risiko­unabhängig das Gesamtvolumen der Aktiva im Verhältnis zum Eigenkapital begrenzt, zukünftig der Aufblähung der Bankbilanzen mittels Staatsanleihen Einhalt gebieten. Das mag aber nicht ausreichend sein. Unterstützt werden sollte die Deutsche Bundesbank in ihrem Bemühen, die ungerechtfertigt bevorzugte Behandlung von Staatsanleihen zurückzudrängen. Verluste bei Staatsanleihen könnten uns sonst die nächste Finanzkrise bescheren. Und dann würden wieder alle ganz überrascht tun.

Gasversorgung: Der Konflikt um Nord Stream 2

Von Hans-Jochen Luhmann

Die EU-Kommision hat Bedenken gegenüber dem Bau von Nord Stream 2. Deutschland hingegen ist geneigt, ihn zu ermöglichen. Die EU-Kommission wie auch die Grünen im Deutschen Bundestag meinen, es sei zielführend, die Vor- und Nachteile von Nord Stream 2 aufzulisten und dann abzuwägen – die Sicherheit der Gasversorgung hingegen ist für sie kein absolutes Ziel. Im Kern ihres abwägenden Kalküls steht die folgende Rechnung.

Seit der Jahrtausendwende lagen die Gaslieferungen Russlands nach Europa zwischen 150 und 180 Mrd. m3 pro Jahr. Insgesamt beträgt die bestehende Pipeline-Kapazität etwa 240 Mrd. m3/Jahr, objektiv also mehr als genug; davon führt allerdings etwa die Hälfte über das Territorium der Ukraine. Ohne die Nutzung dieser Leitungen ist Europa somit nicht vollständig zu versorgen. Das gilt unter zwei Bedingungen: Die Nachfrage nach Gas aus russischen Quellen sinkt in Zukunft nicht, und die Lieferung aus etablierten Quellen, wie z.B. der Nordsee, bleibt konstant. Nun sinkt aber künftig einerseits naturnotwendig der Beitrag aus Nordsee-Quellen; andererseits will die EU die Effizienz insbesondere im Gebäudebereich stärken. Bei den bestehenden Kapazitäten lassen sich daher keine verlässlichen Voraussagen über die Sicherheit der Gasversorgung (Ost- und Südost-)Europas ohne Transit durch die Ukraine machen.

Implikation dieser Position der Kommission ist: Die Sicherheit der Gasversorgung ist nur gewährleistet, wenn Russland und die Ukraine sich über die Bedingungen der Durchleitung zum 1. Januar 2020 einigen. Dann nämlich läuft der bestehende Vertrag aus. Angesichts des zerrütteten Verhältnisses beider Staaten kann man sich einer termingerechten Einigung nicht sicher sein. Die EU aber tut so, als ob sie davon ausgehen dürfe. In Wahrheit ist ihre Position nicht einmal neutral, sie gießt vielmehr Brandbeschleuniger in den Konflikt. In den Vertragsverhandlungen braucht Russland eine alternative Option – sonst ist es erpressbar. Nord Stream 2 ist mit einer Kapazität von 55 Mrd. m3/Jahr eine solche Option, kostet 9 Mrd. Euro und ist noch rechzeitig fertigzustellen. Die ukrainische Seite hat ihre Vorstellung Ende Januar 2016 offenbart: Da gab die Ukraine bekannt, von Russland, trotz laufender Verträge, deutlich höhere Gebühren für den Transit von Erdgas nach Westeuropa zu verlangen. Sie hat eine Verdreifachung des Tarifs angeordnet, Gazprom soll künftig umgerechnet rund 5,5 Mrd. Euro statt bisher rund 1,8 Mrd. Euro pro Jahr bezahlen. Angesichts der Kosten der Alternative, des Neubaus von Nord Stream 2, sind das „Mondpreise“.

Die Kommission aber blockt die Alternative. Setzte sie sich durch, würde sie in dem Konflikt um die Bedingungen des Transits ab 2020 die Position Russlands schwächen und die der Ukraine stärken. Müsste man heute zum Vertragsabschluss kommen und würde Nord Stream 2 als Option zugelassen, so wäre ein faires Ergebnis zu erwarten. Verweigert hingegen Europa (bzw. Deutschland) Nord Stream 2 als Option und entscheidet, die Bedrohung der Sicherheit seiner Versorgung durch das alsbald drohende Vertragsende nicht zur Kenntnis zu nehmen bzw. es Sache der beiden Konfliktparteien alleine sein zu lassen, dann ist die Unterbrechung der Lieferungen aus Russland so gut wie programmiert. Da kann Kommissar Maroš Šefčovič seine Hände in Unschuld zu waschen versuchen soviel er will – die Gasblockade im Winter 2019/20 wäre dann sein Werk. Nur: Er wird dann gerade aus dem Amt sein, und sein Nachfolger hat die von ihm eingebrockte Suppe auszulöffeln.

Gesundheitswesen: Medizin und Ökonomie

Von Mathias Kifmann

Der Deutsche Ärztetag, der vom 24. bis 27. Mai in Hamburg stattfand, hat sich auch mit ökonomischen Themen befasst. Die Delegierten sprachen sich klar gegen erfolgsabhängige Bonuszahlungen für leitende Ärzte in Krankenhäusern aus. Einstimmig wurde beschlossen: „Ökonomisierung ist dann abzulehnen, wenn betriebswirtschaftliche Parameter individuelle und institutionelle Ziele ärztlichen Handelns definieren, ohne dass es eine am Patientenwohl orientierte medizinische Begründung gibt.“ Dieser Beschluss ist zu begrüßen, denn Bonusverträge bergen die Gefahr, dass Leistungen erbracht werden, die für Patienten keine Besserung darstellen oder sogar schädlich sind. Mehr medizinische Leistungen sind nicht immer besser.

Der Ärztetag hat sich auch mit der Novellierung der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) befasst. Nach dieser Ordnung rechnen Ärzte insbesondere Leistungen für Privatversicherte und beihilfeberechtigte Beamte ab. Seit 1996 wurden das Leistungsverzeichnis und der Punktwert nicht verändert. Die Bundesärztekammer drängt seit vielen Jahren auf eine Überarbeitung. Gespräche wurden mit Vertretern der privaten Krankenversicherungen und der Beihilfe geführt. Hier zeichnete sich ab, dass in Zukunft eine Gemeinsame Kommission mit Vertretern der Ärzteschaft, der Privaten Krankenversicherung und der Beihilfe für die Weiterentwicklung und Pflege der neuen GOÄ gegründet werden soll. Jüngst stoppte die Bundesärztekammer jedoch wegen interner Unstimmigkeiten die Überarbeitung der GOÄ.

Jetzt will die Ärzteschaft einen neuen Anlauf unternehmen. Die Stoßrichtung ist dabei klar. Es sollen möglichst viele Leistungen aufgenommen und die Preise angehoben werden. Grundlage soll eine betriebswirtschaftliche Kalkulation sein. Aus Ärztesicht soll die vorgesehene Gemeinsame Kommission möglichst keine Entscheidungskompetenzen haben. Bis zu Beginn der nächsten Legislaturperiode will die Bundesärztekammer einen neuen Vorschlag vorlegen. Dabei schwingt die Hoffnung mit, dass die SPD dann nicht mehr Teil der Regierung ist. Sie lehnt eine neue GOÄ ab.

Das Interesse der Ärzteschaft an einer neuen GOÄ ist nachvollziehbar. Auch für Versicherte und Beamte wäre eine Aktualisierung sinnvoll, um Klarheit zu schaffen, wie Leistungen abgerechnet werden können, die seit 1996 hinzugekommen sind. Allerdings bleiben viele Fragen offen. Auf welcher Grundlage die von den Ärzten geforderte betriebswirtschaftliche Kalkulation erfolgen soll, ist nicht geklärt. Über 4000 Leistungen sind avisiert. Angesichts der vielen Fachgebiete und unterschiedlichen Strukturen der Praxen handelt es sich um eine Mammutaufgabe, zu der bislang keine belastbare Datengrundlage vorliegt.

Darüber hinaus stellt sich eine grundsätzliche Frage: Wie können unnötige Mengenausweitungen möglichst vermieden werden? Eine Einzelleistungsvergütung ohne Mengenbeschränkungen verführt dazu, ähnlich wie die Bonusverträge für Ärzte im Krankenhaus. Werden z.B. Anschaffungskosten für Großgeräte umgelegt, dann besteht ein starker Anreiz, die Geräte möglichst häufig zu nutzen, selbst wenn dies nicht sinnvoll ist und bei Patienten zu unnötigen Belastungen führt.

Eine solide betriebswirtschaftlich kalkulierte GOÄ innerhalb der nächsten zwei Jahre erscheint unrealistisch. Eine Gemeinsame Kommission mit Entscheidungskompetenz ist deshalb begrüßenswert. Sie sollte über die Anpassung der GOÄ an neue Behandlungsmethoden und über Qualitätssicherungsmaßnahmen beschließen können. Und sie sollte Maßnahmen gegen unerwünschte und nicht begründete Honorar- und Mengenentwicklungen treffen können. Dies wäre im Sinne der Patienten und Versicherten.


DOI: 10.1007/s10273-016-1987-z

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