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In der Oktoberausgabe 2018 veröffentlichte der Wirtschaftsdienst einen Aufsatz mit dem Titel „Große Summe – großes Problem? Warum die Debatte um die Target-Salden so hitzig ist“ von Adalbert Winkler. Stefan Homburg vertritt hier eine andere Auffassung in einer Replik, im Anschluss erläutert Winkler seinen Standpunkt in einer Erwiderung.

Replik: zwei Korrekturen zur Deutung des Target2-Systems von Adalbert Winkler

Von Stefan Homburg

Adalbert Winkler behauptet in dieser Zeitschrift, Target-Salden könnten nur in Gegenwart von Überschussreserven entstehen.1 Zudem sei ein Target-Saldenausgleich unvereinbar mit dem Mandat der Preisstabilität. Dieser Beitrag zeigt, dass beide Behauptungen logisch und empirisch unzutreffend sind.

Sieben Jahre nach ihrer „Entdeckung“2 haben es die Salden des europäischen Zahlungssystems Target2, kurz Target-Salden genannt, in eine Plenardebatte des Deutschen Bundestags geschafft. In seiner Sitzung vom 28. September 2018 diskutierte der Bundestag, ob von den Salden, deren Höhe für Deutschland einen Betrag von annähernd 1 Billion Euro erreicht hat, Gefahren ausgingen und ob de lege ferenda ein periodischer Saldenausgleich oder wenigstens eine Besicherung angezeigt seien.3 Wie von einem Debattenauftakt nicht anders zu erwarten, gingen die Meinungen der Abgeordneten weit auseinander, und mancher Wortbeitrag machte erschreckende Wissensdefizite deutlich. Umso wichtiger erscheint, dass zumindest in der Fachwelt Einigkeit über Ursachen und Wirkungen der Target-Salden besteht.

In vielen Punkten wurde diese Einigkeit bereits erreicht. Das gilt insbesondere hinsichtlich der Aussage, Target-Salden seien einerseits völlig bedeutungslose Buchungsposten, andererseits aber absolut notwendig für den Fortbestand des Euro; diese antinomische Meinung wird von Wissenschaftlern nicht mehr vertreten. Ebenso ist klar, dass Target-Salden Forderungen bzw. Verbindlichkeiten darstellen, die beim Ausscheiden eines Landes aus der Eurozone glattgestellt werden müssen. Dies hat EZB-Präsident Mario Draghi sogar schriftlich mitgeteilt.4 Schließlich besteht ein universeller Konsens, dass Glattstellungen weder im Lissabonner Vertrag, noch im EZB-Statut oder der Target2-Leitlinie juristisch geregelt sind. Genau diese Rechtsunsicherheit, die der EZB-Rat durch einfachen Beschluss beseitigen könnte, stellt für Gläubigerstaaten wie Deutschland ein Risiko dar. Bei anderen Fragen gibt es allerdings Dissens, und übrigens nicht nur in Deutschland, wie eine einfache Twitterabfrage (#Target2) verdeutlicht. Dieser Beitrag greift zwei wichtige Punkte auf, bei denen noch Klärungsbedarf besteht.

Überschussreserven und Target-Salden

Nach Winklers Ansicht setzt die Entstehung größerer Target-Salden voraus, dass „in mindestens einem EWU-Land durch entsprechende Aktivgeschäfte des Eurosystems Überschussreserven entstehen. Dies war bis Juli 2007 nicht der Fall ... Seit August 2007 kreiert das Eurosystem – also die EZB und die NZB – jedoch Überschussreserven“5. In diesem Zitat behauptet der erste Satz eine Kausalität, der zweite und dritte Satz behaupten Tatsachen. Beide Behauptungen sind unzutreffend.

Abbildung 1 zeigt zunächst, wie sich die Überschussreserven im Eurosystem, also die Bankreserven, soweit sie die Mindestreserveverpflichtung übersteigen, während der Krisenjahre 2007 und 2008 entwickelten. Das Muster entspricht exakt dem US-amerikanischen: Bis einschließlich August 2008 lagen die Überschussreserven bei Null. Nach der Insolvenz von Lehman Brothers im September 2008 stiegen die Überschussreserven dramatisch an; in der Eurozone wachsen sie bis heute. Winklers Aussage, das Eurosystem habe schon ab August 2007 Überschussreserven kreiert, ist ersichtlich falsch. Vielmehr hielt der EZB-Rat den Hauptrefinanzierungssatz bis September 2008 bei 4 % bis 4,25 % und steuerte den Interbankenzins in traditioneller Art durch Verknappung der Bankreserven.

Abbildung 1
Target-Salden und Überschussreserven
Target-Salden und Überschussreserven

Quelle: ECB Statistical Data Warehouse, Zeitreihen TGB.M.DE.N.A094T.U2.EUR.A bzw. TGB.M.FR.N.A094T.U2.EUR.A (Target-Salden), BSI.M.U2.N.R.LRE.X.1.A1.3000.Z01.E (Überschussreserven) sowie ILM.M.U2.C.L020200.U2.EUR (Einlagefazilität). Die dargestellten Überschussreserven sind die Summen der beiden letztgenannten Werte.

Ein ganz anderes Bild zeigen die ebenfalls dargestellten Target-Salden Deutschlands und Frankreichs. Bis zum Sommer 2007, als mit der Düsseldorfer Industriekreditbank und der französischen BNP Paribas die ersten Banken in Schwierigkeiten kamen, also bis zum Beginn der Finanzkrise, bewegten sich die Target-Salden im normalen Schwankungsbereich der Vorjahre. Doch schon Anfang 2008 war der deutsche Target-Saldo auf einen Betrag von 100 Mrd. Euro angewachsen und Frankreichs Target-Saldo stark ins Minus gerutscht. Da die Überschussreserven zu dieser Zeit weiterhin bei Null lagen (exakt gesprochen pendelten sie seit Einführung des Euro zwischen 0 Mrd. Euro und 2 Mrd. Euro), ist erwiesen, dass Überschussreserven keineswegs eine notwendige Voraussetzung für Target-Salden sind.

Bevor dieser Punkt theoretisch vertieft wird, sei kurz bemerkt, warum diese Frage überhaupt wichtig ist. Sie ist wichtig, weil die Target-Salden nach einer von der EZB initiierten und von Winkler fortgesponnenen Legende verschwinden werden, sobald das Eurosystem die Überschussreserven zurückführt: „Dabei besteht Übereinstimmung darin, dass Target-Salden verschwinden, wenn die Geldpolitik wieder normalisiert wird, die EZB die Überschussreserven im Gesamtsystem wieder abbaut.“6 In diesem Punkt besteht allerdings mitnichten Übereinstimmung, da die Target-Salden entgegen Winklers Behauptung keineswegs durch die Überschussreserven des Eurosystems begrenzt werden.

Ein Beispiel zu Target-Salden und Überschussreserven

Auch theoretisch ist kein Grund ersichtlich, warum die Target-Salden nach einer Normalisierung der Geldpolitik verschwinden sollten. Um dies zu zeigen, sei ein vereinfachtes Eurosystem betrachtet, das aus nur zwei nationalen Zentralbanken (NZB) besteht; dabei werden Bargeld sowie nichtmonetäre Aktiva und Passiva vernachlässigt, um auf das Wesentliche zu fokussieren. Die Bundesbank schafft Bankreserven M durch Ankauf von Aktiva B. Analog schafft die Banque de France Bankreserven M* durch Ankauf von Aktiva B*. Bis Sommer 2007 galt näherungsweise B = M und B* = M*, und Target-Salden spielten keine Rolle.

Nach den geltenden Spielregeln können die vorstehend genannten Aktiva und Passiva einer NZB voneinander abweichen; die Bilanzidentitäten bleiben durch Einbuchung von Target-Salden gewahrt. Die konsolidierte Bilanz des Eurosystems lautet B+B* = M+M*. Betrachtet sei nun ein Ausgangszustand, in dem die Target-Salden verschwinden und die Bankreserven M bzw. M* exakt den Mindestreserveverpflichtungen der jeweiligen nationalen Geschäftsbanken entsprechen. Es gibt also keine Überschussreserven. Senkt man nun B, die Aktiva der Bundesbank, um einen beliebigen Betrag und erhöht B*, die Aktiva der Banque de France, um denselben Betrag, bleibt die Geldbasis B+B* = M+M* unverändert. Somit existieren nach wie vor keine Überschussreserven. Zugleich aber entstehen eine Target-Forderung der Bundesbank in Höhe von M-B und eine Target-Verbindlichkeit der Banque de France in Höhe von B*-M*. Entgegen Winklers Annahme werden Target-Salden nicht durch das Niveau der Überschussreserven begrenzt, sondern durch das Niveau der wesentlich größeren Geldbasis.7

Was bedeuten die vorstehenden Überlegungen für einen hypothetischen Ausstieg des Eurosystems aus dem „quantitative easing“ (an das zu glauben schwerfällt, da der EZB-Rat selbst jetzt, bei guter Konjunktur und ein Jahrzehnt nach Ende der Finanzkrise, die Überschussreserven weiterhin Monat für Monat erhöht)? Selbst wenn die Überschussreserven nach Rückabwicklung des Wertpapierankaufprogramms (asset purchase programme), der Einstellung der langfristigen Refinanzierungsgeschäfte (long-term refinance operations) sowie der Beendigung der Vollzuteilung und der ELA-Operationen auf Null zurückgehen, können die Target-Salden unbegrenzt fortexistieren. Dies setzt lediglich voraus, dass die NZB der Problemstaaten überproportional viele Aktiva halten und die korrespondierenden Verbindlichkeiten, also die Bankreserven, im sicheren Hafen der Bundesbank bleiben. Die von Winkler und der EZB geschürten Hoffnungen, ein Rückgang der Überschussreserven bringe die Target-Salden zum Verschwinden, sind unsubstantiiert.

Wirkungen eins Target-Saldenausgleichs

Im föderativen Zentralbanksystem der USA gibt es ebenfalls Target-Salden, die dort ISA-Salden heißen (Interdistrict Settlement Accounts). Anders als im Eurosystem werden diese Salden jeweils zum 1. April glattgestellt, und zwar durch Übertrag von Anteilen an einem Wertpapierportfolio, das die Federal Reserve Bank of New York im Auftrag aller Distriktbanken treuhänderisch verwaltet.8 Durch dieses sogenannte „rebalancing“ werden die Salden alljährlich glattgestellt. Es stellt sich die Frage, ob ein Saldenausgleich nach amerikanischem Vorbild auch in der Eurozone eingeführt werden sollte. Rechtlich müsste hierzu lediglich die EZB-Leitlinie über das Zahlungssystem geändert werden.

Winkler stellt diese Frage ebenfalls, schiebt sie aber sogleich zur Seite und ersetzt sie durch den davon verschiedenen Vorschlag, Obergrenzen innerhalb des Target2-Systems einzuziehen.9 Anschließend beschreibt er die „Risiken einer Welt ohne Target-Salden“ und tritt abermals in Draghis Fußstapfen, der den Befürwortern des Saldenausgleichs unterstellte, ihr Vorschlag beruhe auf reiner Abneigung gegen den Euro.10 Vor allem aber behauptet Winkler, dass ein Ausgleich von Target-Salden „mit einer Zentralbank unvereinbar ist, die Preisstabilität als primäres Ziel anzustreben hat“11. Hierzu ist dreierlei anzumerken. Erstens sind „Obergrenzen“ untunlich und können von niemandem ernsthaft gefordert werden. Zweitens würde ein Saldenausgleich nach amerikanischem Vorbild die Funktionsfähigkeit der Eurozone in keiner Weise beeinträchtigen. Drittens beeinträchtigt der Saldenausgleich das primäre Mandat der Preisniveaustabilität keineswegs. Nachfolgend wird dargelegt, dass der Saldenausgleich vielmehr vollkommen wirkungslos ist, solange die Eurozone in ihrer jetzigen Form Bestand hat. Als Vorsorge für die Fälle des Zusammenbruchs der Eurozone bzw. des Ausscheidens einzelner Mitglieder ist der Saldenausgleich jedoch von entscheidender Bedeutung.

Abbildung 2
Zwei-Länder-Eurosystem
Zwei-Länder-Eurosystem

Quelle: eigene Darstellung.

Um dies zu zeigen, greift Abbildung 2 auf das vorige Modell einer Zwei-Länder-Eurozone zurück und zeigt stilisierte Bilanzen der Bundesbank und der Banque de France. Dabei hält die Bundesbank eine Target-Forderung, der eine gleich große Target-Verbindlichkeit der Banque de France gegenübersteht. Was wäre im Jahr 2007 geschehen, wenn die Banque de France Vermögenswerte in Höhe ihrer Target-Verbindlichkeit übertragen hätte? Die Antworten ergeben sich unmittelbar aus den beiden Bilanzen:

  • Für die Bundesbank bedeutet der Saldenausgleich einen Aktivtausch: Sie verliert ihre Target-Forderung und erhält im Gegenzug Aktiva, die zuvor von der Banque de France gehalten wurden.
  • Bei der Banque de France bewirkt der Saldenausgleich eine Bilanzverkürzung: Sie verliert einen Teil ihrer Aktiva und die entsprechende Target-Verbindlichkeit.

Offenbar hat der Saldenausgleich keine Auswirkung auf die nationalen Bankreserven, und das ist der springende Punkt. Sowohl deutsche als auch französische Banken verfügen nach Ausgleich der Salden über dieselben Zahlungsmittel wie zuvor. Die Fähigkeit des Eurosystems, seine Bilanzsumme und damit die Geldbasis durch Ankauf weiterer Aktiva vertikal auszudehnen, wenn das Mandat der Preisniveaustabilität dies erfordert, hat nicht das mindeste mit der horizontalen Verschiebung dieser Aktiva zu tun; die Verschiebung beeinflusst nicht einmal die regionale Verteilung der Bankreserven. Für die beteiligten Volkswirtschaften ist der Saldenausgleich demnach allokativ neutral. Was aber, so könnte man fragen, geschieht, wenn eine NZB sämtliche monetären Aktiva verliert? In diesem Fall schrumpfen auch die nationalen Bankreserven auf Null, und die nationalen Geschäftsbanken werden illiquide. Target2 kann ein solches Szenario aber nicht verhindern, da es lediglich die Aktiva der NZB schützt, nicht aber die volkswirtschaftlich relevanten Bankreserven.12 In Abwesenheit des Saldenausgleichs bleiben der betreffenden Zentralbank zwar ihre Aktiva erhalten, doch werden die Bankreserven vollständig durch die Target-Verbindlichkeit verdrängt, weshalb die nationalen Geschäftsbanken auch im geltenden System keine Zahlungsaufträge mehr ausführen können.

Ein richtig konzipierter Vergleich der Welten ohne und mit Saldenausgleich führt daher zu folgendem Ergebnis: Solange die Eurozone in ihrer jetzigen Zusammensetzung Bestand hat, ist der Saldenausgleich allokativ neutral. Indes entfaltet er distributive Wirkungen, sobald die Eurozone zerfällt oder einzelne Mitgliedstaaten ausscheiden. Spieltheoretisch ist dieser Punkt auch für die Politiken der Mitgliedstaaten von Belang, soweit sie distributive Wirkungen in ihre Kalküle einbeziehen. Beim Ausstieg eines Landes wie Italien ist es für das restliche Eurosystem besser, Aktiva der Banca d’Italia schon vorher per Saldenausgleich erhalten zu haben, als nach dem Ausstieg die rechtlich ungeregelte Glattstellung der Target-Verbindlichkeit Italiens zu erstreiten.

Damit verbleibt nur eine Betrachtung des populären Gegenarguments, ein Saldenausgleich belaste die Bilanzen der Target-Gläubiger mit fragwürdigen Aktiva. Richtig ist, dass italienische oder spanische Staatsanleihen und Bankforderungen mit erheblichen Bonitäts- und Redenominationsrisiken behaftet sind, da das Eurosystem seit langem qualitativ schlechte Papiere akzeptiert und die Gefahr eines Auseinanderbrechens der Eurozone durchaus besteht. Ein Saldenausgleich verlagert diese Risiken zweifellos in die Gläubigerbilanzen. Aber es bedarf doch nur einer Prise gesunden Menschenverstandes, um zwischen den folgenden Alternativen richtig zu wählen: Möchten Sie lieber ein riskantes Wertpapier oder einen rechtlich unsicheren Anspruch auf dieses Wertpapier? Die erste, dominante Alternative entspricht einem Target-System mit Saldenausgleich, die zweite dem bisherigen System.

Zusammengefasst wäre der Saldenausgleich sehr wünschenswert. Dass man ihn trotz der Konstruktion der Eurozone nach US-Vorbild nicht explizit geregelt hat, könnte auf der Absicht beruhen, die Austrittskosten mutmaßlicher Gläubigerstaaten in die Höhe zu treiben und sie dadurch an das System zu ketten. In diesem Fall hätte man jedoch übersehen, dass die geltenden Spielregeln den Schuldnern Austrittsgewinne verheißen. Mit Blick auf Italien könnte sich diese Fehlkalkulation als fatal erweisen.

  • 1 A. Winkler: Große Summe – großes Problem? Warum die Debatte um die Target-Salden so hitzig ist, in: Wirtschaftsdienst, 98. Jg. (2018), H. 10, S. 744-751, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2018/10/grosse-summe-grosses-problem-warum-die-debatte-um-die-target-salden-so-hitzig-ist/ (9.1.2019).
  • 2 Durch H.-W. Sinn, T. Wollmershäuser: Target-Kredite, Leistungsbilanzsalden und Kapitalverkehr: Der Rettungsschirm der EZB, Ifo Working Paper, Nr. 105, 2011.
  • 3 Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 19/53, vom 28.9.2018, S. 5711-5725.
  • 4 M. Draghi: Brief an die Europaabgeordneten Marco Valli und Marco Zanni vom 18.1.2017.
  • 5 A. Winkler, a. a. O., S. 746.
  • 6 Ebenda, S. 747.
  • 7 Gleichlautend A. Steiner, S. Steinkamp, F. Westermann: Exit Strategies, Capital Flight and Speculative Attacks: Europe’s Version of the Trilemma, CESifo Working Paper Series, Nr. 6753, 2017.
  • 8 A. L. Wolman: Federal Reserve Interdistrict Settlement, in: Federal Reserve Bank of Richmond Economic Quarterly, 99. Jg. (2013), H. 2, S. 117-141.
  • 9 A. Winkler, a. a. O., S. 750.
  • 10 M. Draghi: Pressekonferenz vom 26.7.2018, Frankfurt, https://www.ecb.europa.eu/press/pressconf/2018/html/ecb.is180726.en.html (24.9.2018): „[P]eople who want to cap [Target2], collateralise, limit – the truth is that they don’t like the euro.“
  • 11 A. Winkler, a. a. O., S. 750.
  • 12 S. Homburg: Speculative Eurozone Attacks and Departure Strategies, Hannover Economic Papers (HEP), Nr. 640, 2018.

Erwiderung: kaum Korrekturbedarf

Von Adalbert Winkler

Stefan Homburg mahnt in seiner Replik zu meinem Beitrag „Große Summe – großes Problem? Warum die Debatte über die Target-Salden so hitzig ist“1 Korrekturen an. Der Korrekturbedarf ist aber gering, weil es viel Übereinstimmung zu geben scheint, soweit sich die Replik auf konkrete Passagen meines Beitrags bezieht. Unterschiede gibt es aber in der Beurteilung der Target-Debatte insgesamt.

Target-Debatte und Wissenschaft

Homburg beginnt die Replik mit seiner Sicht auf die Target-Debatte. Dabei vertritt er den Standpunkt, dass sich die Wissenschaft in vielen Punkten einig ist. Die kontroverse Diskussion, die der jüngste Vorstoß von Sinn auslöste,2 spricht gegen diese Auffassung. Entsprechend war es Ziel meines Beitrags zu erläutern, warum die Debatte so hitzig ist.

Der Dissens beginnt bei der Frage, wie Target-Salden entstehen. So gibt es die Sichtweise, dass der deutsche Target-Saldo entstand, „weil die Bundesbank im Auftrag anderer Notenbanken Geld geschaffen hat und es nach den Wünschen der ausländischen Auftraggeber für den Kauf von Gütern und Vermögenswerten, für die Schuldentilgung sowie auch für den Aufbau von Kassenbeständen in Deutschland bereitgestellt hat, während die anderen Zentralbanken im gleichen Umfang Geld eingezogen haben.“3 Dieser Sichtweise wird z. B. von Hellwig4 und anderen deutlich widersprochen.

Target-Salden und Überschussreserven

Im Mittelpunkt des ersten Teils meines Beitrags steht der Versuch, diesen Dissens zu klären. Ich komme zu dem Ergebnis, dass Target-Salden entstehen, wenn in einem EWU-Land die dortige nationale Zentralbank (NZB) durch entsprechende Aktivgeschäfte Reserven schafft, die über das Target-System in ein anderes EWU-Land übertragen werden. Nicht die Gläubiger-, sondern die Schuldner-NZB schafft also Reserven, d. h. Geld. Damit diese Reserven das Land aber netto verlassen können, müssen sie für das Bankensystem des Target-Schuldnerlandes Überschussreserven sein. Wären es nämlich Mindestreserven, müssten sie bei der NZB, die die Reserven geschaffen hat, gehalten werden. Genau dies war vor 2007 im Eurosystem weitgehend der Fall, und deshalb lagen die Target-Salden praktisch bei Null. Das von Homburg sowohl empirisch als auch theoretisch angeführte Deutschland-Frankreich-Beispiel bestätigt diese Sichtweise.5 2007/2008 transferierten die französischen Banken Reserven nach Deutschland, die sie zuvor von der Banque de France durch eine Ausweitung ihres Aktivgeschäfts erhalten haben. Es gilt also: „TARGET-Salden können nur entstehen, wenn in mindestens einem EWU-Land durch entsprechende Aktivgeschäfte des Eurosystems Überschussreserven entstehen.“ Nicht die Bundesbank schafft Geld, sondern die Banque de France; diese zieht nicht (in Frankreich) Geld ein, sondern der private Sektor überweist es nach Deutschland. Dass die NZBs der Target-Schuldnerländer – als Teil und im Auftrag des Eurosystems – Geld schaffen, das vom privaten Sektor umverteilt wird und dadurch die Target-Salden entstehen – ist der Kerngedanke des ersten Teils meines Beitrags. Gleichzeitig wird erläutert, warum das Eurosystem diese Politikänderung vornahm: Es handelte als Lender of Last Resort (2007 bis 2012) bzw. betrieb eine Politik des Quantitative Easing (2015 bis 2018). Unter den gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen Target-Salden abzulehnen, bedeutet daher diese Politiken abzulehnen.

Homburg hat Recht, dass dabei keine Überschussreserven im System als Ganzes entstehen müssen. Genau so steht es auch in meinem Beitrag:6 Solange die Bankensysteme jener Länder, in die die Reserven fließen, ihre Verschuldung bei den jeweiligen NZBs abbauen – in Homburgs Beispiel: die deutschen Banken bauen ihre Verschuldung bei der Bundesbank ab – kommt es zu Target-Salden, ohne dass im System als Ganzes Überschussreserven entstehen. Die Salden spiegeln die Umverteilung der Forderungen aus geldpolitischen Operationen von NZBs (hier: von Deutschland nach Frankreich) wider. Überschussreserven im System entstehen erst, wenn – um im Beispiel zu bleiben – das deutsche Bankensystem die Reserven nicht mehr zur Rückzahlung von Krediten der Bundesbank nutzt. Dies war nach dem Konkurs von Lehman der Fall.

Seit Herbst 2008 geht der Aufbau der Target-Salden jedoch mit Überschussreserven im System und einer entsprechenden Ausweitung der EZB-Bilanz einher.7 Sofern die EZB ihre Blanz wieder verkürzt, d. h. die Überschussreserven im System zurückfährt, werden die Target-Salden daher wieder sinken, ohne ganz verschwinden zu müssen. Hier besteht der Korrekturbedarf; denn Target-Salden können aufgrund der oben erörterten bilanziellen Zusammenhänge fortbestehen, sofern es weiterhin Kapitalflucht gibt. Ganz verschwinden werden die Target-Salden nach Rückführung des Quantitative Easing nur dann, wenn der Geldmarkt wieder funktioniert, also Banken mit Liquiditätsdefiziten diese auf dem Geldmarkt decken können. Der Kerngedanke meines Beitrags bleibt von dieser Klarstellung allerdings unberührt: Target-Salden entstehen durch Lender-of-Last-Resort-Politik und Quantitative Easing, die der private Sektor nutzt, um Reserven, die durch Aktivgeschäfte der Target-Schuldnerland-NZB entstanden sind, an Banken in den Target-Gläubigerländern zu transferieren. Die Bundesbank, als größte Target-Gläubiger-NZB ist dabei passiv; sie schafft kein Geld und gibt auch keinen Kredit.

Target-Obergrenzen, Saldenausgleich und Preisstabilität

Target-Salden werden in Deutschland heftig debattiert, weil sie mit „echten Risiken für Deutschland“8, die sich in der Auslandsvermögensposition der Bundesbank und damit auch Deutschlands widerspiegeln, verbunden sind. Das Risiko besteht darin, dass sich der positive Target-Saldo, der einer Forderung der Bundesbank gegenüber dem Eurosystem entspricht, in Luft auflöst, weil die NZBs der Länder mit negativen Target-Salden den entsprechenden Verbindlichkeiten gegenüber dem Eurosystem nicht mehr nachkommen. Das dürfte Konsens sein. Der Dissens zu Homburg liegt erneut in der Interpretation des Zustands der Target-Debatte. Denn Homburg behauptet, dass zur Risikobegrenzung niemand ernsthaft Target-Obergrenzen fordert. Dem ist nicht so.9 Ich folge daher Sinns – und nicht Draghis – Fußstapfen und analysiere im zweiten Teil meines Beitrags, welche Implikationen sich aus Target-Salden-Obergrenzen für die Fähigkeit des Eurosystems ergeben würden, als Lender of Last Resort zu agieren und Quantitative Easing zu betreiben: Sie würden dessen Fähigkeit beeinträchtigen bzw. könnten sie unmöglich machen, und sind daher – hier ist Homburg erneut zuzustimmen – „untunlich“.

Um Risiken zu begrenzen wird daher alternativ vorgeschlagen, Target-Salden auszugleichen bzw. zu tilgen, und zwar durch Gold oder andere werthaltige Aktiva.10 Der Vorschlag ist konsequent, weil nur dann mit dem Ausgleich die Risiken, denen die Bundesbank und andere NZBs mit positivem Target-Saldo ausgesetzt sind, substanziell verändert werden. Ich komme zu dem Ergebnis, dass auch dieser Vorschlag die Fähigkeit der EZB beeinträchtigen würde, als Lender of Last Resort aufzutreten und Quantitative Easing zu betreiben, weil sie von der Verfügbarkeit jener Aktiva, die zum Saldenausgleich akzeptiert werden, begrenzt würde. Konkret: Würde allein Gold als Saldenausgleichsmittel akzeptiert, würde eine Art Goldstandard durch die Hintertür eingeführt. Goldstandard und Preisstabilität als primäres Ziel sind jedoch unvereinbar. Auch das sollte Konsens sein.

Etwas anderes ist es, wenn – wie Homburg es vorschlägt – der Saldenausgleich über genau jene Aktiva erfolgt, die das Eurosystem erwirbt und die die Target-Salden erst ermöglichen. Dann gibt es – wie im derzeit praktizierten US-System – diese Beeinträchtigung nicht. Insofern habe ich aus geldpolitischer Sicht gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden. Er verändert aber die Risiken nur insofern, als die Bundesbank statt einer Forderung gegenüber dem Eurosystem direkte Forderungen gegenüber dem italienischen, spanischen etc. Staat bzw. italienischen, spanischen etc. Banken halten würde. Es gibt Beobachter, die ebenfalls „eine Prise gesunden Menschenverstandes“ besitzen, und zu dem Ergebnis kommen, dass die Risiken für Deutschland bei einem solchen Saldenausgleich größer wären als im aktuellen System. Nicht zuletzt deshalb spiegelt das aktuelle System das Drängen der Bundesbank wider, die Staatsanleihen, die das Eurosystem im Rahmen von Quantitative Easing erwirbt, zum großen Teil den Bilanzen der jeweiligen NZBs zuzuschreiben. Unabhängig davon halten Target-Kritiker wie z. B. Sinn11 den Ausgleich durch andere Aktiva für zielführender als die US-amerikanische Praxis des Ausgleichs.

Kurz gesagt: Ich sehe keinen Korrekturbedarf, der über die Klarstellung hinausgeht, dass die Target-Salden zwar sinken, aber nicht verschwinden müssen, wenn der geldpolitische Status quo vor Lehman wieder erreicht wird. Der Kern meines Beitrags bleibt von der Replik unberührt: Target-Salden entstehen durch Lender-of-Last-Resort- und Quantitative-Easing-Politiken, die es Bankensystemen von EWU-Ländern ermöglichen, Reserven, die in diesen Ländern entstanden sind, auf Bankensysteme in anderen EWU-Ländern zu übertragen. Forderungen, Target-Salden zu begrenzen oder durch andere als jene Aktiva auszugleichen, auf deren Basis sie erst entstehen konnten, laufen darauf hinaus, die EZB in ihrer Fähigkeit einzuschränken, als Lender of Last Resort zu handeln und Quantitative Easing zu betreiben. Entsprechend sind die Risiken aus den Target-Salden gegen jene Risiken abzuwägen, die aus einem Verzicht oder einer Beschränkung dieser Politiken entstehen würden.

  • 1 S. Homburg: Replik: zwei Korrekturen zur Deutung des Target2-Systems von Adalbert Winkler, in: Wirtschaftsdienst, 99. Jg. (2019), H. 1, S. 70-73.
  • 2 H. W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Euro, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.7.2018; H. W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Target-Forderungen der Bundesbank: Was steckt dahinter?, in: ifo-Schnelldienst, 71. Jg. (2018), H. 14, S. 26-37; H. W. Sinn: Irreführende Verharmlosung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.8.2018.
  • 3 H. W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Target-Forderungen der Bundesbank ..., a. a. O., S. 26.
  • 4 M. Hellwig: Wider die deutsche Target-Hysterie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.7.2018.
  • 5 S. Homburg, a. a. O., Abbildungen 1 und 2, Seite 71 f.
  • 6 Vgl. A. Winkler: Große Summe – großes Problem? Warum die Debatte um die Target-Salden so hitzig ist, in: Wirtschaftsdienst, 98. Jg. (2018), H. 10, S. 746, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2018/10/grosse-summe-grosses-problem-warum-die-debatte-um-die-target-salden-so-hitzig-ist/ (9.1.2019).
  • 7 Entsprechend war der Rückgang der Bilanzsumme 2012 bis 2014 mit einer Reduktion der Überschussreserven und der Target-Salden verbunden.
  • 8 H. W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Euro ..., a. a. O.
  • 9 „Der einfachste Weg [die Risiken für Deutschland zu reduzieren – AW] bestünde darin, jedem Land eine feste, zu seiner Wirtschaftsleistung proportionale Obergrenze für die Target-Verbindlichkeiten vorzuschreiben.“ Vgl. H. W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Target-Forderungen der Bundesbank ..., a. a. O., S. 36. Fuest und Sinn erneuern die Forderung einer Saldenbegrenzung; vgl. C. Fuest, H. W. Sinn: Target-Risiken ohne Euro-Austritte, in: Ifo-Schnelldienst, 71. Jg. (2018), H. 24, S. 15-25
  • 10 Vgl. H. W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Target-Forderungen der Bundesbank ..., a. a. O., S. 36.
  • 11 Ebenda.

Title:Debate about Target Balances – Reply and Response

Abstract:

Reply of Stefan Homburg: In a previous article, Adalbert Winkler alleges that significant balances in the eurozone’s Target2 system presuppose the existence of excess reserves, and that a US style rebalancing would make it impossible for the ECB Governing Council to fulfil its mandate. Homburg shows that both allegations are incorrect. Response of Adalbert Winkler: Neither of these allegations have been made in the previous article. Thus, there is no need for any substantial revision of the claim that the introduction of ceilings on Target balances or a settlement via non-policy assets would be inconsistent with the ECB’s price stability mandate.

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DOI: 10.1007/s10273-019-2397-9