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Es gibt in Deutschland bisher wenige Erhebungen dazu, wie Politiker:innen wissenschaftliche Erkenntnisse für ihre Arbeit nutzen. Um diese Kenntnislücke zu füllen, hat die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina eine Erhebung beauftragt, die sich an die Mitglieder des Deutschen Bundestags und ihre Mitarbeitenden richtet. Die Ergebnisse der Befragung werden in diesem Beitrag präsentiert.

Die Coronapandemie hat gezeigt, dass wissenschaftliche Politikberatung einen wichtigen Beitrag zur Vorbereitung politischer Entscheidungsfindung leisten kann. Das gilt besonders in Krisensituationen, aber auch im Umgang mit Herausforderungen, die sich über längere Zeiträume aufbauen und wirken, seien es die Klimakrise, die Stabilität der Finanzmärkte, der demografische Wandel oder die Sicherung der Energieversorgung.

Damit wissenschaftliche Beratung wirksam unterstützen kann, muss sie von den Adressat:innen gehört und verstanden werden. Wie gut dies in Deutschland bisher gelingt, darüber wissen wir nicht viel. Um diese Kenntnislücke zu füllen, hat die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina eine Erhebung beauftragt, die sich an die Mitglieder des Deutschen Bundestages (MdB) und ihre Mitarbeitenden richtet. Ziel der Erhebung war es Informationen über die Kommunikationsbedarfe der Rezipienten wissenschaftlicher Beratung zu gewinnen, Ansatzpunkte zu identifizieren, um den Beratungsprozess zu professionalisieren und so die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Bundestag zu verbessern und eine stärker evidenzbasierte Politik zu ermöglichen.

Diese Erhebung ist in eine internationale Literatur eingebettet, die sich mit der Stärkung der Evidenzbasierung der Politik beschäftigt. Hierbei sind die Bemühungen der Obama-Regierung in den USA bemerkenswert; der Bericht von Abraham et al. (2017) leitet eine Vielzahl von Empfehlungen ab, um die Vernetzung von Forschung und Administration zu verbessern. Avey und Desch (2014) führten eine Befragung politischer Entscheidungsträger:innen in den USA durch. Ihre Studie zeigte, dass diese zwar die wissenschaftliche Diskussion verfolgen, die Herausforderung jedoch oft in der Übersetzung der Ergebnisse in die politische Praxis liegt. Die Untersuchung von Rose et al. (2020), die auf einer Befragung des britischen Parlaments beruht, identifizierte vier zentrale Faktoren für die Nutzung wissenschaftlicher Evidenz durch Parlamentsangehörige: Glaubwürdigkeit, Relevanz, Zugänglichkeit und glückliches Timing. Die Ergebnisse dieser Studie sind mit unseren Befunden gut vergleichbar: Auch in Deutschland sind politische Repräsentant:innen im Parlament ebenso wie ihre Mitarbeitenden gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen aufgeschlossen und geben der Forschung einen hohen Stellenwert. Um diese Erkenntnisse effektiv zu kommunizieren, ist es aber notwendig, dass die Forschenden die Kommunikationsbedarfe und Abläufe der Politik besser verstehen und in ihrer Kommunikationsstrategie berücksichtigen. Für eine Verbesserung der Kommunikation könnte es hilfreich sein, offene Kommunikationsplattformen zu etablieren, die niedrigschwellige Kontaktaufnahme und Austausch ermöglichen.

Vorgehensweise

In der Zeit vom 26.1.2021 bis zum 26.2.2021 wurden die 709 Mitglieder des damaligen Bundestages und ihre Mitarbeitenden zu ihrer Nutzung wissenschaftlicher Evidenz für ihre eigene Arbeit befragt. Die Erhebung wurde von der ISG (Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik) GmbH durchgeführt. Die Adressat:innen wurden elektronisch kontaktiert und zum Ausfüllen eines Online-Fragebogens eingeladen. Dem ging ein Unterstützungsschreiben des Bundestagspräsidenten voraus. Ebenso waren die Fraktionsvorsitzenden vorab informiert und um Unterstützung gebeten worden. Der in Fokusgruppen getestete Fragebogen war für die MdB und ihre Mitarbeitenden nahezu identisch.1 Drei Erinnerungsmails in Kombination mit telefonischen Nachfassaktionen führten zu einem sehr guten Rücklauf. 33 % der MdB beteiligten sich an der Befragung, ca. 20 % beantworteten den Fragebogen vollständig. Zusätzlich gingen 259 vollständig ausgefüllte Fragebögen der Mitarbeitenden in die Auswertung ein. Die Auswertung der Befragungsergebnisse erfolgte gruppenspezifisch. Die antwortenden MdB sind der Grundgesamtheit aller Mitglieder des Bundestages in Bezug auf Geschlechterverteilung, Zugehörigkeitsdauer zum Bundestag und Verteilung auf die Fraktionen sehr ähnlich. Es gibt insofern keinen Hinweis auf mangelnde Repräsentativität. Daher wurde bei der Auswertung der Antworten auf die Verwendung von Gewichtungen verzichtet.

Zentrale Ergebnisse der Befragung

Befragt nach Informationsquellen für ihre fachliche Arbeit verweisen alle Antwortenden zunächst auf klassische Medien (Presse, Funk, TV), gefolgt von sozialen Medien (MdB) bzw. Veröffentlichungen von NGOs (Mitarbeitende) und der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages. Als Zugangsquelle für spezifisch wissenschaftliche Informationen geben beide Gruppen, MdB und Mitarbeitende, wiederum die Wissenschaftlichen Dienste aber auch politische Stiftungen an. Vielfach liegt eine hochfrequente Nutzung dieser Quellen vor. Mehr als die Hälfte der MdB und der Mitarbeitenden geben an, wissenschaftliche Erkenntnisse mindestens mehrmals pro Woche zu nutzen. Dabei sind für alle Befragten thematisch und redaktionell aufbereitete Ergebnisse besonders relevant (im Vergleich zu Analysen, zu Gesetzen, Auswertungen von Datenerhebungen oder vergleichenden Analysen wissenschaftlicher Studien).

Zeitmangel ist für beide Gruppen das zentrale Hemmnis für die verstärkte Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse (70 % der MdB und 80 % der Mitarbeitenden). Nur halb so häufig werden die Faktoren fehlendes politisches Verständnis bei Wissenschaftler:innen, mangelnde Nutzbarkeit für konkrete Entscheidungsprozesse und mangelnde Verständlichkeit als Hemmnisse für die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse benannt.

Gleichzeitig genießt die Wissenschaft hohes Vertrauen in beiden Gruppen. Auf einer 5-er Skala geben 59 von 142 MdB und 166 von 256 Mitarbeitenden die höchste Stufe der Vertrauenswürdigkeit an, wenn es um mit wissenschaftlichen Methoden gewonnene Erkenntnisse geht. Interessant sind allerdings Unterschiede zwischen den Fraktionen. Der Anteil der MdB mit hohem Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse ist bei den Fraktionen der Grünen und der CDU/CSU höher als bei den anderen Fraktionen, bei den Fraktionen der Linkspartei und der AfD hingegen deutlich unterdurchschnittlich.

Beim Stellenwert wissenschaftlicher Erkenntnisse bei der parlamentarischen Arbeit im Vergleich zu anderen Faktoren der Entscheidungsfindung fallen die Antworten ähnlich positiv aus. 127 von 142 MdB geben einen hohen Stellenwert in der Kategorie vier oder fünf von fünf an. Unter den Mitarbeitenden sind es 208 von 256. Beide Gruppen geben an, dass wissenschaftliche Erkenntnisse angemessen (68/142 und 122/256) und teilweise zu wenig (55/142 und 105/256) in politischen Entscheidungsprozessen berücksichtigt werden. Immerhin 18 von 142 MdB kommen allerdings zur Einschätzung, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zu stark berücksichtigt werden. Große Zustimmung finden die Aussagen „Wissenschaftliche Erkenntnisse können neue Perspektiven eröffnen“ und „Politische Entscheidungen sollten auch auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen“. Am stärksten ist die Zustimmung bei den MdBs der Grünen. Ebenso findet die Position, dass Wissenschaftler:innen sich öffentlich zu Wort melden sollten, große Zustimmung. Keine Zustimmung findet die Aussage, dass sich wissenschaftliche Publikationen stärker an der politischen Relevanz ausrichten sollten.

Bei der Aufbereitung wissenschaftlicher Erkenntnisse sind sich die Befragten einig, dass dies in verständlicher und komprimierter Form geschehen sollte. Dabei sind klar strukturierte, kurze und verständliche Darstellungen gewünscht. Einfache Sprache und grafische Aufbereitung der Inhalte werden geschätzt. Forschende sollten die Untersuchungen ergebnisoffen und unvoreingenommen angehen und darauf achten, abgeleitete Handlungsempfehlungen getrennt von den Erkenntnissen der Studie zu präsentieren. Anders als die MdB sind die Mitarbeitenden auch an verständlich aufbereiteten längeren Darstellungen interessiert.

Ein Austausch2 zu den Befragungsergebnissen zwischen Mitgliedern des Bundestages und Vertreter:innen verschiedener Wissenschaftsorganisationen, die teilweise mit Politikberatung und Transferaufgaben betraut sind, ergab zusätzliche Einsichten. Dabei fanden Detailergebnisse, wie etwa, dass die Rezeption wissenschaftlicher Ergebnisse bei langjährigen MdB eine geringere Aufmerksamkeit erfährt als bei den Neumitgliedern des Bundestages, breite Bestätigung. Es wurde deutlich, dass die unterschiedlichen Bedarfe der Politik – Zugang zu Orientierungswissen und dialogischer Austausch zu spezifischen Themen – in den Kommunikationsangeboten der Wissenschaft gespiegelt werden sollten. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass weniger ein Unter- als ein Überangebot wissenschaftlicher Beratung herrsche und vor allem der durchdringe, der nicht nur durch die Qualität der Forschung, sondern auch der Aufbereitung heraussteche.

Ein wichtiger Beitrag der Wissenschaft liegt darin, die Erkenntnisse so aufzubereiten, dass sie in unterschiedlichen Vertiefungen aufgenommen werden können. Hilfreich können gestufte Angebote sein, die bei thematischen Stichworthinweisen beginnen, Kurzdarstellungen anbieten und ebenso Langtexte zur Verfügung stellen. Mit einem breit gefächerten Angebot können unterschiedlichen Rezipient:innen mit ihren jeweiligen zeitlichen Grenzen und inhaltlichen Bedarfen abgeholt werden, die für MdBs und deren wissenschaftliche Mitarbeitende unterschiedlich sind. Visualisierungen der Ergebnisse können dabei einen deutlichen Mehrwert schaffen. Eine effektive Ausgestaltung solcher Formate setzt indes voraus, dass Forschende in der Lage sind, die Perspektive der politischen Entscheidungsträger:innen einzunehmen. Hier liegt eine wichtige Transferaufgabe für Forschende, Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen.

Es besteht Konsens, dass es sinnvoll wäre, Forschende in der Wissenschaftskommunikation zu schulen; dabei können angemessene Anreize zur Wissenschaftskommunikation durchaus nützlich sein. Viele Forschende sind intrinsisch motiviert, aber es fehlt ihnen an Zeit, am erforderlichen Instrumentarium und/oder an Kanälen, um mit eigenen Erkenntnissen vernehmbar nach außen zu treten. Hierzu gehört eine zielgruppengerechte Sprache bei der Übermittlung von Forschungsinhalten und ein Verständnis für den unterschiedlichen Auftrag und die verschiedenen Abläufe in den Welten von Wissenschaft und Politik. Während Forschung und Wissenschaft fragen, „wie“ Prozesse funktionieren und nach welchen Mechanismen sie ablaufen, steht im politischen Diskurs die Frage nach den Zielen dieser Prozesse und dem „was soll erreicht werden“ im Vordergrund. Ein klares Verständnis dieser Aufgaben und Abläufe von Politik und Verwaltung ist Voraussetzung für eine wirksame Kommunikation aufseiten von Wissenschaft und Forschung.

Neben der Aufbereitung und Präsentation von Inhalten besteht eine weitere Herausforderung darin, Kommunikationskanäle und -formate zu finden, über die ein Austausch initiiert werden kann. Hier fehlt vielfach ein Portal oder eine Plattform, über die sowohl Ansprechpartner:innen gefunden und/oder thematisch sortierte Inhalte abgerufen werden können. Die Lösung kann nicht darin bestehen, immer neue Webseiten mit vereinzelten Informationen einzurichten. Vielmehr müssten neue, aggregierende Formate zur direkten Kontaktaufnahme z. B. über Plattformen attraktiv ausgestaltet werden.

Fazit

Drei Lehren lassen sich aus der Erhebung und dem Austausch zu den Ergebnissen ziehen: Für eine effektive Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse, ist es erstens erforderlich, dass die Forschenden die Kommunikationsbedarfe und Abläufe der Politik besser verstehen und in ihrer Kommunikationsstrategie berücksichtigen. Für eine Verbesserung der Kommunikation und Diversifizierung der Ansprechpartner:innen kann es zweitens hilfreich sein, offene Kommunikationsplattformen zu etablieren, die niedrigschwellige Kontaktaufnahme und Austausch ermöglichen. Drittens sind politische Repräsentant:innen im Parlament ebenso wie ihre Mitarbeitenden gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen aufgeschlossen und geben der Forschung einen hohen Stellenwert. Daran sollte sich doch anknüpfen lassen.

  • 1 Vgl. Seidel et al. (2021) für Details zu Erhebung und Methodenberichte.
  • 2 Der Workshop „Der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in Legislative und Exekutive“ fand am 21.2.2022 auf Einladung der Leopoldina statt.

Literatur

Abraham, K. G. et al. (2017), The Promise of Evidence-Based Policymaking, Report of the Commission on Evidence-Based Policymaking, https://www.govexec.com/media/gbc/docs/pdfs_edit/090617cc1.pdf (24. März 2022).

Avey, P. C. und M. C. Desch (2014), What Do Policymakers Want From Us? Results of a Survey of Current and Former Senior National Security Decision Makers, International Studies Quarterly, 58(2), 227-246.

Rose, D. C., C. Kenny und A. Hobbs (2020), Improving the use of evidence in legislatures: the case of the UK Parliament, Evidence & Policy, 16(4), 619-638.

Seidel, K., H. Verbeek, S. Fessel und F. Meer (2021), Nutzen von wissenschaftlicher Evidenz – Erwartungen an wissenschaftliche Expertise, Diskussion Nr. 27, Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, https://www.leopoldina.org/fileadmin/redaktion/Publikationen/Diskussionen/2021_Diskussionspapier_Wissenschaftliche_Evidenz_Web.pdf (24. März 2022).

Title:The Importance of Scientific Evidence for the Work of the German Bundestag

Abstract:The German National Academy of Sciences Leopoldina, under the direction of Regina Riphahn and Monika Schnitzer, commissioned a survey aimed at members of the German Bundestag and their staff. The aim of the survey was to obtain information about the communication needs of the recipients of scientific advice. Scientific findings are highly valued among political representatives. For effective communication, it is helpful to have a clear understanding of political tasks and processes, formats that are appropriate for the target group, as well as visualisations of the findings.

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© Der/die Autor:in 2022

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DOI: 10.1007/s10273-022-3155-y