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Die Krise der letzten Jahre hat bei vielen Menschen das Vertrauen in die Marktwirtschaft erschüttert; daher das Generalthema dieser Ausgabe. Ich werde die mir zugedachte Thematik selektiv so behandeln, dass sie in das Generalthema gut hineinpasst. Ich beginne mit einem Hayek-Zitat: „Es ist niemandes konkreter Anordnung zu verdanken, dass wir darauf zählen können, selbst in einer fremden Stadt die Dinge vorzufinden, die wir zum Leben brauchen, oder dass trotz aller Veränderungen, die ständig in der Welt vor sich gehen, wir im großen und ganzen doch wissen, was wir nächste Woche oder nächstes Jahr uns werden beschaffen können. Wir sind diesbezüglich so verwöhnt, dass wir eher geneigt sind, darüber zu klagen, dass wir nicht genau das vorfinden, was wir erwarten; aber eigentlich sollten wir erstaunt sein, dass sich unsere Erwartungen in so hohem Maße erfüllen, wie es tatsächlich der Fall ist, obwohl doch niemand die Pflicht hat, dafür zu sorgen, dass wir die gewünschten Dinge vorfinden.“1

In diesen Sätzen beschreibt Hayek das Alltagsvertrauen, das die Menschen in das Funktionieren der Marktwirtschaft haben. Die große Bequemlichkeit, die das Leben als Konsument in der Marktwirtschaft hat, wurde einem früher vor allem dadurch bewusst gemacht, dass die real
existierende Zentralverwaltungswirtschaft darüber nicht verfügte. Dort war alles knapp, nach allem musste man Schlange stehen oder sich in eine Monate oder Jahre überdeckende Warteliste eintragen. Weil alles knapp war, war der Alltag grau. Die Buntheit des Lebens, die die Marktwirtschaft demgegenüber auszeichnete, beruhte darauf, dass hier nichts knapp war außer dem Geld und der Zeit, das vielfältige Konsumangebot auch zu genießen.

Hayek hat allerdings – und dies nicht zuletzt auch in der Auseinandersetzung mit Keynes – eine Vorstellung vom Preissystem gehabt, die an einer zentralen Stelle seiner eigenen Philosophie der „spontanen Ordnung“ und der Dezentralität und Provinzialität der gefällten Entscheidungen nicht hinreichend Rechnung trug. In seinem auch im Mainstream häufig zitierten Aufsatz „The Use of Knowledge in Society“ vertritt er die These, dass es das Preissystem ist, welches das für die individuellen Entscheidungen und ihre Konformität mit dem Funktionieren des Gesamtsystems relevante Wissen an die Entscheidungsträger überträgt. Er hebt damit – quasi nach dem Vorbild eines Walras’schen Allgemeinen Gleichgewichts – die Preise selbst aus der Fülle des nur dezentral verfügbaren Wissens heraus. Die Preise sind in diesem Denken Hayeks quasi öffentliches Wissen; sie sind allen Bürgern gleichermaßen bekannt.

Indessen ist das Wissen über Preise in der Wirlichkeit ebenfalls dezentrales, örtliches Wissen. Und die Preise werden auch dezentral „vor Ort“ festgesetzt. Damit dennoch die Koordinierungsfunktion des Preissystems erfüllt werden kann, sind die Märkte für Konsumgüter durch eine Eigenschaft charakterisiert, die ich „Marktasymmetrie“ nenne. Aus Platzgründen kann ich diese Eigenschaft hier nicht im Detail beschreiben. Ich habe das an anderem Ort getan.2 Hier nur so viel: Das Modell der vollkommenen Konkurrenz ist irreführend. Der Wirklichkeit sehr viel näher kommt das Modell der „monopolistischen Konkurrenz“. Diesem entsprechend gibt es auf den Märkten Produktdifferenzierung und Preise, die über den Grenzkosten liegen. Es gibt Verkaufsanstrengungen der Anbieter. Die Nachfrageseite fragt demgegenüber so viel nach, dass Preis und (in Geldeinheiten umgerechneter) Grenznutzen einander gleich sind. Der Tendenz nach setzt die Angebotsseite die Preise und die Nachfrageseite die Menge. Ferner gilt fast durchgängig, dass die Anbieter mit einer Kostenstrukur zu kämpfen haben, bei der die Grenzkosten unter den Durchschnittskosten liegen.3

Wir können diese Marktasymmetrie auch so ausdrücken: nach der Transaktion zwischen Verkäufer und Käufer ist der Käufer transaktionsgesättigt, während der Verkäufer transaktionshungrig bleibt. Um Käufer anzulocken, verfügt der Anbieter über Reservekapazitäten, sodass er auch eine überrraschend hohe Nachfrage bedienen kann und somit nicht das Image erhält, dass es für Nachfrager riskant ist, zu ihm zu gehen, weil dort oft die Regale leer sind. Es ist diese Marktasymmetrie, die es dem Konsumenten so bequem macht, wie es in dem Eingangszitat von Hayek zum Ausdruck kommt. Ein Marktsystem, das in einem guten rechtlichen und faktischen Rahmen funktioniert – und aus der Sicht der Konsumenten gut funktioniert – generiert damit quasi von selbst jenes Vertrauen, jenes nicht weiter durchdachte „Urvertrauen“ in das System, das über weite Strecken der Geschichte der reichen Länder seit dem Zweiten Weltkrieg charakteristisch ist.

Vertrauen in die Stabilität der Währung

Zum Vertrauen in die Marktwirtschaft gehörte und gehört heute auch ein gewisses Vertrauen in die Stabilität der Währung. Mit diesem Thema will ich mich in diesem Abschnitt etwas genauer befassen. Stabiles Geld wünschen wir uns, um uns die Vorsorge für die eigene Zukunft zu erleichtern. Es ist kein Zufall, dass heute, in der Krise, wieder so viel von Zukunftsangst und der Vorsorge als Problem die Rede ist.

Bevor die Geldwirtschaft entstand, bestand die Vorsorge des Individuums für die Zukunft im Wesentlichen aus drei Komponenten: 1. Anhäufung von Vorräten und Geräten; 2. Generierung von Verwandtschaftsverhältnissen, die als Absicherung im Notfall dienen konnten: Zeugung von Kindern, Verheiratung von Kindern nach familienstrategischen Kriterien; 3. Einbindung in eine örtliche (dörfliche) Solidargemeinschaft. In der agrarischen Subsistenz­wirtschaft beschränkte sich die Vorratshaltung auf den Ausgleich saisonaler Schwankungen. Selbst für diesen relativ kurzen Zeitraum bestand immer die Gefahr, dass die Vorräte verdarben, von Mäusen gefressen wurden oder durch Raub oder Diebstahl abhanden kamen. Die Tragfähigkeit der beiden anderen Vorsorgemethoden war ebenfalls eng begrenzt. Geriet das ganze Dorf und damit auch die Verwandtschaft in Not, fiel diese Form der Vorsorge aus. Daher konnte gegen die Risiken des Kriegs, schlechter Ernten aus Witterungsgründen, oder mancher Epidemien praktisch nicht vorgesorgt werden.4 Für viele, vielleicht die allermeisten Menschen war das Alter, wenn man es überhaupt erreichte, eine Zeit der Not, gegen die nur sehr unvollkommen vorgesorgt werden konnte.

Die Geldwirtschaft und ein auf ihr aufbauendes Kreditsystem schufen eine weitere Vorsorgemöglichkeit. Man konnte in Geldform sparen oder man konnte Realvermögen, wie z.B. ein Mietshaus, anschaffen, das Renditen in Geldform abzuwerfen versprach. Schließlich konnte mancher sich einen Arbeitgeber aussuchen, der eine Altersrente versprach und/oder eine Krankenversicherung bereitstellte. Nun war insbesondere die Vorsorgemöglichkeit für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit, Alter oder wegen Mangels an Arbeitsnachfrage um eine Größenordnung besser als sie es ohne das Geldsystem gewesen wäre. Aber für viele, wahrscheinlich eine Mehrheit, war die akute Lebenssituation nicht gut genug, um überhaupt Ersparnisse bilden zu können. Und gebildete Ersparnisse waren Risiken ausgesetzt: Der Anleger in Finanzprodukten war als Gläubiger dem Schuldner-Risiko ausgesetzt. Dazu gehört auch das Risiko der Geldentwertung, die beobachtet werden konnte, solange es das Geldsystem gab. Der Anleger in Realvermögen war mit dem Problem von dessen Unteilbarkeit konfrontiert, was den Kreis dieser Anleger auf die wohlhabenderen Schichten beschränkte. Ferner gab es die üblichen Risiken des Eigentümers von kommerziell genutztem Realvermögen.

Auch in der herkömmlichen Geldwirtschaft blieb damit die Verfügbarkeit von Zukunftsvorsorgemöglichkeiten prekär. Im Verlauf der Zeit entwickelte sich ein immer leistungsfähigeres System von Institutionen, die Vorsorge erleichterten. Dieser Evolutionsprozess verdiente von der ökonomischen Theorie genauer untersucht zu werden. Zentral müsste bei einer solchen Untersuchung der Gedanke sein, dass es falsch wäre, zu meinen, dass Vorsorge nur ein Problem hinreichenden Sparwillens sei. Auch wenn der Sparwille vorhanden ist, bleibt es ein fundamentales Problem, ob die gewünschte Vorsorge auch gelingt. Ich nenne dies das Problem der Verfügbarkeit von Vorsorgemöglichkeiten. Ich spreche auch vom Vorsorgetraum. Es ist der Traum, das gesparte oder ererbte Vermögen so anzulegen, dass damit tatsächlich für die eigene Zukunft und zu einem gewissen Grad auch für die Zukunft der Kinder vorgesorgt ist. Oft wird dieser Traum enttäuscht und/oder er wird zu einem Albtraum. Der Vorsorge-Albtraum hat sich auch in der schönen Literatur mannigfaltig niedergeschlagen. Ich erwähne hier den letzten Akt von Goethes Faust, Zweiter Teil.5 Dort kann sich – anders als die Not, die Schuld und der Mangel – die Sorge bei Faust einschleichen; und sie spricht:

„Wen ich einmal mir besitze,
Dem ist alle Welt nichts nütze,
Ewiges Düstre steigt herunter,
Sonne geht nicht auf noch unter,
Bei vollkommnen äußern Sinnen
Wohnen Finsternisse drinnen,
Und er weiß von allen Schätzen
Sich nicht in Besitz zu setzen.
Glück und Unglück wird zur Grille,
Er verhungert in der Fülle,
Sei es Wonne, sei es Plage,
Schiebt er’s zu dem andern Tage,
Ist der Zukunft nur gewärtig,
Und so wird er niemals fertig.“

Thomas Manns „Buddenbrooks“ ist ebenfalls durchzogen von dem Vorsorge-Albtraum, der ja dann auch im Scheitern der Vorsorge endet. Die Schilderung des Senators Thomas Buddenbrook nimmt sich aus wie ein „Zitat“, wie eine Exemplifizierung des Spruchs der Sorge in Goethes Faust. Viele weitere Gestalten der Belletristik des 19. Jahrhunderts entsprechen auch diesem Bild eines Vorsorge-Albtraums. Man denke an Romane von Gottfried Keller, Theodor Fontane, George Eliot und vieler weiterer Autoren.

Studiert man die Biographien von Menschen des 19. Jahrhunderts, so erstaunt gerade bei den geistig tätigen Menschen die Häufigkeit, mit der davon berichtet wird, dass der Vater oder andere enge Verwandte das Familienvermögen verloren haben, häufig sogar in die Zahlungsunfähigkeit geraten sind. Die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hat große Fortschritte für die Erfüllung des Vorsorgetraums, für die Verfügbarkeit von Vorsorge gebracht. Vor dem Hintergrund relativ stetigen Wirtschaftswachstums und friedlicher Verhältnisse vermochten viele Menschen eine im historischen Vergleich einmalige Sicherheit des Lebensstandards auch für die Lebenszeit nach dem Ausscheiden aus der Berufstätigkeit aufzubauen. Der Sozialstaat mit der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung trug dazu Wesentliches bei. Und er konnte aufgrund einer doch recht stetigen Wirtschaftsentwicklung mit geringer Arbeitslosigkeit finanziert werden.

Auch Geldwertstabilität schien in greifbare Nähe zu rücken. Das wichtigste Ziel, das mit der angestrebten Preisstabilität erreicht werden sollte, war ja, dass damit ein Weg geebnet wurde, der dem Bürger den Vorsorge-Albtraum abnehmen sollte: er konnte seine Ersparnisse in diesem Fall risikofrei bei der Bank oder in der Form von Lebensversicherungen anlegen und sie später mit Zinsen ohne Beeinträchtigung der Kaufkraft des Geldes für Konsumzwecke verwenden.

So entstand die im öffentlichen Bewusstsein höchst wirksame Vorstellung, dass es wirtschaftlich und politisch möglich sei, dem Bürger die Sorge um die Verfügbarkeit von Vorsorge abzunehmen, ihn vom Vorsorge-Albtraum endgültig zu befreien: solange nur sein Sparwille hinreichend ausgeprägt sei, sei es angesichts der verfügbaren Anlage- und Versicherungsmöglichkeiten kein Problem, die optimale intertemporale Verteilung seines Konsums selbst zu steuern. Die Krise der letzten Jahre hat den Vorsorge-Albtraum für große Teile Europas, aber auch der USA zurückgebracht.

Neoklassische Theorie

Die neoklassische Theorie hat den Vorsorge-Albtraum kaum thematisiert. Im Zentrum des ökonomischen Mainstream stehen Modelle der intertemporalen Konsumallokation, bei denen das Problem der Verfügbarkeit von Vorsorgemöglichkeiten implizit oder explizit als gelöst angesehen wird. Vorsorge hängt hier allein vom hierfür erforderlichen Sparwillen ab.6 Es gibt zwar Modelle, in denen Risiko eingeführt wird. Diese spielen insbesondere in der Finance-Literatur eine große Rolle. Indessen ist der Schwerpunkt dieser Modelle die Möglichkeit der Risikodiversifizierung, wobei insbesondere meistens auch vorausgesetzt wird, dass der Anleger auch auf ein Asset setzen kann, das keinem Risiko ausgesetzt ist.

Allerdings hat Samuelson in seinem berühmten Overlapping-Generations-Modell aus dem Jahre 1958 das Problem des Anlagenotstands thematisiert.7 Er nahm an, dass der produzierende Sektor kein Realkapital benötige, und stellte die Frage, wie die Einwohner dann durch Sparen für das Alter vorsorgen können. Sein Vorschlag war die Ausgabe von Papiergeld (Fiat-Money), das als Zahlungsmittel eingesetzt wird, zugleich aber als Wertaufbewahrungsmittel taugte. Man kann auch sagen: sein Vorschlag lief darauf hinaus, dass der Staat Schuldtitel ausgibt, die er auch verzinsen mag. Er zeigte, dass der optimale, also nutzenmaximierende Zins gleich der Wachstumsrate der Volkswirtschaft ist. Wenn diese also positiv ist, dann ist der nutzenmaximierende Zins auf Staatsschulden positiv.

Diamond hat später in einem viel beachteten Artikel ein umfassenderes Modell dargestellt, das auch mit überlappenden Generationen arbeitet.8 In diesem neoklassischen Modell kann es sein, dass sich ein Steady-State-Wachstum mit einem Gleichgewichtszins einstellt, der unter der Wachstumsrate liegt. Das ist nach den Erkenntnissen der neoklassischen Wachstumstheorie ein Zustand der „dynamischen Ineffizienz“. Das heißt: es gibt einen praktikablen Alternativpfad, auf dem der volkswirtschaftliche Konsum in jeder Periode höher liegt als auf dem Steady-State-Gleichgewichtspfad. Nach Diamonds Vorschlag sollten Staatsschulden aufgenommen werden, um damit diese dynamische Ineffizienz zu vermeiden, indem dann ein Teil der „übermäßigen“ privaten Ersparnisse durch staatliches Entsparen kompensiert wird und so in jeder Periode mehr konsumiert werden kann.

Es hat damals über längere Zeit zahlreiche Arbeiten gegeben, die sich mit diesem Problem der „dynamischen Ineffizienz“ herumgeschlagen haben. Insbesondere störte das Faktum, dass ein Steady-State-Pfad mit einem Zins unterhalb der Wachstumsrate kein Allgemeines Gleichgewicht im Sinne von Walras-Arrow-Debreu war. Im Prinzip waren hier „Ponzi-Spiele“ möglich: ein Herr Ponzi konnte sich Geld zum herrschenden Marktzins leihen, einen Teil des geliehenen Geldes konsumieren, durch Aufnahme neuen Geldes die alten Schulden verzinsen und zurückzahlen und dieses Spiel ad infinitum weiter betreiben. Sein Schuldenstand konnte mit einer Rate wachsen, die unter der Wachstumsrate des Systems, aber oberhalb des Marktzinssatzes lag, sodass sein Schuldenstand für die Volkswirtschaft als Ganzes nie „zu groß“ werden musste. Nur bei einem Zins, der mindestens so hoch war wie die Wachstumsrate des Systems, konnte ein derartiges Ponzi-System nicht funktionieren. Das Ponzi-Spiel ist somit eine Form dynamischer Arbitrage mit Gewinnen, die sich in dem Konsum des Herrn Ponzi zeigen. Da im Allgemeinen Gleichgewicht jedoch eine derartige Arbitrage nicht möglich ist, kann ein solcher dynamisch ineffizienter Steady-State kein derartiges Allgemeines Gleichgewicht sein.9

Da der Gedanke des Allgemeinen Gleichgewichts aber ganz zentral für die neoklassische Theorie ist, hat der Mainstream Mittel und Wege gesucht, wie man zeigen könne, dass der Gleichgewichtszins immer oberhalb der Wachstumsrate liegen müsse. Die prominenteste Antwort liegt darin, dass man im Gegensatz zu den ursprünglichen Wachstumsmodellen zusätzlich zur Arbeit einen weiteren nicht vermehrbaren Produktionsfaktor benötigt, den wir „Boden“ nennen. Wenn Boden ein handelbares Gut ist und dieses Gut eine Ricardo’sche Bodenrente abwirft, die mit der gleichen Rate wächst wie die Volkswirtschaft als Ganzes, dann ist der Marktwert dieses Bodens unendlich, solange der Zinssatz gleich der Wachstumsrate ist oder unter ihr liegt. Da dann aber das tatsächliche Vermögen in der Volkswirtschaft höher liegt als es dem Vermögensbildungswunsch der Bevölkerung entspricht, liegt kein Gleichgewicht vor. Damit muss der Gleichgewichtszins über der Wachstumsrate liegen. Anders ausgedrückt: solange der Zinssatz, zu dem man sich verschulden kann, nicht höher liegt als die Wachstumsrate der Ricardo’schen Rente, lohnt es sich, Geld zu leihen und mit dem geliehenen Geld Boden zu kaufen, sodass bei jedem endlichen Preis des Bodens eine Übernachfrage nach Boden und nach Krediten vorhanden ist, die zu einer Steigerung des Zinssatzes führen muss. Es ist somit in jedem Steady-State-Gleichgewicht gewährleistet, dass der Zustand nicht „dynamisch ineffizient“ ist, und insofern dynamische Arbitrage à la Ponzi auch nicht vorkommen kann. Zugleich entfällt damit auch die Rolle von Staatsschulden bei der Vermeidung von dynamischer Ineffizienz bzw. bei der Vermeidung des im Samuelson-Modell auftauchenden Vorsorge-Albtraums.10

Diese neoklassische „Philosophie“ hat auch dazu geführt, dass man die Wirksamkeit der Staatsschulden selbst zur Konjunkturglättung (Fiscal Policy) im Keynes’schen Sinne in Abrede stellte. Das ist das bekannte Ricardo-Barro-Theorem aus den 1970er Jahren. Ist der Marktzinssatz höher als die Wachstumsrate des Systems, so wird eine zusätzliche Staatsausgabe, die durch Staatsschulden finanziert wird, in ihrer Wirkung auf die Gesamtnachfrage durch einen Rückgang des privaten Konsums genau kompensiert, der auf die Erwartung zusätzlicher künftiger Steuerbelastung zur Rückzahlung der aufgenommenen Staatsschulden zurückzuführen ist.11 Auch die Methode des Generational-Accounting, wie sie von Kotlikoff erfunden wurde und wie sie in Deutschland seit längerer Zeit von Raffelhüschen angewendet wird, basiert ganz wesentlich auf der Annahme, dass man künftige Zahlungsströme auf die Gegenwart mit einem Zinssatz abzinst, der höher ist als die Wachstumsrate des Systems.12 Wie in vielen anderen neoklassischen Ansätzen ist auch im Barro-Modell zur Ableitung des Ricardo-Barro-Theorems kein Platz für den Vorsorge-Albtraum. Auch im Generational-Accounting fehlt jeder Vorsorge-Albtraum. Es wird ausschließlich auf das Problem mangelnden Sparwillens, in diesem Fall: mangelnden kollektiven Sparwillens abgestellt.

Moderne Theorie der Wirtschaftsordnung

Die im Entstehen begriffene moderne Theorie der Wirtschaftsordnung bezieht die politischen Prozesse mit ein: die politische Ökonomie – oder „Public Choice“ wird in diese Theorie integriert. Beispiele hierfür sind die Bücher von Acemoglou und Robinson13 und insbesondere North, Wallis und Weingast14. Eine entscheidende Größe wird damit von einem Parameter zu einer Variablen: das Eigentumsrecht. North et al. argumentieren in ihrem hoch interessanten, von Geschichtskenntnissen durchtränkten Buch, dass vormoderne Gesellschaften das Hauptproblem der Vermeidung von Gewalt und damit von Bürgerkrieg dadurch lösen – wenn ihnen dies gelingt, was offensichtlich nicht immer der Fall ist –, dass Eigentum immer prekär bleibt und quasi ständig – und gegen den Willen der früheren Eigentümer – zugunsten solcher Gruppen und Personen verschoben, also umverteilt wird, die an Macht hinzugewonnen haben. In der vormodernen Gesellschaft geht somit Macht und Reichtum immer zusammen. Da aber Macht nie endgültig ist, sondern immer wieder entschwinden kann, ist auch Reichtum nie endgültig. Hieraus resultiert strukturell der Vorsorge-Albtraum.

Erst die Trennung von Reichtum und Macht, erst die Möglichkeit der Sicherung von Vermögen ohne die Ausübung von politischer Macht ermöglicht die Überwindung des Vorsorge-Albtraums. Dies geschieht tendenziell in der modernen Gesellschaft, die von North et al. „open access society“ genannt wird. Diese ist durch Rechtssicherheit, Gleichheit vor dem Gesetz, offene Märkte und das effektiv durchgesetzte Gewaltmonopol des Staates charakterisiert. Sie ist politisch meist als Demokratie nach dem Prinzip des allgemeinen Wahlrechts und der parlamentarischen Mehrheitsentscheidung konstituiert. In dieser modernen Gesellschaft gibt es eine hohe formale Sicherheit des Eigentums. Diese ist in den angelsächsischen Ländern vielleicht am stärksten ausgeprägt, was ihnen auch ermöglicht, Vermögen aus anderen Weltgegenden anzuziehen. Aber es wäre eine Illusion zu meinen, dass es irgendeine Gesellschaft gibt (oder auch nur geben kann), in der Eigentum auch materiell absolut sicher ist. Der Staat und damit die demokratische Mehrheit behalten sich immer vor, in vorhandenes Eigentum durch Besteuerung einzugreifen. Da ein Weltstaat fehlt, ist dem Besteuerungsrisiko vor allem dasjenige Eigentum ausgesetzt, das nicht ins Ausland ausweichen kann. Das ist nun gerade der Boden, der in der neoklassischen Theorie angeführt wurde, um die Idee des Allgemeinen Gleichgewichts zu retten.

Ich halte daher den Rettungsversuch der Hypothese Realzins > Wachstumsrate nicht für durchhaltbar. Boden ist ein sehr heterogenes und stark risikobehaftetes Gut. Risikostreuung durch Bodendiversifikation ist nur begrenzt möglich und auch mit Principal-Agent-Kosten verbunden. Das Besteuerungsrisiko steigt mit dem Kapitalwert des Bodens, also mit sinkendem Zinssatz. Auch bei einem risikofreien Zinssatz von Null wächst der Kapitalwert des Bodens nicht in den Himmel. Ähnliches gilt für risikobehaftete Unternehmensbeteiligungen. Es kann somit durchaus sein, dass sich der Realzins unterhalb der langfristigen Wachstumsrate des Systems einstellt.

Temporale Kapitaltheorie

Ich habe an anderer Stelle ausführlich dargelegt, dass ich für das 21. Jahrhundert den Wicksell‘schen „natürlichen Zins“ im negativen Bereich sehe.15 Ich deute hier nur stark abgekürzt die Argumentation an. Unter dem natürlichen Zins16 nach Wicksell, der diese Bezeichnung in die Literatur eingeführt hat, verstehe ich den realen Gleichgewichtszinssatz einer gut beschäftigten geschlossenen Volkswirtschaft, der sich einstellt, wenn es keine Staatsschulden gibt. Dieser Begriff ist natürlich Teil eines neoklassischen Konzepts.

Für die Ableitung dieses Ergebnisses verwende ich theoretische Erkenntnisse insbesondere der temporalen Kapitaltheorie in der Tradition von Eugen von Böhm-Bawerk. Ferner benutze ich einige recht robuste demographische Zusammenhänge. Ohne Staatsschulden ist ein Kapitalmarktgleichgewicht dadurch ausgezeichnet, dass die volkswirtschaftliche Produktionsperiode (etwas modernisiert, aber doch im Geiste des Begriffs, den Böhm-Bawerk verwendet hat) gleich der volkswirtschaftlichen Sparperiode ist. Letztere gibt an, in welchem Verhältnis das aus Vorsorgegründen gebildete Vermögen zum jährlichen Konsum in der Volkswirtschaft steht: eine Bestandsgröße (Vermögen) geteilt durch eine Strömungsgröße (jährlicher Konsum) hat die Dimension „Zeit“. Daher der Name „Sparperiode“.

Wichtig ist nun die Erkenntnis, dass im Gegensatz zur Meinung vieler Ökonomen das Gesetz der Mehrergiebigkeit längerer Produktionsumwege nicht für beliebig lange Produktionsumwege gilt, sondern bei einer endlichen Produktionsperiode T* eine Grenze findet. Jenseits dieser Grenze T* sinkt die Arbeitsproduktivität wieder. Der tiefere Grund dieser Einsicht ist der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik.17 Es ist interessant, dass der Verweis auf derartige physikalische Grundgesetze in der neoklassischen Theorie völlig fehlt. Auch hier ist Samuelson insofern eine Ausnahme, als er thermodynamische Erkenntnisse in Analogie zu gewissen mikroökonomischen Einsichten setzt. Immerhin ist auch dies keine Begründung einer mikroökonomischen Aussage, sondern nur eine Analogiebildung. Die produktivitäts-maximierende Produktionsperiode wird implementiert, wenn der risikofreie Realzins gleich Null ist. Die Erfahrung der letzten 100 Jahre und der seit längerem sehr niedrige risikobereinigte Realzins legen weiterhin nahe, dass dieses T* nicht weit entfernt von dem empirisch beobachteten Wert von T liegt. In erster Approximation kann man T identifizieren mit dem Verhältnis des Bestands an Realkapital zur jährlichen Konsumgüterproduktion. Dieses Verhältnis ist interessanterweise entgegen den Prognosen von Marx („zunehmende organische Zusammensetzung des Kapitals“) und von Böhm-Bawerk im Verlauf des 20. Jahrhunderts im Trend nicht gestiegen.

Auf der anderen Seite ist die Sparperiode aus Vorsorgegründen im Verlauf der letzten 100 Jahre stark angestiegen. Das liegt an den Zugewinnen der Menschen, was ihre Lebensdauer anbelangt. Diese betreffen die gesamte Bevölkerung der reichen Länder, aber auch Länder wie China. Der Vorsorgeaufwand für das Alter ohne Erwerbseinkommen oder das dafür vorgehaltene Vermögen steigt ungefähr proportional mit der Länge dieses dritten Lebensabschnitts. Eine Daumenregel sagt: die für die Altersvorsorge im Durchschnitt der Volkswirtschaft erforderliche Sparperiode ist die Hälfte der durchschnittlichen Länge dieses Lebensabschnitts. Diese liegt für die reichen Länder, aber auch für China in der Größenordnung von 20 Jahren, so dass sich allein aus Altersvorsorgegründen eine Sparperiode von etwa zehn Jahren ergibt. Dazu kommt das Vererbungsmotiv. So schätze ich die Sparperiode des OECD+China-Raums auf mindestens zwölf Jahre.

Bei der Berechnung dieser Sparperiode behandle ich „angesparte“ künftige Ansprüche der Versicherten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Krankenversicherung als „Vermögen“. Man kann die nach dem Umlageverfahren finanzierte Rentenversicherung gedanklich aufspalten in eine Rentenversicherung mit Deckungsstock nach dem Vorbild der privaten Lebensversicherung und in eine Staatsschuld in der Höhe des fehlenden Deckungsstocks. Dann entspricht dem „Vermögen“ der Versicherten in der Form von künftigen Rentenansprüchen (abzüglich noch zu leistender Beiträge) eine Staatsschuld in genau dieser Höhe. Analoge Überlegungen kann man bezüglich der Altersrückstellung bei der Krankenversicherung anstellen, sofern diese auch nach dem Umlageverfahren funktioniert.

Die Produktionsperiode T ist in dem OECD+China-Raum nicht einmal halb so groß wie die hier geschätzte private Sparperiode. Die volkswirtschaftliche Sparperiode ist jedoch gleich der Produktionsperiode T. Dies deshalb, weil die Staatsschulden die volkswirtschaftliche Sparperiode drastisch verkürzen. Bezeichnen wir mit D die Staatsschulden-Periode. Sie ist das Verhältnis aus der Bestandsgröße Staatsschulden zum jährlichen volkswirtschaftlichen Konsum, also eine Größe mit der Dimension „Zeit“. Sei S die oben definierte private Sparperiode, dann gilt die Gleichung

T = S - D

als Bedingung für ein Kapitalmarktgleichgewicht. Von Kapitalexport und -import sehe ich hier ab, weil dieser für den OECD+China-Raum im Austausch mit dem Rest der Welt nur eine untergeordnete Rolle spielt und spielen kann.

Wären nun die Staatsschulden gleich Null, so müssten T und S einander gleich sein. Bei einem Zins von Null wäre T gleich T*, also gleich der Produktionsperiode, die die Produktivität der Arbeit maximiert. Aber, wie oben ausgeführt, ist T* nicht weit von dem aktuellen Wert für T entfernt. Damit aber müsste ohne Staatsschulden in einem Kapitalmarktgleichgewicht bei nichtnegativem Zins S wesentlich niedriger liegen als sein aktueller Wert. Das aber kann dann nur dadurch kommen, dass die Vorsorgewünsche der Menschen nicht voll befriedigt werden können. Es herrscht dann ein „Anlagenotstand“, d.h.: der Vorsorge-Albtraum ist wieder da. Es sei die tatsächliche private Sparperiode mit S bezeichnet. Es sei die bei guter Beschäftigung und Preisstabilität und einem risikolosen Zins von Null gewünschte Sparperiode mit S* bezeichnet. Dann ist S* die Sparperiode, die bei einem risikolosen Zins von Null und Preisstabilität kompatibel ist mit der Abwesenheit eines Vorsorge-Albtraums. Nach meiner Abschätzung ist S* mindestens zwölf Jahre lang.

Der natürliche Zins, bei dem – ohne Staatsschulden – die gewünschten Vermögensbestände aus Vorsorgegründen dem dann gewünschten Bestand an Realkapital entsprechen, ist somit negativ. Ein negativer Realzins kann durch einen Nominalzins erreicht werden, der unter der Inflationsrate liegt. Dann aber hat man erneut keine vollständige Verfügbarkeit von Vorsorgemöglichkeiten: Wer risikolos vorsorgen will, muss mit einem Anlageinstrument vorlieb nehmen, das nicht voll werterhaltend ist. Jedes Jahr verliert der Anleger einen Prozentsatz seines Vermögens, der zumindest der Differenz zwischen der Inflationsrate und dem Nominalzins entspricht. Auch hier bleibt ein gewisser Vorsorge-Albtraum erhalten.

Rückkehr zur Makrotheorie

Die Dynamik eines Übergangs von einem Zustand voller Verfügbarkeit von Vorsorgemöglichkeiten (S mindestens zwölf Jahre) zu einem Zustand ohne Staatsschulden bei Beibehaltung der Preisstabilität (S = T gleich ungefähr fünf Jahre) kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Sie erinnert an die Befürchtungen der Keynesianer: mangelnde effektive Nachfrage, die zu Arbeitslosigkeit führt, Bankenzusammenbrüche, Abwertungswettlauf etc. Sie ist jedenfalls schon sehr bald mit erheblichen Vorsorge-Albträumen der Bevölkerung verbunden.

Nun ist Keynes bei vielen Ökonomen in Misskredit geraten. Hayek hat seine Ideen von Anfang an bekämpft. Der Mainstream, der nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus für die Gedanken von Keynes aufgeschlossen war, wendete sich von ihm ab, als er den politischen Missbrauch sah, der mit den Ideen von Keynes insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren getrieben wurde. Der Siegeszug des Monetarismus und des Ricardo-Barro-Theorems waren die Folge.

Ich selbst komme aus der neoklassischen Tradition, verdanke das allermeiste meinen neoklassischen Lehrmeistern Samuelson und Solow – die allerdings auch das Erbe von Keynes hochgehalten haben. Meine Rückkehr zur Makro­theorie, verursacht durch die Krise der letzten Jahre, möge man aber nicht verstehen als einen Schwenk zum Keynes-Epigonentum. Vieles, was von den Keynes-Epigonen propagiert wird, lehne ich ab – so z.B. die Vorstellung, dass kräftige Lohnerhöhungen ein Beitrag zur Überwindung der Krise seien. Vielmehr will ich tiefer graben. Das Ziel ist die Einbettung richtiger Einsichten von Keynes in ein umfassenderes Gedankengebäude. In dieser Ausarbeitung konzentriere ich mich auf das Problem, das ich mit dem Vorsorge-Albtraum bezeichne und das von der neoklassischen Theorie vernachlässigt wurde.

In der Dynamik einer krisenhaften Entwicklung, wodurch immer sie ausgelöst sein mag, können gerade auch Staatsanleihen die Bonität einbüßen, die sie vor der Krise gehabt haben. Damit sind viele von ihnen auch nicht mehr geeignet, als Beitrag zur Befreiung vom Vorsorge-Albtraum zu dienen. Die aktuellen Ereignisse im Euroraum geben hier reichliches Anschauungsmaterial. Gerade dadurch wird der Ruf nach einem Abbau von Staatsschulden stärker: dies einmal generell, also auch für Staaten, deren Bonität noch intakt ist; dies zum anderen speziell im Rahmen von internationalen Nothilfeprogrammen nach dem langjährigen Vorbild des Internationalen Währungsfonds (IWF), wo der momentan gewährten Liquiditätshilfe Sanierungsverpflichtungen des Hilfeempfängers gegenüberstehen. Diese Sanierung bezieht sich dann insbesondere auf den Staatshaushalt. Gerade in der Krise gilt aber vielfach nicht die Crowding-out-These und erst recht nicht das Ricardo-Barro-Theorem. Die Crowding-out-These besagt ja nach neoklassischer Vorstellung, dass staatliche Nettoneuverschuldung das Kreditangebot von den privaten Kreditnachfragern auf den staatlichen Kreditnachfrager umlenkt und damit zu geringeren Investitionen im privaten Sektor führt. In der Krise gibt es vielmehr einen Mangel an Kreditnehmern mit hoher Bonität. Selbst zu sehr niedrigen Zinssätzen können die Banken nicht so viele Kreditnehmer mit hoher Bonität finden, wie sie an derartigen vergleichsweise sicheren Darlehen zu vergeben wünschen. Wenn der Staat im Rahmen seiner Konsolidierungsbemühungen weniger Kredit aufnimmt, so vermehrt sich die Kreditvergabe an private Schuldner hoher Bonität nicht, da schon zuvor der Engpass nicht das Kreditangebot, sondern die Kreditnachfrage gewesen ist.

Grundsätzlich muss die Wirtschafts- und Finanzpolitik mit der Interferenz von zwei Effekten fertig werden, die derartige Sanierungsauflagen in nationalen Krisensituationen verursachen. Das „Normalgeschäft“, das der IWF über Jahrzehnte betrieben hat, besteht darin, dass ein Staat – meist verursacht durch eigene „Schuld“ – in eine Krise geraten ist, aus der der IWF durch Überbrückungskredite gegen Sanierungszusagen heraus hilft. Die Gründungsidee des IWF war es schon, dass man durch derartige Krisenhilfe Ansteckungseffekte auf andere Staaten verhindern könne. Wenn aber eine praktisch weltweite Absatzkrise besteht, so wirken sich Konsolidierungsmaßnahmen in einem Land krisenverschärfend in der Weltwirtschaft aus. Gewiss können derartige Hilfsmaßnahmen dann immer noch richtig sein. Denn sie schaffen der Weltwirtschaft ja auch zusätzliche Liquidität. Wenn man aber in eine weltwirtschaftliche Situation geraten ist, in der trotz reichhaltiger Liquiditätsversorgung die Absatzkrise anhält, dann bleibt vor allem der kontraktive Effekt der Konsolidierungsmaßnahme in dem in eine akute Zahlungsfähigkeitskrise geratenen Land. Es erscheint dann angebracht, dass dieser weltwirtschaftlich kontraktive Effekt der Konsolidierungsmaßnahme dadurch kompensiert wird, dass in anderen, noch stabileren Ländern die Nettoneuverschuldung erhöht wird. So verstehe ich auch die gelegentlichen Äußerungen der Präsidentin des IWF, die gerade in Deutschland Irritationen hervorrufen.

Die Gegenposition zu dieser Analyse ist die, dass es gar keine Absatzkrise gebe, bzw. dass diese nur Ergebnis der allgemeinen Verunsicherung sei, die durch das Problem zu hoher Staatsschulden ausgelöst worden sei. Diese Ausarbeitung hat nicht das Ziel, diese wirtschaftspolitische Auseinandersetzung im Detail weiterzuführen. Es geht mir vielmehr darum, darauf hinzuweisen, dass diese Gegenposition eine fundamentale Schwäche hat, die sich eben in dem Vorsorge-Albtraum äußert: die Weltwirtschaft kann nicht im Gleichgewicht bei hoher Beschäftigung sein, wenn sämtliche Staatsschulden abgebaut sind, weil selbst bei einem risikolosen Realzins von Null der Vorsorgewunsch der Menschen weitaus größer ist als dann Anlagemöglichkeiten zur Verfügung stehen. Daraus folgt noch nicht unmittelbar, dass ein weltweiter Kurs des Abbaus von Staatsschulden gegenwärtig falsch sei. Aber es ist dann eine schwierige Frage, wo die Grenze für diesen Schuldenabbau liegt, die irgendwo bei einem positiven Wert der Staatsschulden liegen muss. Es ist jedoch durchaus möglich, dass der weltweit optimale Staatsschulden-Stand höher liegt als der aktuelle. Jedenfalls habe ich große Zweifel, ob die nun geplante allgemeine europäische Schuldenbremse im Rahmen des Fiskalpakts uns aus der Krise führt.

Die Rolle der Zinsen

Ehe ich auf die Rolle des Staats bei der Herbeiführung hinreichender Anlagemöglichkeiten für die private Vorsorge zurückkomme, diskutiere ich die Rolle der Zinsen, die auf Staatsschulden gezahlt werden. Bei einem risikolosen Realzins von Null und der zugehörigen „optimalen“ Produktionsperiode T* ist das Vorsorgeproblem gelöst, wenn die Staatsschulden-Periode D gleich der Differenz zwischen der von den privaten Sparern gewünschten Sparperiode S* und der Produktionsperiode T* ist.18 Da der Realzinssatz Null ist, entsteht keine Belastung des Staatshaushalts durch die Staatsschulden. Auch wenn formal – bei Inflation – ein Budgetposten „Zinsen für Staatsschulden“ entsteht, wird in einer real stationären Volkswirtschaft eine konstante Staatsschulden-Periode D mit einer nominellen Nettoneuverschuldung einhergehen, die genau dem Zinsendienst entspricht. In einer real wachsenden Volkswirtschaft bedeutet ein Realzins von Null, dass die Nettoneuverschuldung größer ist als der nominale Zinsendienst. Dann ergibt sich aus der Staatsschuld bei konstant gehaltener Staatsschulden-Periode sogar ein dauerhafter positiver Entlastungsbeitrag für den Staatshaushalt.

Für einen Staat, dessen Bonität auf dem Kapitalmarkt so gering ist, dass er relativ zum risikolosen Zins eine beträchtliche Risikoprämie bezahlen muss, ergibt sich selbstverständlich ein Zwang zur Konsolidierung, zur Reduktion der Staatsschulden-Periode. So besteht gar kein Zweifel – um einen extremen Fall zu nehmen –, dass Griechenland massiv konsolidieren muss, um seine Kapitalmarktfähigkeit zurückzuerhalten. Es mag allerdings bei anderen Staaten anders aussehen. Wenn ein Staatshaushalt einen Primärüberschuss ausweist, somit unter Abzug der Zinsen ohne Nettoneuverschuldung auskäme, dann würde eine Höherstufung des Ratings auf AAA sich praktisch selbst rechtfertigen: dann zahlte der Staat nur den risikofreien Realzins, der annahmegemäß Null ist. Er erzielte dann ceteris paribus einen Haushaltsüberschuss. Ein weiterer Konsolidierungsschritt wäre dann nicht erforderlich.

Diese letzte Überlegung einer Art „Münchhausen-Operation“ des sich selber aus dem Sumpf Ziehens ist allerdings solange rein hypothetisch, wie der Kapitalmarkt nicht das Vertrauen hat, dass der betreffende Staat seine bisherige Haushaltspolitik eines Primärüberschusses beibehält. Um ein solches Vertrauen zu gewinnen, bedarf es möglicherweise eines Instruments von der Art einer verfassungsmäßig verankerten Schuldenbremse. Allerdings ist die jetzt im Fiskalpakt vorgesehene Schuldenbremse dann nicht geeignet, wenn man das Problem des Vorsorge-Albtraums ernst nimmt. An deren Stelle müssten Regeln eingeführt werden, die insbesondere die Höhe des risikofreien realen Kapitalmarktzinssatzes mit berücksichtigen. Ich kann in dieser Ausarbeitung die Details solcher Regeln nicht weiter diskutieren. Ich glaube aber, dass geeignete Regeln gefunden werden können. Im Übrigen ist es aus Eigeninteresse und für die Weltwirtschaft sinnvoll, dass Staaten, die keine Bonitätsprobleme haben, ihre Staatsschulden-Periode erhöhen, solange der inflationsbereinigte Kapitalmarktzinssatz sehr niedrig ist. An dieser Stelle breche ich die mehr den aktuellen Problemen gewidmeten Erörterungen ab, um mich noch einmal der Frage zuzuwenden, weshalb es die Staatsverschuldung ist, die eine zentrale Rolle bei der Lösung des Vorsorgeproblems, bei der Beseitigung des Vorsorge-Albtraums spielt.

Gewaltmonopol des Staates

Ein Wesensmerkmal eines funktionierenden Staates ist sein Gewaltmonopol. Das hat er anderen möglichen Ponzi-Spielern voraus. Wollte man in einer Situation, in der S* wesentlich größer als T* ist und in der der risikolose Realzinssatz gleich Null ist, auf Staatsschulden verzichten, dann müsste man eigentlich darauf hoffen, dass Ponzi-Spieler auf den Plan treten, die es den Menschen erleichtern, ihre Vorsorgewünsche zu befriedigen. Allerdings ist ein Ponzi-Spiel illegal. Der große Ponzi-Spieler Madoff sitzt hinter Gittern. Der Grund für diese Illegalität ist klar: wären Ponzi-Spiele legal, würden sie von vielen versucht werden. Die meisten würden letztlich scheitern und das ihnen anvertraute Vermögen der Anleger wäre größtenteils vernichtet. Insofern ist der Staat der einzige legitime Ponzi-Spieler. Seine auf dem Gewaltmonopol basierende Fähigkeit, in einem gewissen Rahmen künftige Steuereinnahmen faktisch (aber nicht formal) zu „verpfänden“, verschafft ihm Glaubwürdigkeit bei den Gläubigern, solange die risikofreien Realzinsen in der Nähe von Null verweilen. Das aber tun sie, solange die weltweite Staatsverschuldung den Wert S* - T* nicht überschreitet. Und er sollte dieses Spiel spielen, indem er Staatsschulden macht, damit das Anlageproblem seiner Bürger gelöst werden kann.

Man kann die Frage stellen, ob nicht die Unternehmen des Finanzsektors, insbesondere die Banken eine Art implizites Ponzi-Spiel spielen. Ich werde dieser Frage hier nicht weiter nachgehen. Im Ganzen wäre eine positive Antwort eher beunruhigend. Insbesondere wäre dies dann ein Ponzi-Spiel mit wesentlich höheren Transaktionskosten als das Ponzi-Spiel, das der Staat spielen kann.

Der moderne Sozialstaat war die Antwort auf den fundamentalen Vorsorge-Albtraum breiter Schichten. Nachdem man in Deutschland als dem Pionier in Sachen Sozialversicherung vor dem ersten Weltkrieg mit dem Kapitaldeckungsverfahren begonnen hatte, ist man schon in der Weimarer Republik zum Umlageverfahren übergegangen, weil der Deckungsstock die Folgen des ersten Weltkriegs, nämlich die Große Inflation, nicht überlebt hat. Es blieb gar nichts anderes übrig. Ursprünglich wurde das Umlageverfahren als Notmaßnahme gesehen. Es wurde dann nach dem Zweiten Weltkrieg als „Generationenvertrag“ verherrlicht. Das Umlageverfahren hat sich weltweit durchgesetzt. Es ist, so scheint mir, das einzige praktikable Verfahren für die Lösung des Vorsorgeproblems, weil ein Deckungsstock beim Kapitaldeckungsverfahren im Weltkapitalmarkt gar nicht untergebracht werden könnte.

Fazit

Abschließend einige Bemerkungen zur Evolution von Begriffen in der Ökonomik und im öffentlichen Diskurs. Gedanken und Meinungen werden stark von Begriffen beeinflusst. „Vermögen“ ist ein Begriff, der positiv besetzt ist. „Schulden“ ist ein Begriff, der negativ besetzt ist. Vermögen kann sich aber nur in der Form von Realvermögen, Beteiligungen oder Forderungen bilden. Die Forderungen des einen sind die Schulden des anderen. Es ist somit aus einer makroökonomischen Sicht immer so, dass bei gegebenem Realvermögen das private Vermögen nur steigen kann, wenn die Forderungen an den Staat steigen, wenn also der Staat als Schuldner herhält. Wenn aber der Vorsorgewunsch den Wunsch zur Realkapitalbildung übersteigt, sind die Staatsschulden der Weg, wie man dem Vorsorge-Albtraum gerecht werden kann. Unser Rechtssystem, unsere sozialstaatlichen Einrichtungen sind individualistisch aufgebaut. Diese individuellen Ansprüche haben sich im Verlauf der Geschichte weiterentwickelt. Dem Inbegriff eines idealen Sozialstaats entspricht es, dass den Menschen der Vorsorge-Albtraum abgenommen wird. Ist dies der Fall, ist die Summe der individuellen Ansprüche an zukünftige Zahlungen bei heutiger Demographie weitaus größer als das für den Produktionsprozess erforderliche Sachkapital. Die Lücke muss dann aus Schulden des Kollektivs bestehen, des Staats, gegenüber den Individuen. Wenn diese Schulden des Kollektivs an seine Bürger zudem real mit Null verzinst werden, dann werden spätere Generationen durch diese Schulden auch nicht belastet. Hierfür ist allerdings Voraussetzung, dass die Volkswirtschaft nicht schrumpft.

Die Verzinsung des risikolosen Vorsorgevermögens mit Null ist quasi der „Preis“, den der einzelne vorsorgende Bürger dem Staat als Repräsentanten aller Bürger dafür zu bezahlen hat, dass es ihm der Staat mithilfe seines Gewaltsmonopols und der darauf aufbauenden Besteuerungskraft ermöglicht, die von ihm gewünschte Vorsorge in dem von ihm gewünschten Umfang zu erlangen, ihn also vom Vorsorge-Albtraum zu befreien. Der „Preis“, den der Staat hier einnimmt, besteht darin, dass er die Besteuerung der Bürger geringer halten kann als ohne diese Staatsschulden: seine jährliche Steuerersparnis, bezogen auf den jährlichen Konsum der Volkswirtschaft, ist bei einem Zinssatz von Null gleich g · D, wobei g die reale Wachstumsrate des Systems ist.

  • 1 F. A. von Hayek: Rechtsordnung und Handelnsordnung, in: F. A. von Hayek: Freiburger Studien, Tübingen 1969, S. 162 f.
  • 2 C. C. von Weizsäcker: Asymmetrie der Märkte und Wettbewerbsfreiheit, in: V. Vanberg (Hrsg.): Evolution und freiheitlicher Wettbewerb – Erich Hoppmann und die aktuelle Diskussion, Tübingen 2009, S. 211-244.
  • 3 In den Jahrzehnten meiner vielfältigen Gutachtentätigkeit in kartellrechtlichen Fällen bin ich keiner Ausnahme von dieser Regel „langfristige DK > langfristige GK“ (hier Forschungsinvestitionen in geeigneter Weise den Durchschnittskosten zugerechnet) begegnet.
  • 4 „Denn so spricht der Herr: So ich meine vier bösen Strafen, als Schwert, Hunger, böse Tiere, und Pestilenz, über Jerusalem schicken werde, dass ich darin ausrotte Menschen und Vieh“, Hesekiel 14,21.
  • 5 J. W. von Goethe: Faust, 2. Teil, Akt 5.
  • 6 Das ganz überwiegend verwendete Modell einer intertemporalen Gesamtnutzenfunktion, die sich als Summe der Periodennutzen ergibt, setzt voraus, dass Vorsorgemöglichkeiten verfügbar sind: nur dann macht es Sinn, anzunehmen, dass der Periodenkonsum als Geldgröße als Argument des Periodennutzens dient, quasi als Proxy für die in dieser Periode konsumierten realen Güter. Wäre die künftige Verfügbarkeit der Güter wegen nicht oder schlecht funktionierender Gütermärkte prekär, dann könnte das Geldeinkommen nicht als Proxy fungieren. Es wäre dann ja auch gar nicht möglich, ein Realeinkommen derart auszurechnen, dass man das Nominaleinkommen durch den Verbraucherpreisindex dividiert. Dass ein Verbraucherpreisindex überhaupt Sinn macht, setzt voraus, dass man zu den in diesen Index eingehenden Preisen die Güter tatsächlich erwerben kann. Hinter dieser als selbstverständlich angesehenen Voraussetzung steckt die implizite Annahme der Marktasymmetrie bei Gütermärkten, die ich in meinem oben zitierten Beitrag in der Hoppmann-Gedenkschrift thematisiert habe.
  • 7 P. Samuelson: An exact consumption-loan model of interest with and without the social contrivance of money, in: Journal of Political Economy, 66. Jg. (1958), S. 467-482.
  • 8 P. Diamond: National debt in a neoclassical growth model, in: American Economic Review, 55. Jg. (1965), S. 1126-1150.
  • 9 Vgl. unter anderen C. C. von Weizsäcker: Das eherne Zinsgesetz, in: Kyklos, 1979, XXXII, S. 270-282; O. Blanchard, P. Weil: Dynamic Efficiency, the Riskless Rate, and Debt Ponzi Games under Uncertainty, in: Advances in Macroeconomics, Bd. 1, H. 2, 2001.
  • 10 Vgl. S. Homburg: Interest and growth in an economy with land, in: Canadian Journal of Economics, 24. Jg. (1991), S. 450-459.
  • 11 R. Barro: Are Government Bonds Net Wealth?, in: Journal of Political Economy, 82. Jg. (1974), H. 6, S. 1095-1117.
  • 12 L. J. Kotlikoff, B. Raffelhüschen: Generational Accounting around the Globe, in: American Economic Review, 89. Jg. (1999), H. 2, S. 161-166.
  • 13 D. Acemoglou, J. Robinson: Why Nations Fail: The Origins of Power, Prosperity and Poverty, New York 2012.
  • 14 D. C. North, J. J. Wallis, B. R. Weingast: Violence and Social Order, Cambridge 2009.
  • 15 C. C. von Weizsäcker: Staatliches Gewaltmonpol, Staatsverschuldung und individuelle Vorsorge, Walter Adolf Jöhr Vorlesung 2011, St. Gallen, 2011, www.fgn.unisg.ch/Walter+Adolf+Joehr+Vorlesung.aspx; ders.: Public Debt Requirements in a Regime of Price Stability, Preprint of the Max Planck Institute for Research on Public Goods, Bonn 2011, http://www.coll.mpg.de/biblio/aid/123?sort=issue (20.8.2011).
  • 16 K. Wicksell: Geldzins und Güterpreise, Jena 1898.
  • 17 Details in C. C. von Weizsäcker: Staatliches Gewaltmonpol ..., a.a.O.
  • 18 Aus Vereinfachungsgründen gehe ich auf Vermögenswerte wie nicht vermehrbaren Boden oder risikotragende Anteile an Unternehmen nicht ein. Ich habe ja oben dargelegt, weshalb ich die qualitativen Ergebnisse meiner Analyse auch dann aufrecht erhalten könnte, wenn ich diese Vermögenswerte mit einbeziehen würde.

Title:The Nightmare of Provision

Abstract:Neoclassical economics assumes that provision for the future is simply a matter of the will to save enough of one’s current income. However, saving requires the availability of a secure instrument. Historically, the availability of such instruments has always been a problem. The social security system of the 20th century provided a great improvement in this respect. In the meantime, life expectancy has grown to exceed retirement age by about two decades. The savings requirements for this long retirement period lead to an excess of the supply of savings (including social security contributions), which vastly exceeds the capacity of the private sector to build real capital. Government debt is required to prevent the provision nightmare.


DOI: 10.1007/s10273-013-1482-8