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Die Neuwahlen zum Deutschen Bundestag finden unter besonderen Vorzeichen statt – erst zum vierten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik (nach 1972, 1982 und 2005) endet eine Legislaturperiode vorzeitig. Eine weitere Besonderheit: Die vorgezogenen Neuwahlen erfolgen nach einem geänderten Wahlrecht. Der künftige Bundestag wird nur noch aus 630 Abgeordneten bestehen und somit um rund 15 % kleiner sein als der gegenwärtige. Die Abbildung von Stimmen auf Mandate wird im neuen Bundestag noch stärker proportional als bisher erfolgen, weil die Zahl der Sitze allein durch das Zweitstimmenergebnis bestimmt sein wird. Das Bundesverfassungsgericht hat im Sommer 2024 die Abschaffung der Grundmandatsklausel gekippt. So wird auch künftig eine Partei im Bundestag vertreten sein, die drei Direktmandate erringt, auch wenn sie bundesweit weniger als 5 % der Zweitstimmen gewonnen hat. An der eigentlichen Neuerung, dass eine Pluralität im Wahlkreis nicht mehr zuverlässig mit einem Sitz im Bundestag belohnt wird, ändert die Intervention des Gerichts aber nichts.

Eine weitere Besonderheit ist die starke Polarisierung der parteipolitischen Positionen im Wahlkampf. Zum ersten Mal seit zumindest 2005 erlebt Deutschland einen scharfen Lagerwahlkampf, in dem sich die Positionen nicht nur in der Gesellschaftspolitik (insbesondere mit Blick auf die Migration) unterscheiden, sondern auch in der Wirtschaftspolitik. Die Union fordert eine Beibehaltung der Schuldenbremse, die Absenkung von Unternehmenssteuern und einen Abbau bürokratischer Hemmnisse. Dagegen setzt sich die SPD für eine Reform der Schuldenbremse ein und hält an einer aktiven staatlichen Investitionspolitik fest. Ähnliche Positionen finden sich bei den Grünen, die zusätzlich einen Schwerpunkt auf klimafreundliche Investitionen legen und für eine Beibehaltung des Länderfinanzausgleichs eintreten. Die FDP plädiert für eine strikte Haushaltsdisziplin, Bürokratieabbau und eine Beibehaltung der Schuldenbremse. Die AfD schließlich stellt die enge Verflechtung Deutschlands in der Europäischen Union in Frage und befürwortet den Austritt aus dem Euro.

Große parteipolitische Unterschiede finden sich auch auf gesellschaftspolitischer Ebene. Hier hat nach den Mordanschlägen von Magdeburg und Aschaffenburg das Thema Migration zeitweise alle anderen Themen im Wahlkampf überlagert. Friedrich Merz hat mit seiner Ankündigung, im Falle eines Wahlsiegs Deutschlands Grenzen zu schließen und alle ausreisepflichtigen Personen in Abschiebehaft zu nehmen, die Inhalte der Debatte in ein Feld verschoben, das zuvor der AfD vorbehalten war. Mit seiner Entscheidung, mit Unterstützung der AfD im Bundestag einen Entschließungsantrag durchs Parlament zu bringen, hat Merz auch parteitaktisch Neuland betreten. Der Kanzlerkandidat von CDU und CSU hatte vorher und seitdem immer wieder betont, nach der Wahl auf keinen Fall mit der AfD zusammenarbeiten zu wollen. Dies unterstreicht die schwierige strategische Situation, in der sich die Union befindet: Bündnisse sind nur links von der Union möglich. Dies aber macht die Versuchung umso verlockender, mit einer möglichen Kooperation mit der AfD wenigstens zu drohen, um damit den Preis der linken Koalitionspartner zu senken. Freilich wäre die Union gut beraten, diese Überlegungen einen Schritt weiter zu denken: Wer mit der AfD kooperiert, begibt sich in ein Abhängigkeits­verhältnis von einer in Teilen rechtsext­remen Partei, weil ein solcher Schritt die Kooperationswilligkeit auf der Linken senkt. Mit jeder Annäherung an die AfD wächst diese Abhängigkeit. Aus dem strategischen Dilemma der Union gibt es zumindest in der gegenwärtigen Situation keinen Ausweg. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive bleibt die Aktion von Merz auch inhaltlich fragwürdig. Die Wähler:innen entscheiden sich im Zweifelsfall lieber für das Original.

Mit Blick auf die nach der Wahl notwendige Koalitionsbildung sind dementsprechend schwierige Verhandlungen zu erwarten. Die meisten Umfragen gehen derzeit von zwei möglichen Regierungsmehrheiten aus: CDU/CSU mit SPD oder CDU/CSU mit den Grünen. In beiden Fällen dürfte am Ende der Verhandlungen eine Kanzlerschaft für Friedrich Merz stehen, für Olaf Scholz scheint die politische Karriere zumindest in Berlin beendet zu sein. Allerdings steht vor allen Personalfragen die Notwendigkeit einer inhaltlichen Einigung. Obwohl im Wahlkampf viel Porzellan zerschlagen wurde, besteht kein Zweifel daran, dass die Parteien der demokratischen Mitte eine stabile Regierungskoalition bilden werden. Das diktiert schon ihr jeweiliges Eigeninteresse. Deutschland ist – sollten die Umfragen das Wahlergebnis einigermaßen korrekt vorhersagen – weit von der Unregierbarkeit entfernt. Österreichische oder französische Verhältnisse sind für Europas größte Volkswirtschaft nicht zu erwarten.

Inhaltlich muss sich die neue Regierung (in welcher Konstellation auch immer) der anhaltenden Wachstumsschwäche des Landes annehmen. Sie muss die politisch induzierte Unsicherheit beenden und Deutschland auf einen stabilen Wachstumspfad zurückführen. Praktisch alle Parteien einer breit verstandenen politischen Mitte sind sich einig, dass Regulierungen abgebaut und Genehmigungsverfahren beschleunigt werden müssen. Darüber hinaus herrscht wenig Einigkeit über die geeignete Wirtschaftspolitik. Die Union schreibt in ihrem Wahlprogramm ebenso griffig wie ökonomisch falsch: „Die Schulden von heute sind die Steuererhöhungen von morgen“. Die beiden potenziellen Koalitionspartner Bündnis 90/Die Grünen („Schuldenbremse reformieren“) und SPD („Schuldenregel im Grundgesetz reformieren“) sehen dies jeweils anders. Sowohl SPD als auch die Grünen wollen einen „Deutschlandfonds“ auflegen, um Investitionen „in Deutschlands Zukunft“ (SPD) zu ermöglichen.

Wo die Positionen so weit auseinanderliegen, bieten sich Paketlösungen an, um Verhandlungsmasse zu schaffen. Politisch verantwortlich wäre es hier, die neben dem Klimawandel langfristig größte Herausforderung anzugehen, den demografischen Wandel und den sich aus ihm ergebenden Fragen zur Alterssicherung und zum Fachkräftemangel. Obwohl im Wahlkampf kaum thematisiert, wird die neue Regierung nicht um das Thema Rente herumkommen. 2023 betrug der Zuschuss des Bundes zur Rentenkasse über 112 Mrd. Euro – mehr als 23 % des gesamten Bundeshaushalts. In diesem Zusammenhang sollten auch die Zuwanderung und der Fachkräftemangel diskutiert werden. Schon 2024 wuchs die Bevölkerung in Deutschland nur aufgrund einer positiven Netto-Migrationsbilanz. Die Zahl der in Deutschland geborenen Kinder lag dagegen unterhalb der Zahl der Verstorbenen.

Ein Reformpaket aus den Themen Zuwanderung, Schuldenbremse und Rente, gepaart mit Investitionen in die Transformation der deutschen Volkswirtschaft mit Blick auf Nachhaltigkeit, Innovation und Verteidigungsfähigkeit, böte den künftigen Koalitionspartnern die Gelegenheit zum Kompromiss auf vielen Dimensionen, sodass wechselseitig scheinbar unverrückbare Positionen aufgegeben werden können. Weil in anderen Politikfeldern etwas erreicht wird, schafft dies Manövrierfähigkeit auch gegenüber der jeweils eigenen Basis. Dass es sich dabei um ein maximal dickes Brett handelt, das hier zu bohren ist, steht außer Frage. Aus der Größe der Herausforderungen folgt aber auch, wie dringend notwendig es ist, sie produktiv zu überwinden. Hierzu sind alle verantwortlichen Akteure in der Bundesrepublik aufgerufen.

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© Der/die Autor:in 2024

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DOI: 10.2478/wd-2025-0021