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Cum-Ex-Skandal: Die Zeit drängt

Von Norbert Walter-Borjans

Immer neue Details über die sogenannten Cum-Ex-Geschäfte machen fassungslos: Um über 30 Mrd. Euro wurden die deutschen Steuerzahler geprellt. Zum Vergleich: Durch die Körperschaftsteuer hat der Staat 2017 etwa 29,3 Mrd. Euro eingenommen. Europaweit haben sich trickreiche Finanzakrobaten sogar 55 Milliarden an Steuern „erstatten“ lassen, die sie nie gezahlt hatten. Die Ehrlichen haben die Staatskasse mit ihren Beiträgen in der Annahme gefüllt, dass sie damit Bildung, Infrastruktur, Sicherheit und Zusammenhalt finanzieren. Jetzt müssen sie feststellen, dass sich Finanzakrobaten aus diesem Topf hemmungslos bedient haben. Gelungen ist ihnen das, weil sie Lücken in der Gesetzgebung und im Gesetzesvollzug sehr geschickt so kombiniert haben, dass die lediglich einmal gezahlte Kapitalertragsteuer auf Dividenden gleich zu mehreren erstattungsfähigen Steuergutschriften führte. Die Gesetzgebungslücke bestand darin, dass für eine Kapitalertragsteuerzahlung überhaupt mehrere Gutschriften entstehen konnten. Die Gesetzesvollzugslücke ergab sich, weil die erstattenden Stellen gar nicht überblicken konnten, ob eine Steuererstattung schon gegenüber anderen erfüllt worden war. Eines stand allerdings immer zweifelsfrei fest: Die mehrfache Erstattung einer einmal gezahlten Steuer war vom Gesetzgeber nie beabsichtigt. Wer anders handelte, musste wissen, dass er de facto die Allgemeinheit betrog.

Dass die Dimension des Schadens heute in etwa beziffert werden kann, hat damit zu tun, dass die lange Zeit hermetisch abgeriegelte Finanzwelt undichte Stellen bekommen hat. Whistleblower, Informationen auf Steuer-CDs und die Ergebnisse anschließender Hausdurchsuchungen bei Banken und Finanzdienstleistern haben dazu beigetragen, dass der „Closed Shop“ der Steuertrickser aufgemischt werden konnte. Nach mancher folgenschweren Panne im Umgang mit der schamlosen Bereicherung von Teilen der Finanzbranche und wohlhabender Kunden hat die Politik jetzt die verdammte Pflicht, keine Zeit mehr verstreichen zu lassen. Wenn rechtschaffene Arbeitnehmer und Gewerbetreibende jetzt auch noch den Eindruck gewinnen müssten, dass man ihnen nicht die kleinste Ungereimtheit durchgehen lässt, bei der Aufarbeitung eines 30-Milliarden-Coups aber sehenden Auges auf den Ablauf von Verjährungsfristen zusteuert, droht ein weiterer Verlust des Vertrauens in die Handlungsfähigkeit und vor allem in den Handlungswillen der Politik.

Dem Land Nordrhein-Westfalen kommt dabei eine besondere Rolle zu, weil das Bundeszentralamt für Steuern seinen Sitz in Bonn hat und deshalb viele Fälle bei der Kölner Staatsanwaltschaft angesiedelt sind. Aber auch der Bund und die anderen Länder sind gefragt, Nordrhein-Westfalen zu unterstützen und zugleich zu drängen, das Thema nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Schon die Große Koalition auf Bundesebene hat in der vergangenen Legislaturperiode kein gutes Bild abgegeben, als sie dem Bundestag beschied, dass der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zu Cum-Ex eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre, obwohl das Gremium viele Versäumnisse, Abstimmungs- und Kommunikationsdefizite zutage gefördert hat. Nicht zuletzt deshalb hat vieles viel zu lang gedauert. Wenn jetzt auch nur der Verdacht entstünde, dass die nordrhein-westfälische Landesregierung ihre Kräfte lieber auf andere öffentlichkeitswirksame Felder der Verbrechensbekämpfung konzentriert, weil man der Cum-Ex-Klientel weniger gern auf die Füße tritt, wäre das fatal. Profitieren würden davon am Ende Populisten, die sich bisher nicht dadurch hervorgetan haben, persönliche Bereicherung zulasten der Allgemeinheit entschieden zu bekämpfen.

Urheberrechtsreform: Nebenwirkungen voraus

Von Christian Rusche, Marc Scheufen

Am 26.3.2019 hat das Europäische Parlament trotz zahlreicher Proteste ein neues Urheberrecht beschlossen. Ziel der Reform ist es zum einen, die Regeln im Europäischen Wirtschaftsraum zu vereinheitlichen, um so einen attraktiven digitalen Binnenmarkt zu schaffen. Einheitliche Regeln ermöglichen es EU-Unternehmen und darunter insbesondere Start-ups, ihre Geschäftsmodelle zu skalieren und damit bessere Chancen im Wettbewerb mit dominanten chinesischen und US-amerikanischen Plattformen zu erreichen. Zum anderen sollte durch die Reform die Verhandlungsposition der Rechteinhaber im Umgang mit den Plattformen gestärkt werden. Dazu wurde ein neues Leistungsschutzrecht für Presseverlage in Artikel 15 (alt Artikel 11) der EU-Urheberrechts-Richtlinie sowie entsprechende Regeln für Plattformen in Artikel 17 (alt Artikel 13) eingeführt.

Durch Artikel 15 sollen Presseverlage eine faire sowie angemessene Vergütung bekommen. Zudem sollen sie ihre Forderungen durch eine verbesserte Verhandlungsposition gegenüber marktmächtigen Plattformen wie Google leichter durchsetzen können. Konkret fordert die Richtlinie, dass zukünftig z. B. Suchmaschinen nur noch in Form einzelner Worte (auch Hyperlinks) oder sehr kurzer Auszüge auf Texte von Presseverlagen verweisen dürfen. Diese Neuregelung konterkariert den Zweck von Suchmaschinen – d. h. das Auffinden von Beiträgen auf der Basis eines Suchbegriffs –, weil z.B. Google infolge der Urheberrechtsreform europäische Verlage herausnimmt oder nur nicht aussagekräftige Informationen darstellt. Dadurch ist zu befürchten, dass das neue Leistungsschutzrecht negative Auswirkungen auf die Urheber hat. So können bisher die Umsätze unter Anwendung einer Suchmaschine steigen, da potenziell mehr Nutzern Beiträge verkauft sowie Anzeigen geschaltet werden können. Vor diesem Hintergrund ist zumindest fraglich, ob dies zur Erreichung eines sicherlich legitimen Ziels geeignet ist und ob die von der Europäischen Kommission erwarteten positiven Wirkungen auf Produktion und Verfügbarkeit tatsächlich eintreten. Die Erfahrungen mit der Einführung eines Leistungsschutzrechts in Deutschland stützen diese Vorahnung.

Artikel 17 möchte die Position von Rechteinhabern stärken, die mehr oder weniger freiwillig zur Attraktivität von digitalen Plattformen, wie YouTube oder Instagram, beitragen: Die Nutzer dieser Plattformen haben die Möglichkeit, selbst Inhalte hochzuladen, die sie dann mit anderen Nutzern teilen können. Je mehr Nutzer eine Plattform hat, desto attraktiver ist sie für weitere Nutzer und damit insgesamt für Werbekunden. Da in diesem Zusammenhang insbesondere die Inhalte der Rechteinhaber über vermutlich unautorisierte Uploads der Nutzer die Attraktivität der digitalen Plattform enorm steigern, greift die Europäische Union ein. Durch die beschlossenen Regelungen müssen die Plattformen nun sicherstellen, dass vor Veröffentlichung das Einverständnis des Rechteinhabers vorliegt. Aufgrund der Masse an hochgeladenen Inhalten, die nur durch ein fehleranfälliges automatisiertes Verfahren zu bewältigen wären, dürfte jedoch das Ausmaß an blockierten, aber unbedenklichen Inhalten zunehmen. Zudem wird durch den Beschluss per Gesetz den marktmächtigen Plattformen die Entscheidung über darzustellende Inhalte übertragen. Es ist zumindest zweifelhaft, ob man die Position der Plattformen schwächt, indem ihnen zusätzliche Kompetenzen übertragen werden.

Angesichts des drohenden Wählerverlustes bei der bevorstehenden Wahl des Europäischen Parlaments scheint die CDU – deren Europa-Abgeordneter Axel Voss die Abstimmung im Parlament vorangetrieben hatte – mittlerweile zurückzurudern und insbesondere den Artikel 17 bei der Umsetzung ins nationale Recht abschwächen und somit Uploadfilter verhindern zu wollen. Einsicht bei den Nebenwirkungen der Reform sieht allerdings anders aus.

Kassenwettbewerb: Mehr Licht als Schatten

Von Jürgen Wasem

Gesetze müssen aktuell „schöne“ Namen haben. So ist es denn das „Faire-Kassenwahl-Gesetz“, zu dem Gesundheitsminister Jens Spahn Ende März einen Referentenentwurf vorgelegt hat. Dem sind drei Jahre intensiver Reformdebatten vorausgegangen; insbesondere über die Weiterentwicklung des Finanzausgleichs zwischen den Krankenkassen, dem sogenannten „morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich“ (kurz: Morbi-RSA). Der Morbi-RSA bemisst die Zuweisungen, die Krankenkassen aus dem Gesundheitsfonds bekommen, um damit ihre Leistungsausgaben und Verwaltungskosten zu finanzieren. Seine Spielregeln entscheiden vor allem darüber, wie hoch der Zusatzbeitrag ist, den eine Krankenkasse erheben muss, um ihren Haushalt ausgleichen zu können.

Zwei Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA, die Ende 2017 und im Sommer 2018 vorgelegt wurden, stehen wesentlich Pate für zentrale Reformvorschläge des Ministers. Der Beirat hatte umfassende empirische Untersuchungen zu Reform­ansätzen vorgelegt. So greift der Gesetzentwurf etwa auf, dass künftig alle Erkrankungen im Finanzausgleich berücksichtigt werden sollen. Bei der 2009 politisch umstrittenen Einführung des Morbi-RSA hatten sich CDU, CSU und SPD als Kompromiss darüber verständigt, nur für bis zu 80 Krankheiten die Morbidität zur Basis der Zuweisungen zu machen. Im Übrigen blieb es bei der bis dahin praktizierten Orientierung der Zuweisungen primär an Alter und Geschlecht. Das hat sich zunehmend als problematisch erwiesen: Versicherte, die an den Nicht-RSA-Erkrankungen leiden, sind aktuell für die Kassen „schlechte Risiken“.

Auch übernimmt der Gesetzentwurf den Vorschlag der Beiräte, in das Ausgleichssystem künftig eine „Regionalkomponente“ aufzunehmen. Eine Fülle von Gründen führt dazu, dass die gleiche Morbidität insbesondere im städtischen Raum kostenintensiver als in eher ländlichen Regionen versorgt wird. Da sich die Anteile der städtischen Versicherten zwischen den Krankenkassen deutlich unterscheiden, hat die bisherige Nicht-Berücksichtigung der Region den Kassenwettbewerb verzerrt. Unverständlich ist mir, warum der Gesetzentwurf gegen den sorgfältig empirisch gestützten Gutachter-Rat die Ausgleichsvariable „Erwerbsminderungsrentenbezug“ streichen will. Denn dieser Personenkreis hat die deutlich schwereren Krankheitsverläufe und verursacht ceteris paribus rund 1200 Euro höhere Kosten im Jahr. Da haben sich offenbar Lobbyisten von Krankenkassen mit wenigen Anteilen an dieser Klientel durchgesetzt.

Spannend ist, dass Jens Spahn die Allgemeine Ortskrankenkassen (AOK) bundesweit öffnen möchte. Sie stehen aktuell nicht zueinander in Wettbewerb, sondern sind auf ihre jeweiligen Bundesländer beschränkt. Der Gesetzentwurf spricht bei der Öffnung vom Ausbau der Wahlrechte für die Versicherten. Durchaus beabsichtigter Nebeneffekt wäre, dass die dann bundesweit tätigen AOK nicht mehr der Aufsicht der Bundesländer, sondern der des Bundes unterlägen – wie heute schon die Ersatzkassen und überregional tätige Betriebskrankenkassen. Dass Wettbewerber der gleichen Aufsichtsbehörde unterliegen sollten, leuchtet unmittelbar ein. Eine Reihe von Landesgesundheitsministern hat ihrer drohenden Entmachtung allerdings schon den Kampf angesagt, es bleibt abzuwarten, wer da am längeren Hebel sitzt.

Leider sind auch in diesem Gesetzentwurf keine Regelungen enthalten, die den Krankenkassen mehr Gestaltungsmöglichkeiten geben – insbesondere in der Organisation der Versorgung, etwa bei der Auswahl der Vertragspartner. Die jüngsten Gesundheitsreformen haben die Spielräume der Krankenkassen eher beschnitten. Das ist schade, denn genau darauf muss Wettbewerb ja letztlich zielen. Sonst läuft er ins Leere.

Neue Seidenstraße: Die eurasische Herausforderung

Von Martin Klein

In den letzten Monaten hat Chinas Initiative zum Ausbau einer „Neuen Seidenstraße“ entlang des eurasischen Kontinents die deutsche Öffentlichkeit erreicht. Zahlreiche Kommentare widmen sich der Frage, ob man China trauen kann, ob sich hinter Chinas Angebot einer Win-Win-Situation für alle Beteiligten nicht doch weitergehende geoökonomische und geopolitische Absichten verbergen, vor denen Deutschland Angst haben sollte. Nachdem Italien mit großem Medienecho seine Teilnahme an der Belt-and-Road-Initiative (BRI), so die offizielle Bezeichnung, angekündigt hat, kommt zu diesen Ängsten nun noch die Befürchtung hinzu, dass China mit seiner Initiative Europa spalten könnte. Dazu kommt, dass der Einfluss Chinas in Europa tief reicht. Seit Jahren kultiviert die chinesische Regierung ein umfassendes Netzwerk von Kontakten quer durch alle politischen Lager, die pro-chinesische Positionen vertreten oder zumindest chinesischen Argumenten gegenüber aufgeschlossen sind. Viele dieser Sorgen mögen berechtigt sein, und dennoch, wenn Europa klug agiert, so überwiegen die Chancen die Risiken. Dafür sprechen im Wesentlichen drei Argumente.

Erstens, Europa muss Fakten akzeptieren. BRI wird zwar in der deutschen Öffentlichkeit als neu wahrgenommen, ist aber nicht neu. Schon 2013, im Jahr seines Amtsantritts, trat Generalsekretär Xi Jinping mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit, China mit den Ländern Zentralasiens durch eine neue Seidenstraße zu verbinden, was er kurz darauf erweiterte, indem er zusätzlich die Schaffung einer neuen maritimen Seidenstraße ankündigte, um China mit der arabischen Halbinsel, mit Afrika und auch mit dem Mittelmeer zu verbinden. Und bei Xis Wiederwahl als Generalsekretär auf dem 19. Parteikongress 2017 wurde die Belt-and-Road-Initiative in der Verfassung der Kommunistischen Partei Chinas verankert. Spätestens damit wurde klar, dass BRI weit mehr als nur eine Infrastruktur-Initiative ist. Sie ist der strategische Rahmen für Chinas Geopolitik in Eurasien und Afrika. BRI beinhaltet nach chinesischem Verständnis nicht nur Infrastruktur, sondern auch das Bekenntnis zum freien Handel zum gegenseitigen Vorteil, gemeinsame Standards, Streitschlichtung, und vieles andere mehr. Die Frage, ob China das darf, hat sich erledigt. China tut das.

Zweitens, Europa sollte die Chancen wahrnehmen, die BRI bietet. Aus der Sicht Chinas ist BRI eine von Eurasien ausgehende Alternative zur „Liberalen Hegemonie“ der USA. Genau dies ist auch der Grund, weshalb die Sache in Europa und den USA mit Skepsis beäugt wird. Doch bei nüchterner Betrachtung zeigt sich, dass Eurasien für Europa Chancen bietet. Bei einer Weiterentwicklung der BRI wird China nolens volens zu einem Stakeholder der Stabilität in Eurasien. Anders als Russland, das derzeit eine dezidiert destabilisierende Politik betreibt, konkretisiert China durch die BRI sein Interesse an freier Warenzirkulation und freien Verkehrswegen, und damit auch an Stabilität und Sicherheit in Eurasien. Somit ergibt sich gleichsam eine eurasische Perspektive, um Russland in internationale Disziplin einzubinden.

Drittens, Win-Win klappt, wenn beide Partner ein klares Verständnis ihrer eigenen Interessen haben. Europa muss sich Chinas geopolitische und geoökonomische Interessen nicht zu eigen machen, es sollte sie aber verstehen. Und vor allem muss Europa seine eigenen Interessen definieren. Ein erster Schritt ist mit den kürzlich beschlossenen „EU-China Strategischen Perspektiven“ der EU getan. Doch es steht noch aus, alle Mitgliedsländer ins Boot zu holen und auf den darin formulierten Maßnahmenkatalog einzuschwören. Darin dürfte Europas eigentliches Problem liegen.


DOI: 10.1007/s10273-019-2438-4

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