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Dieser Beitrag ist Teil von Energiepreiskrise und Kriegssanktionen – die Energieversorgung von morgen

Mit jedem Tag, an dem die russische Invasion in die Ukraine andauert, mehren sich die Stimmen, die einen Boykott russischer Energielieferungen in die EU fordern. Durch den Verzicht auf den milliardenschweren Import von Kohle, Öl und Gas soll der Druck auf den Kreml weiter erhöht und Präsident Putin zum Einlenken gebracht werden, so sehen es die Befürwortenden. Die Kritiker:innen, zu denen auch die Bundesregierung um Kanzler Scholz und Wirtschaftsminister Habeck zählt, warnen vor den in ihren Augen unkalkulierbaren Folgen eines sofortigen Importstopps und sehen insbesondere die Gasversorgung für den kommenden Winter gefährdet.

Kurzfristig wäre ein vollständiger Verzicht Deutschlands auf russische Energielieferungen mit enormen Folgewirkungen verbunden, da sich weder die Einfuhr ohne weiteres durch alternative Importe ersetzen ließe noch alle Verbraucher:innen unmittelbar ihre Energieversorgung auf einen anderen Energieträger umstellen können. Deutschland bezieht über die Hälfte seines Gases und ein Drittel des Rohöls aus Russland. Auch beim Import von Kohle ist Russland bislang der größte Lieferant. Ein sofortiger Stopp dieser Energieimporte würde demnach die deutsche Energieversorgung erst einmal infrage stellen. Zu untersuchen ist deshalb, inwieweit Deutschland im Falle eines Energieboykotts kurzfristig überhaupt genügend Kohle, Öl und Gas aus anderen Ländern importieren könnte.

Ausgangslage

Deutschland hat den Abbau heimischer fossiler Energie­rohstoffe bereits deutlich zurückgefahren. Das betrifft insbesondere den Abbau von Steinkohle, aber auch die eigene Gaserzeugung. Zudem ist der Ausstieg aus dem Braunkohletagebau bereits beschlossen. Die Wind- und Solarenergie ist im Zuge der Energiewende deutlich ausgebaut worden, dennoch kam dieser Ausbau zuletzt ins Stocken und so konnte die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern kaum noch reduziert werden. Steinkohle, Erdgas, Erdöl und Uran für die bisher noch nicht abgeschalteten Atomkraftwerke werden nahezu gänzlich importiert. Angesichts der ambitionierten Klimaziele des Green Deal auf europäischer Ebene und des deutschen Klimaschutzgesetzes ist ein erheblicher Umbau der Energieversorgung ohnehin erforderlich und muss deutlich an Fahrt gewinnen, wenn die Ziele in der festgelegten Zeit erreicht werden sollen. Dazu muss durch einen konsequenten Umstieg auf erneuerbare Energien der Einsatz fossiler Energieträger deutlich verringert werden. Doch auch wenn die besonders klimaschädliche Stein- und Braunkohle bis Ende des Jahrzehnts weitestgehend an Bedeutung verlieren wird, wird Mineralöl und insbesondere Gas mittelfristig noch eine zentrale Rolle in der Energieversorgung zukommen.

Verschiedene Studien, die den Pfad zur Klimaneutralität 2045 untersucht haben, prognostizieren bis 2030 nur eine leicht verringerte Nachfrage nach Erdgas von 6 % bis 17 % (BCG, 2021; dena, 2021; Prognos et al., 2021). Grund dafür ist, dass Deutschland bislang auf Erdgas als Übergangsenergieträger setzen wollte, da es weniger emissionsintensiv als Kohle und gleichzeitig flexibler in seiner Nutzung als beispielsweise Atomkraft ist. Der Ausbau erneuerbarer Energien sollte auf diese Weise durch Gaskraftwerke flankiert und die Versorgungssicherheit in Zeiten geringer erneuerbarer Einspeisung garantiert werden. Zu Beginn des Jahres ordnete die europäische Kommission in ihrer Taxonomie demnach Erdgas als „vorübergehend nachhaltig“ ein, was als Zugeständnis an Deutschland verstanden werden kann, das in wenigen Jahren sowohl aus der Atomenergie als auch aus der Kohlenutzung aussteigen möchte.

Aktuelle Situation

Russland ist Deutschlands wichtigster Energielieferant. Sollten die von dort bezogenen Mengen nicht mehr zur Verfügung stehen, gilt es in kürzester Zeit für Ersatz zu sorgen. Wie schnell dies gelingen kann, hängt dabei nicht nur von den verfügbaren Angebotsmengen auf den Weltmärkten, sondern auch von der energieträgerspezifischen Transport- und Speicherinfrastruktur ab.

Die Importe von russischer Steinkohle, die zuletzt etwa 45 % der Gesamtimporte ausmachten, könnten nach Einschätzung der Bundesregierung und des Vereins der Kohlenimporteure innerhalb weniger Monate vollständig ersetzt werden. Durch die geringeren Anforderungen an Transport und Speicherung lassen sich kurzfristig zusätzliche Mengen aus Ländern wie den USA, Kolumbien oder Australien beziehen. Für Steinkohle gibt es einen ausreichend großen Weltmarkt, zudem können unterschiedliche Steinkohlequalitäten gemischt werden.

Mineralöl, das im Jahr 2021 zu 34 % aus Russland importiert wurde, wäre dagegen kurzfristig deutlich schwieriger zu ersetzen, obwohl sich bereits einige Veränderungen auf dem globalen Ölmarkt bemerkbar machen. So ist eine Preisdifferenz von über 20 US-$ pro Barrel zwischen russischem Öl und qualitativ vergleichbaren Produkten entstanden. Daher kann bereits jetzt ein Rückgang in der Nachfrage nach russischem Rohöl beobachtet werden. Russisches Öl lässt sich allerdings insbesondere an den Raffineriestandorten, die zu Zeiten der Sowjetunion an das russische Pipelinenetz angeschlossen wurden, kurzfristig schwierig ersetzen. Die Folgen eines Ölembargos würden sich daher zunächst vor allem in den ostdeutschen Bundesländern bemerkbar machen. Insgesamt kommt rund ein Viertel der europäischen Ölimporte nach Mittel- und Osteuropa durch die Druschba-Pipeline.

Noch kritischer als bei Steinkohle und Mineralöl wäre die Situation im Falle eines Energieboykotts bei der Versorgung mit Erdgas. Russische Gaslieferungen deckten in den vergangenen Jahren mehr als die Hälfte des deutschen Bedarfs und knapp 40 % der europäischen Nachfrage, einzelne Länder im Baltikum und Osteuropa beziehen ihr Gas sogar fast ausschließlich aus Russland. Die drei wichtigsten Pipelinerouten für russisches Gas in den Westen waren bisher Nord Stream 1, die JAMAL-Leitung über Weißrussland und Polen und der Ukrainekorridor. Davon abgesehen bestehen in Europa Pipelineverbindungen nach Norwegen, Nordafrika und Aserbaidschan. Zusammen wurden über die verschiedenen Pipelines im Jahr 2021 etwa 80 % des europäischen Gasbedarfs gedeckt. Weitere 20 % wurden als Flüssiggas (LNG) per Schiff importiert und an dafür vorgesehen Terminals wieder regasifiziert. Besonders gefragt war Flüssiggas in Ländern wie Spanien, Portugal oder Frankreich. Würden die russischen Gaslieferungen ausbleiben, müsste zum einen über die bestehenden Pipelines und zum anderen über Flüssiggasimporte ein Großteil des bisherigen Bedarfs ersetzt werden.

Wie könnte russisches Gas ersetzt werden?

Norwegen, nach Russland immerhin der zweitgrößte Gaslieferant Deutschlands, hat bereits angekündigt, seine Produktionskapazitäten kurzfristig nicht erhöhen zu können. Auch Algerien, der mengenmäßig wichtigste Lieferant aus Nordafrika, hat zwar grundsätzlich Interesse signalisiert in einigen Jahren mehr zu liefern, doch für die nächsten, besonders kritischen ein bis zwei Winter kann hier nicht mit nennenswerten Ersatzlieferungen gerechnet werden. Die bestehende Pipeline aus Aserbaidschan über die Türkei nach Europa weist eine geringe Grundkapazität aus, die selbst bei voller Auslastung im Vergleich zu den zu ersetzenden Mengen vernachlässigbar erscheint. Insgesamt sind die Möglichkeiten, ausbleibende Gaslieferungen aus Russland durch eine Erhöhung nicht russischer Pipeline­importe zu kompensieren, damit stark begrenzt. Die Internationale Energieagentur schätzt in diesem Zusammenhang, dass vermehrte Importe über nicht russische Pipelines zusammen mit einer erhöhten Produktion innerhalb der EU im nächsten Jahr lediglich um bis zu 10 bcm (billion cubic metres) gesteigert werden könnten, ein Fünftel der bislang allein über Nord Stream 1 bezogenen Mengen (IEA, 2022).

Mit dem Wissen um die begrenzten nicht russischen Pipelinekapazitäten konzentriert sich die aktuelle Diskussion vor allem auf einen verstärkten Import von Flüssiggas. Da Deutschland bislang kein eigenes LNG-Terminal betreibt, kommt nur eine Nutzung freier Kapazitäten der europäischen Nachbarländer infrage. Diese waren im Durchschnitt der vergangenen Jahre zu weniger als der Hälfte ausgelastet, sodass rein nominell ein Großteil der russischen Gaslieferungen durch LNG kompensiert werden könnte. Das Problem: Die freien Kapazitäten an den europäischen Terminals geben keine Auskunft darüber, ob der ohnehin enge LNG-Weltmarkt eine steigende europäische Nachfrage überhaupt bedienen könnte. Knapp 80 % der globalen Flüssiggasmengen sind zudem bereits über langfristige Verträge gehandelt. Wie stark Produzenten wie die USA oder Katar kurzfristig ihre Produktion ausweiten können, ist ebenfalls unklar. Derzeit senden diese Länder allerdings bereits positive Signale.

Das weitaus größere Hindernis beim Import von LNG kommt allerdings erst nach dem Seetransport und der Regasifizierung an den Terminals zum Tragen und besteht in der unzureichenden Infrastruktur zur Weiterverteilung des vor allem in den Häfen Süd- und Westeuropas anlandenden Flüssiggases. In Spanien stehen knapp 40 % der europäischen Regasifizierungskapazitäten, die zudem im vergangenen Jahr nach Berechnungen des Brüsseler Think Tanks Bruegel zu weniger als einem Drittel ausgelastet waren (McWilliams et al., 2022). Auf diese Weise ergaben sich freie Importkapazitäten von etwa 500 TWh pro Jahr, mit denen nominell ein Drittel der russischen Lieferungen kompensiert werden könnte. Von Spanien führen allerdings nur zwei Pipelines weiter nach Frankreich, deren Kapazität bei gerade einmal etwa 80 TWh liegt (entsog, 2021). Ein im Raum stehendes Pipelineprojekt in den Pyrenäen („Midcat“) würde diese Kapazität im Falle eines Baus zumindest etwas erhöhen, dürfte allerdings frühestens in drei bis fünf Jahren fertig sein und ist damit kurzfristig keine Alternative. Alternative Möglichkeiten zum Abtransport des LNG aus Spanien nach Mittel- und Osteuropa gibt es bislang nicht. Dennoch wird der iberischen Halbinsel perspektivisch eine wichtigere Rolle in der europäischen Gasversorgung zukommen, denn hier gibt es nicht nur die größten europäischen LNG-Kapazitäten, sondern auch Anschlüsse an Gaspipelines aus Nordafrika.

Wie kann der Gasverbrauch reduziert werden?

Vor dem Hintergrund eines möglichen Importstopps und der zumindest kurzfristig begrenzten Substitutionspotenziale durch Pipelines und LNG in den kommenden Wintern rücken verbrauchsseitige Anpassungsmöglichkeiten in den Blickpunkt. Da die Wärmeversorgung der privaten Haushalte, Krankenhäuser und sozialen Dienste geschützt ist und somit prioritär gewährleistet wird, werden vor allem die Energiewirtschaft und die Industrie die Hauptlast möglicher Gasengpässe tragen müssen. Aufgrund des bisher geringen Anteils von Erdgas in der Stromerzeugung und der umfangreichen Verfügbarkeit von Kohlekraftwerkskapazitäten auf dem Strommarkt als auch in der Reserve, könnte der Gasbedarf in der Stromerzeugung deutlich einfacher substituiert werden als in der Wärmeversorgung. Die Ausnahme hierbei stellen Gaskraftwerke dar, die über Kraftwärmekopplung parallel zur Stromerzeugung in ein Fernwärmenetz einspeisen.

In der Industrie wird Erdgas nicht nur zur Wärmeerzeugung, sondern auch stofflich genutzt, vor allem in der Grundstoffchemie. Ein Ausbleiben russischer Gaslieferungen hätte demzufolge dort enorme Folgen. Bereits seit einigen Monaten können aufgrund der stark gestiegenen Energiepreise Produktionsdrosselungen, beispielsweise in der Ammoniak- und Aluminiumherstellung, beobachtet werden. Da beim Großteil der industriellen Prozesse kurzfristig keine Substitutionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, würde eine Unterversorgung mit Gas zur Abschaltung von Anlagen führen. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (2022) schätzt das kurz- bis mittelfristige Substitutionspotenzial von Erdgas in der Industrie auf knapp 8 %. Die höchsten Potenziale werden mit gut 13 % in der Ernährungs- und Tabakindustrie gesehen. Beim größten Gaskunden, der Grundstoffchemie, lägen diese bei nur 4 %. Ein Ausfall der Gasimporte aus Russland hätte demnach massive Ausfälle der Produktion zur Folge. Durch die engen Verflechtungen der Lieferbeziehungen wären zudem auch Unternehmen betroffen, die selbst nur einen geringen oder gar keinen Gasbedarf haben, aber auf entsprechende Vorprodukte angewiesen sind (Kolev, 2022).

Welche Handlungsoptionen hat die Politik?

Die Politik steht vor der schwierigen Entscheidung, die Folgen eines Lieferembargos von russischen Energieimporten auf die deutsche und europäische Gasversorgung abzuwägen. Weil ausbleibende Gaslieferungen aus Russland kurzfristig nicht kompensiert werden könnten, ist die Gasversorgung in den nächsten Wintern nicht gesichert. Bereits jetzt spüren alle Verbraucher:innen die hohen Energiepreise. Da Haushalte und soziale Einrichtungen bei der Gasversorgung priorisiert werden, wäre im Falle einer Unterversorgung vor allem die Industrie betroffen. Dies würde mit Produktionsausfällen, Kurzarbeit und sogar der Schließung von Betrieben einhergehen. Die abwartende Haltung der Bundesregierung ist daher nachvollziehbar, gerade im Hinblick auf einen vermutlich irreversiblen Verzicht auf russische Gasimporte.

Mit Blick auf die mittel- bis langfristige Diversifizierung der Energiequellen ist eine stärkere Kooperation der EU-Mitgliedstaaten sinnvoll. Das gilt nicht nur für den europaweiten Ausbau der erneuerbaren Energien und einer entsprechend leistungsfähigen Transportinfrastruktur, sondern gerade auch für den gemeinsamen Import von Flüssiggas, grünem Wasserstoff und synthetischen Energieträgern.

Literatur

BCG – Boston Consulting Group (2021), Klimapfade 2.0, Ein Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft, Gutachten für Bundesverband der deutschen Industrie e. V. (BDI).

BDEW – Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (2022), Kurzfristige Substitutions- und Einsparpotenziale Erdgas in Deutschland.

Dena – Deutsche Energie-Agentur (Hrsg.) (2021), dena-Leitstudie Aufbruch Klimaneutralität.

entsog – European Network of Transmission System Operators for Gas (2021), System Development Map 2020 / 2021.

IEA – International Energy Agency (2022), A 10-Point Plan to Reduce the European Union’s Reliance on Russian Natural Gas.

Kolev, G. (2022), Russlands Relevanz für die Lieferketten der deutschen Wirtschaft, IW-Kurzbericht, Nr. 23.

McWilliams, B., G. Sgaravatti, S. Tagliapietra und G. Zachmann (2022), Can Europe survive painlessly without Russian gas?

Prognos, Öko-Institut, Wuppertal-Institut (2021), Klimaneutrales Deutschland 2045, Wie Deutschland seine Klimaziele schon vor 2050 erreichen kann, im Auftrag von Stiftung Klimaneutralität, Agora Energiewende und Agora Verkehrswende.

Title:Gas Imports From Russia Cannot be Compensated in the Short Term

Abstract:As Russia’s invasion of Ukraine continues, more and more people are calling for a ban on Russian energy imports. The proponents argue that abstaining from importing billions worth of coal, oil and gas will further increase the pressure on the Kremlin. Critics, however, including German Chancellor Olaf Scholz, warn of what they believe to be incalculable consequences, with the gas supply being particularly at risk. This article outlines the different options for substituting Russian coal, oil, and especially gas and explains why the wait-and-see attitude of the German government towards a complete import ban is understandable.

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© Der/die Autor:in 2022

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.

DOI: 10.1007/s10273-022-3162-z