Energiepolitik: Endlich Gas geben
Deutschlands Ziel, seine CO2-Emissionen bis 2020 um 40% gegenüber 1990 zu senken, ist wohl trotz der Beteuerungen der Kanzlerin nicht mehr zu schaffen. Seit 2009 wurden hier kaum noch Fortschritte erzielt. Um das Ziel zu erreichen, ist eine radikale Wende im Energie- und Verkehrsbereich, wo die größten CO2-Emissionen anfallen, notwendig. Der Verkehr ist für etwa 166 Mio. t CO2 verantwortlich, dessen Reduktion auf null würde zwar für die Zielerreichung genügen. Dies ist aber kurzfristig und mit dem aktuellen Strommix nicht machbar. Die Elektromobilität wird kommen, aber Zeit benötigen. Der größte Hebel liegt bei der Energieerzeugung. Der von der letzten Bundesregierung eingesetzte Sachverständigenrat für Umweltfragen fordert einen konsequenten Ausstieg aus der Kohleverstromung. Die deutsche Stromproduktion basiert nach wie vor zu etwa 40% auf Kohle, der unbestritten dreckigsten Art der Stromerzeugung, die zudem noch am stärksten subventioniert wird. Besonders alte und emissionsintensive Kohlekraftwerke sollen bis 2020 vom Netz gehen, die letzten würden in den 2030er Jahren abgeschaltet werden. Das ist nicht besonders radikal für ein entwickeltes Industrieland. Eine vereinte Lobby aus Stromkonzernen, der Gewerkschaft IG BCE und der betroffenen Landesregierungen in Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt laufen dagegen Sturm. Aber ohne einen entschlossenen Kohleausstieg kann Deutschland seine Klimaziele nicht erreichen. Unbestritten sind etwa 20 000 bis 30 000 Beschäftigte in der Kohlewirtschaft von einem Ausstieg direkt betroffen. Im Gegenzug entstehen jedoch Arbeitsplätze bei den erneuerbaren Energien, wenn auch nicht zwangsläufig in den ehemaligen Kohlerevieren.
Aber gibt es Alternativen? Selbst bei Einhaltung der beschlossenen Klimaschutzziele wird sich laut „Emissions Gap Report“ des UN-Umweltprogramms die Erderwärmung um mindestens 3°C gegenüber der vorindustriellen Zeit erhöhen. Das Ziel von unter 2°C gilt als Grenze für die Abwendung nicht mehr kontrollierbarer Klimafolgen. Angesichts des eigenen Scheiterns hat Deutschland auf der 23. Klimakonferenz in Bonn unter dem Vorsitz des in seiner Existenz vom Klimawandel bedrohten Inselstaats Fidschi einen schweren Stand.
Was machen die anderen? In den Niederlanden sollen bis 2030 alle Kohlekraftwerke vom Netz genommen werden. Macrons Klimaplan sieht im europäischen Emissionshandel einen Mindestpreis von 25 bis 30 Euro je t CO2 vor, damit würde sich der aktuelle Börsenpreis etwa vervierfachen. Ein solcher Mindestpreis könnte auch von einer kleineren Gruppe von EU-Ländern (Frankreich, Deutschland, Niederlande, nordische Staaten) eingeführt werden. Dazu ist eine Reform des Emissionshandelssystems oder die Einführung einer CO2-Steuer notwendig. Ein damit steigender Großhandelspreis für Strom würde auch zu einer sinkenden Ökosteuerumlage führen. Bei einem CO2-Preis von 25 Euro könnte diese um bis zu 1,7 Cent je kWh fallen. Dies wäre verteilungspolitisch erwünscht, denn es ist nicht einzusehen, warum z.B. Berliner Hartz-IV-Haushalte süddeutsche Besitzer von Photovoltaik-Anlagen subventionieren sollen. Bündnis 90/Die Grünen fordern den Kohleausstieg bis 2030, die FDP die Beachtung marktwirtschaftlicher Prinzipien auch in der Umweltpolitik. Beides lässt sich verbinden, indem auch die externen Kosten der Energieerzeugung wie Klimawandel und Gesundheitsbelastungen berücksichtigt werden. Hier kann die Kanzlerin und ehemalige Umweltministerin, die Deutschland gern als Musterschüler im Klimaschutz darstellt, noch einmal zeigen, ob es diese Position verdient – wenn möglich etwas planvoller und weniger aktionistisch als beim grundsätzlich richtigen Atomausstieg.
Fusion ThyssenKrupp – Tata: Kapazitätsprobleme nicht gelöst
Mit der Stahlsparte von ThyssenKrupp und Tata Steel schließen sich zwei große Stahlerzeuger zum dann nach ArcelorMittal zweitgrößten europäischen Stahlproduzenten zusammen. Aus der Sicht der Unternehmen ergibt eine solche Fusion durchaus Sinn. Denn Stahlerzeuger sind in einer wenig komfortablen Situation zwischen einem Oligopol der Eisenerzproduzenten und der Marktmacht der großen Stahlverwender. Dies macht – auch unabhängig von den derzeitigen Überkapazitäten – Stahl zu einem recht margenschwachen Geschäft. Durch eine Fusion können die beteiligten Unternehmen zum einen ihre Stellung gegenüber Lieferanten wie Kunden etwas stärken, wenn auch zulasten des Wettbewerbs bei Stahlprodukten. Zum anderen gibt es Rationalisierungspotenziale bei Beschaffung und Vertrieb und sicherlich auch Synergien auf der ersten Verarbeitungsstufe von Stahl.
Das Grundproblem der Stahlindustrie in Europa wie weltweit ist aber derzeit ein anderes: Die globalen Rohstahlkapazitäten sind derzeit nur zu gut 70% ausgelastet. Die Diskussion um die Importe von „Billigstahl“ insbesondere aus China suggeriert zwar, dass die Überkapazitäten in erster Linie dort ihren Ursprung haben. Jedoch ist in nahezu allen Erzeugerländern die Auslastung ähnlich gering, auch in Europa. Deutschland ist hier mit einem Auslastungsgrad von gut 85%, der nahe an der technisch möglichen Normalauslastung liegt, eine große Ausnahme. Man kann vor diesem Hintergrund trefflich darüber streiten, was die europäischen Stahlpreise eher niedrig hält: die Importe aus China oder die geringe Kapazitätsauslastung in Europa. Denn bei hohen Fixkosten haben auch europäische Produzenten einen Anreiz, durch Preiszugeständnisse die Auslastung zu verbessern.
Ein Abbau überschüssiger Erzeugungskapazitäten in Europa ist also dringend geboten. Aber gerade dazu dürfte die Fusion von ThyssenKrupp und Tata – zumindest in den kommenden Jahren – keinen Beitrag leisten. Erstens wird das neu gegründete und von der Arbeitnehmerseite ohnehin mit Argwohn betrachtete Gemeinschaftsunternehmen seinen Start wohl kaum damit belasten wollen, als erste Amtshandlung die Schließung eines großen Stahlwerks zu verkünden. Zweitens wird, selbst wenn unternehmensseitig die Bereitschaft zu starken Einschnitten vorhanden wäre, die Politik eine Schließung kaum zulassen. So hat die britische Regierung das Tata-Stahlwerk in Port Talbot, das wohl am wenigsten rentable im neuen Unternehmensverbund, durch eine Übernahme der Betriebsrenten, die die Bilanz erheblich belasteten, überhaupt erst interessant für eine Fusion gemacht. Sie dürfte einen Abbau von mehreren Tausend Arbeitsplätzen in einer eher strukturschwachen Region deshalb kaum hinnehmen. Port Talbot ist bereits der zweite Fall in diesem Jahr, in dem ein wenig rentables Stahlwerk durch die Regierung gerettet wurde. Der erste war das im strukturschwachen Süditalien angesiedelte Ilva-Stahlwerk. Es ist technisch veraltet und verstieß in der Vergangenheit so eklatant gegen Umweltauflagen, dass es unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt wurde. Im Juni wurde das Werk an ArcelorMittal verkauft, der sich zu einer Modernisierung verpflichtete und sogar eine Kapazitätserweiterung in Aussicht stellt – was genau das Gegenteil dessen wäre, was der europäische Stahlmarkt braucht.
Die weltweiten Stahl-Überkapazitäten haben es sogar bis in die Abschlusserklärung des G20-Gipfels in Hamburg geschafft, wo die Mitglieder des Globalen Forums „Stahlkapazitäten“ aufgefordert werden, „zügig konkrete politische Lösungen zum Abbau von Überkapazitäten … zu erarbeiten.“ Zu Hause angekommen, ist allerdings die Neigung offenbar gering, gerade im eigenen Land Kapazitäten stillzulegen. Denn die unangenehme Wahrheit ist, dass dies mit beträchtlichen Jobverlusten einhergehen würde; und dies häufig in strukturschwachen Regionen, in denen es kaum alternative Beschäftigungsmöglichkeiten gibt.
US-Steuerreform: Weiterhin viele Unbekannte
Eine umfassende Steuerreform in den USA – eines der zentralen wirtschaftspolitischen Wahlversprechen Präsident Trumps – rückt einen Schritt näher. Nach mehreren Anläufen liegt mit der Vorlage des „House Comittee on Ways and Means“ nun ein konkreter Entwurf zur Debatte im Kongress vor. Wichtiger Bestandteil ist dabei eine Vereinfachung der Einkommensteuer: so sind künftig nur noch vier statt sieben Steuerstufen geplant. Zudem soll die Steuerbelastung sinken; der Spitzensteuersatz von 39,6% wird nicht reduziert, kommt jedoch erst ab Einkommen von 500 000 US-$ zur Geltung. Mit Blick auf die Unternehmensbesteuerung sieht der Entwurf eine Reduzierung des Körperschaftsteuersatzes von 35% auf 20% vor; für Personengesellschaften, die bislang der Einkommensteuer unterlagen, soll ein einheitlicher Satz von 25% gelten. Insgesamt ergeben sich aus diesen Maßnahmen über die nächsten zehn Jahre Mindereinnahmen von etwa 3 Billionen US-$.
Im Gegenzug sollen durch die Neuregelung des Grundfreibetrags, eine Begrenzung der Absetzbarkeit von Hypothekenzinszahlungen sowie die Beseitigung von Ausnahmeregelungen in der Körperschaftsteuer Mehreinnahmen von etwas mehr als 1 Billion US-$ entstehen. Die Besteuerung von Vermögen oder Einkommen US-amerikanischer Konzerne und Privatpersonen im Ausland soll zusätzlich knapp 300 Mrd. US-$ an Steuereinnahmen bringen. Hierbei ist unter anderem vorgesehen, auf Zahlungstransfers zwischen US-Firmen und ihren ausländischen Tochtergesellschaften eine Abgabe von 20% zu erheben. Vice versa würde dies auch für US-amerikanische Tochtergesellschaften von ausländischen Konzernen gelten. Alles in allem bleibt jedoch ein Finanzierungsbedarf von knapp unter 1,5 Billionen US-$.
Allerdings ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Gesetzesvorlage ohne substanzielle Änderungen verabschiedet wird. Lobbyisten bringen sich auf dem Kapitol bereits in Stellung, um ihre Partikularinteressen einzubringen bzw. zu verteidigen. Von den ambitionierten Absichten könnte daher nach dem parlamentarischen Prozess nicht viel übrigbleiben. Zwar benötigt das Gesetz bei Haushaltsbelastungen von weniger als 1,5 Billionen US-$ keine qualifizierte Mehrheit im Senat. Die Republikaner sind somit nicht auf Stimmen der Demokraten angewiesen. Nicht zu unterschätzen sind jedoch die Divergenzen innerhalb der Republikanischen Partei. Hinsichtlich der Frage, in welchem Umfang die Steuererleichterungen durch die Abschaffung von Ausnahmeregelungen oder die Besteuerung von Auslandsgewinnen US-amerikanischer Konzerne gegenfinanziert werden sollen, bestehen teils deutlich unterschiedliche Ansichten. Strittige Punkte sind darüber hinaus die Absetzbarkeit von Steuern auf kommunaler oder gliedstaatlicher Ebene und die steuerliche Freistellung der privaten Altersvorsorge. Aufgrund ihrer knappen Mehrheit von nur zwei Sitzen im Senat ist ein Scheitern des „Tax Cuts and Jobs Act“ daher keineswegs ausgeschlossen. Aus rein konjunkturpolitischer Sicht kommt eine nicht komplett gegenfinanzierte Steuerreform freilich zur Unzeit. Der Aufschwung in den USA geht nunmehr in sein achtes Jahr; laut Schätzung des Congressional Budget Office ist die Wirtschaft nicht mehr unterausgelastet. Ein fiskalischer Impuls in der vorgesehenen Größenordnung ist demnach nicht angebracht. Zwar setzt die Reform Anreize für Haushalte und Unternehmen, mehr zu konsumieren oder zu investieren. Aufgrund fehlender Produktionskapazitäten im Inland würde jedoch das Handelsbilanzdefizit steigen, da die zusätzlichen Konsum- und Investitionsgüter importiert werden müssten.
Entsenderichtlinie: Mehr Rechtsunsicherheit
Die Entsendung von Arbeitnehmern als Ausdruck der Dienstleistungsfreiheit ist seit den 1990er Jahren einer der wichtigsten Konfliktpunkte im Arbeitsrecht auf europäischer Ebene. Bereits damals war umstritten, welche arbeitsrechtlichen Standards auf entsandte Arbeitskräfte, etwa in der Bauwirtschaft, angewendet werden sollten – entweder die des Herkunfts-, die des Aufnahmestaates oder eine Kombination von beiden. Die Entsendung erhöht den Wettbewerbsdruck auf einheimische Beschäftigte, deren Löhne und Arbeitsbedingungen sowie das Risiko in stark betroffenen Branchen, etwa im Baugewerbe oder der Fleischindustrie, Verdrängungseffekte auszulösen. Auch setzt das Prinzip der Dienstleistungsfreiheit nach diesen Regeln Anreize, Tochtergesellschaften in Ländern mit geringeren Arbeitskosten zu gründen. Insgesamt kann dies die Europaskepsis in den Aufnahmeländern verstärken. Die Entsendung bietet aber auch Chancen für Unternehmen und Arbeitskräfte aus Ländern mit geringeren Arbeitskosten, insbesondere in Mittel- und Osteuropa. Eine stärkere Regulierung entsprechend den Interessen der Aufnahmeländer könnte die Zustimmung zur EU in den Entsendeländern vermindern.
Als Kompromiss zwischen den Regierungen der damaligen Mitgliedstaaten wurde 1996 mit der EU-Entsenderichtlinie vereinbart, dass verbindliche Arbeitsbedingungen des Aufnahmestaates, etwa zu Lohn, Arbeitszeiten und Urlaub, auch für vorübergehend dorthin entsandte Arbeitskräfte angewandt werden sollten. Diese Standards mussten sowohl für Inländer als auch für die Entsandten bzw. deren Arbeitgeber gelten, um eine Diskriminierung von EU-Ausländern zu vermeiden. In Deutschland galt dies bis zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohns nach dem eigens dafür geschaffenen Arbeitnehmerentsendegesetz insbesondere für allgemeinverbindliche Mindestlohn-Tarifverträge, für gesetzliche Höchstarbeitszeiten und den Mindesturlaub. In den Folgejahren entzündeten sich weitere Konflikte an der Um- und Durchsetzung der Entsenderichtlinie und verschiedenen Ausweichreaktionen wie der Beschäftigung von formal selbstständigen Arbeitskräften. Dies wird von Ländern mit hohen Arbeitskosten nach wie vor als eine Bedrohung etablierter Lohn- und Sozialstandards wahrgenommen, da in diesem Fall für die Entsendedauer die Rechtsvorschriften des Herkunftslandes gelten.
Nach der jüngsten, im Wesentlichen auf die Initiative Frankreichs zurückgehenden Vereinbarung der Mitgliedstaaten vom Oktober 2017 sollen jetzt auch geltende Tariflöhne und Zuschläge im Aufnahmeland auf entsandtes Personal angewandt werden. Zusätzlich soll die Entsendung nur noch für zwölf Monate möglich sein, bevor das gesamte Recht des Aufnahmelandes Anwendung findet. Kostendifferenziale bestehen jedoch weiterhin bei den Sozialabgaben, die im Herkunftsland fällig werden. Auch wenn dies noch im Detail konkretisiert werden muss, der wichtige Logistiksektor ausgeklammert bleibt und die neuen Regeln noch unter dem Vorbehalt einer Zustimmung durch das Europäische Parlament stehen, bedeutet dies im Prinzip eine signifikante Verschärfung der bisherigen Regelung. Grundsätzlich handelt es sich bei der Entsendung um eine rechtlich und politisch schwierige Frage. Verglichen mit der hohen politischen Symbolkraft ist die empirische Bedeutung der Arbeitnehmerentsendung jedoch begrenzt und konzentriert sich auf einige wenige Branchen. Auf europäischer Ebene entfielen 2015 knapp 1% der gesamten Beschäftigung auf entsandte Arbeitnehmer. Welches Recht dort anzuwenden sein soll, lässt sich nicht allein politisch klären – die neuen Regeln müssen auch vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand haben können. Vor allem aber dürfte mit der neuen Vereinbarung ein erheblicher Informations- und Kontrollaufwand verbunden sein. Daher wäre es sinnvoller, die bereits jetzt geltenden Regeln im Hinblick auf verbindliche Mindeststandards besser zu implementieren und zu kontrollieren.