Am 22. Juli 2010 starb Herbert Giersch im Alter von 89 Jahren. Giersch war eine große Persönlichkeit mit vielen Facetten: begnadeter Volkswirt, brillanter akademischer Lehrer, leidenschaftlicher Berater der Politik, großzügiger Mäzen der Wissenschaft und daneben stets inspirierender Freigeist. Wer sich ihm in der Erinnerung nähert, der trifft einen höchst innovativen Gelehrten mit umfassendem Werk und prägender Wirkungskraft.
Herbert Giersch wurde am 11. Mai 1921 in Reichenbach (Schlesien) geboren. Nach Schule und Kriegsdienst studierte er Volkswirtschaftslehre in Breslau, Kiel und Münster (dort u.a. bei Walther G. Hoffmann). Er wurde 1948 promoviert, habilitierte sich 1950 und arbeitete von 1950 bis 1951 sowie von 1953 bis 1954 bei der OEEC (heute: OECD) in Paris, wo eine tiefe Freundschaft mit Robert Solow entstand, die bis zu seinem Tod erhalten blieb. Nach Privatdozentur in Münster und Lehrstuhlvertretung in Braunschweig wurde Giersch Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, wo er von 1955 bis 1969 lehrte und wirkte. Dann folgte der Wechsel nach Kiel. Er übernahm dort einen Lehrstuhl für Volkswirtschaftstheorie an der Christian-Albrechts-Universität und wurde gleichzeitig Präsident des Instituts für Weltwirtschaft Kiel. Er blieb beides bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1989. Zweimal übernahm Giersch Gastprofessuren an der Yale University in New Haven – in den Jahren 1962 und 1977/78.
Der wirtschaftspolitischen Beratung war Giersch sehr lange und tief verbunden. Von 1960 bis 2007, also 47 Jahre lang, war er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft; von 1963 bis 1969 war er Gründungsmitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter drei Ehrendoktorwürden und den Ludwig-Erhard-Preis sowie das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband. Er war Ehrenmitglied der American Economic Association und seit 1991 Mitglied des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaft und Künste. Im Jahr 1998 gründete er seine eigene Stiftung. Sie verfolgt einen gemeinnützigen Zweck, nämlich die Förderung der Wirtschaftswissenschaften mit besonderem Schwerpunkt auf Fragen der weltwirtschaftlichen Entwicklung.1
Soweit das Leben. Es ist so schnell erzählt, weil es – bei aller Fülle und Vielfalt – überaus geradlinig, erfolgreich und glücklich verlief. Dies gilt auch für das private Umfeld: Herbert Giersch heiratete 1947 in Münster seine Studienkollegin Friederike Koppelmann, eine promovierte Volkswirtin; er gründete mit ihr nicht nur eine Familie mit schließlich drei Kindern, sondern auch eine lebenslange intellektuelle Gemeinschaft. Jeder wusste: Im Hause Giersch wurde nicht nur unterhaltsam geplaudert, sondern über die Gesellschaft intensiv nachgedacht und diskutiert.
Das Werk
Die Arbeit, das Wirken und der Einfluss von Herbert Giersch waren außergewöhnlich breit und tief. Er selbst vermied dabei allzu starke Abgrenzungen zwischen Fachthemen. Dies gab seiner Arbeit als Wissenschaftler und akademischer Lehrer jene faszinierende Offenheit, die ihn stets vor Dogmatismus bewahrte und seine Schüler motivierte. So waren seine Seminare an der Universität eine Mischung aus griechischer Akademie und parlamentarischer Enquêtekommission, fernab des dumpfen Spezialistentums, das sich in technischen Details verschleißt. Seine beiden Lehrbücher – 1960 zur allgemeinen Wirtschaftspolitik und 1977 zur Konjunktur- und Wachstumspolitik – waren Kompendien der präzisen verbalen Argumentation. Sein Ziel war es dabei, reife Volkswirte heranzubilden, die mit ökonomischem Sachverstand jede gesellschaftliche Herausforderung intellektuell annehmen und analytisch durchdringen. Dieses Ziel hat er erreicht. Die Zahl derer, die sich mit Stolz als Schüler Gierschs bezeichnen, ist Legion.
Gleichwohl gab es natürlich in seiner Arbeit Schwerpunkte. Mit etwas Mut zur Vereinfachung lassen sich drei Themenbereiche besonders klar identifizieren: in den frühen Jahren Fragen der Außenwirtschaft und der Wirtschaftsintegration; in den mittleren Jahren Fragen der Ordnungs- und Konjunkturpolitik; in den späteren Jahren Fragen des weltwirtschaftlichen Wachstums.
Die Arbeit der frühen Jahre hat in vielerlei Hinsicht fast propädeutischen Charakter. Im Klima der beginnenden europäischen Integration veröffentlichte Giersch eine Reihe von Beiträgen zu Themen der Zolltheorie und Regionalökonomik, in Stil und Fragestellung geprägt von den wohlfahrts- und allokationstheoretischen Neuerungen, die zur damaligen Zeit vor allem aus dem angelsächsischen Raum kamen. Der große britische Ökonom James Meade war dabei für Giersch eine Leitfigur. Stets blieb allerdings auch die gedankliche Linie der deutschen Raumwirtschaftstheorie erkennbar. Sie sollte später wiederkehren – im Zusammenhang mit den großen Fragen des weltwirtschaftlichen Wachstums, die Giersch ab den späten 1970er Jahren aufgriff.
Der Politikberater
Zunächst folgten aber völlig neue Themen, die Giersch fast zwei Dekaden in den Bann schlugen. Denn mit Vollbeschäftigung und inflationärer Überhitzung in den frühen 1960er Jahren begann die große Zeit der sogenannten Globalsteuerung, also des Einsatzes keynesianischer Nachfragepolitik, um die Wirtschaft auf einem stabilen Kurs des nichtinflationären Wachstums zu halten. Als einer der führenden Köpfe des neu etablierten Sachverständigenrats entwickelte Giersch eine Reihe von Konzepten, die schließlich von dem späteren Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller in die Praxis umgesetzt und erprobt wurden. Die „konzertierte Aktion“, ein Begriff von Giersch, gewann dabei besondere Berühmtheit. Es ging dabei vor allem um den politisch koordinierten Kampf gegen die Preisinflation, und zwar durch Lohnzurückhaltung bei gleichzeitiger Stabilitätsorientierung von Geld- und Fiskalpolitik. Es ging aber auch um den keynesianischen Kampf gegen die scharfe Rezession 1967. Kurzum: Im Zentrum stand der optimale Einsatz aller wirtschaftspolitischen Instrumente, die vom neuen Stabilitäts- und Wachstumsgesetz bereitgestellt wurden.
Ein Höhepunkt von Gierschs Einfluss wurde dabei zweifellos die Frage der D-Mark-Aufwertung in der Spätphase des Bretton-Woods-Systems zwischen 1969 bis 1973. Frühzeitig erkannte er, dass Preisstabilität bei der vorherrschenden amerikanischen Geldpolitik nur durch eine mutige Anpassung der Wechselkurse zu haben war; und als dies nicht wirklich gelang, wurde ihm schnell klar, dass ein Übergang zu flexiblen Wechselkursen unumgänglich war. Er fand sich dabei fast immer auf der Seite von Karl Schiller, mit dem ihn lebenslang eine enge Geistesverwandtschaft verband.
Die Jahre 1973 bis 1975 markieren eine Wasserscheide in der Weltwirtschaft – mit der ersten Ölkrise, dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems und der Wiederkehr von Massenarbeitslosigkeit infolge einer industriellen Schrumpfung, die sich als dauerhaft erwies. Giersch war einer der ersten Ökonomen, der die Tragweite des Wandels erkannte. Als Präsident des Instituts für Weltwirtschaft wurde er einer der ersten (und prononciertesten) Vertreter einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik – zu einer Zeit, als die gängige Makroökonomik das Konzept einer aggregierten Angebotskurve noch gar nicht in ihre Modelle integriert hatte. In einer Fülle von Äußerungen rief er dazu auf, die Elastizität des gesamtwirtschaftlichen Angebots als wirtschaftspolitisches Ziel in den Blick zu nehmen.
Konkret hieß dies zweierlei. Zum einen plädierte Giersch für eine moderate Lohnpolitik – und zwar nicht mehr, wie in der konzertierten Aktion der 1960er Jahre, zur Bekämpfung der Inflation ohne Beschäftigungseinbruch, sondern zur Erhöhung der Beschäftigung durch Lohnzurückhaltung bei gegebenem Trend des Produktivitätsfortschritts. Zum anderen forderte er Deregulierungen auf den Arbeits- und Produktmärkten, um die Rentabilität der Investitionen zu erhöhen, das Wachstum zu beschleunigen und die Arbeitslosigkeit zu senken. Beides trug ihm zumindest zeitweise den Ruf eines dogmatischen Angebotsökonomen ein, der er nie war. In Wirklichkeit war er nur schneller und zielgenauer als andere in Wissenschaft und Politik. Er erkannte mit geschultem Blick und hervorragender Intuition den radikalen Wandel der Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft. Und er zog daraus die nötigen Schlüsse. Dies gipfelte in den 1980er Jahren in seiner Diagnose der „Eurosklerose“, ein weiterer, von ihm geprägter Begriff, der zum Allgemeingut wurde. Gemeint war damit der Reformstau, der in Deutschland und anderen europäischen Ländern zu beobachten war und die Dynamik der Wirtschaftsentwicklung behinderte, ganz anders als in den USA. Hier sah er einen klaren Rückstand der „alten“ gegenüber der „neuen“ Welt; und er forderte mit Leidenschaft, diesen Rückstand zu beseitigen.
Die globale Sicht
Damit kündigte sich sein dritter thematischer Schwerpunkt an, vielleicht der wichtigste überhaupt. Giersch erkannte zunehmend, dass die neuen Herausforderungen nur in einer globalen Sicht schlüssig zu interpretieren waren. Damit begann ab Mitte der 1970er Jahre seine intensive Beschäftigung mit Fragen der weltwirtschaftlichen Entwicklung. In einer Reihe von Arbeiten deutete er das globale Wachstum als einen Prozess der Wissensmehrung und „schöpferischen Zerstörung“ (Schumpeter), der im Zuge von Aufholprozessen von Entwicklungsländern schließlich auch den ärmeren Teilen der Welt zugute kommt. Er tat dies in einem explizit räumlichen Modell, das Ideen der deutschen Raumwirtschaftstheorie integrierte. Neben Joseph Schumpeter wurde dabei Johann Heinrich von Thünen sein intellektueller Ahnherr. Liest man Gierschs Aufsätze von damals aus heutiger Sicht, so steht eines völlig außer Frage: Giersch war ein großer Vordenker der heutigen Globalisierung. Und er legte mit seinen Modellvorstellungen die Grundlage für spätere theoretische Entwicklungen, allen voran in der „neuen“ Theorie des endogenen Wachstums von Paul Romer, Philippe Aghion, Gene Grossman und Elhanan Helpman (u.v.a.) sowie der „neuen“ Ökonomischen Geographie von Paul Krugman, der unter anderem dafür den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt.
Gierschs Beitrag ist in dieser Hinsicht nicht hoch genug einzuschätzen. Er geht sogar über das Vordenken späterer formaler Modelle weit hinaus. Denn jede moderne Interpretation der Globalisierung greift letztlich auf seine Ideen zurück, gleichgültig welchen spezifischen Prozess der Integration es konkret betrifft. Ob es um den Aufstieg Chinas, Indiens, Indonesiens und Brasiliens geht oder um die Re-Integration der postsozialistischen Länder Osteuropas, bei der Erklärung dieser Phänomene stehen stets Gedanken von Giersch Pate. Dies gilt vor allem für die Deutung der Liberalisierung der globalen Güter- und Kapitalmärkte, wie sie sich verstärkt seit den 1980er Jahren vollzogen hat. Giersch hat diesen Prozess nachdrücklich befürwortet und mit Genugtuung verfolgt. Der weltweite Wachstumsschub, der seit den 1990er Jahren zu beobachten war, lieferte für ihn den ersten Beleg für jenen wirtschaftstheoretisch fundierten Optimismus, der ihm stets eigen war. Frühzeitig erkannte er, dass die globale „Arbeitsteilung der Köpfe“ – wiederum ein markanter Begriff von ihm – ein ungeheures Potential an Innovationskraft mobilisierte und damit die Wachstumskräfte stärkte. Stets sah er die Integration von Milliarden von Menschen in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung als eine große Chance, jenen „Größenvorteil“ der spezialisierten Wissensproduktion zu realisieren, über den erst in jüngerer Zeit in der Wachstumsökonomik wirklich intensiv diskutiert wird.
Vor diesem Hintergrund fügten sich die angebotspolitischen Herausforderungen für Deutschland, Europa und Nordamerika zwingend in ein Bild des weltweiten Fortschritts. Angebotspolitik in den Zentren der Wissensproduktion an der Spitze des Einkommenskegels der Welt konnte nur heißen: Stärkung der Innovationskraft, Strukturwandel ohne Verzögerung, ständige Suche nach neuen Produktideen und Produktionsverfahren, und im Ergebnis eine sich wandelnde globale Arbeitsteilung, die wirklich allen die Chance bietet, am steigenden Wohlstand teilzuhaben.
Diese Interpretation der Welt war in den 1970er und frühen 1980er Jahren auch in der Wirtschaftswissenschaft eine Mindermeinung. Dass sie heute im Zentrum der wachstumsökonomischen Analysen steht, ist vor allem auch Herbert Giersch zu verdanken. Dass sie sich dabei einer zunehmenden Front von Gegnern der Liberalisierung gegenübersieht, hat Giersch nicht wirklich irritiert, genauso wenig wie die Tatsache, dass die Krisenanfälligkeit der Arbeitsteilung doch vielleicht das Ausmaß der Fantasie früherer Zeiten bei weitem übersteigt. Auch Giersch war überrascht über die Weltwirtschaftskrise ab 2007. Und er hat manche Probleme der Volatilität kurzfristiger Kapitalbewegungen in den Finanzmärkten unterschätzt, wie viele andere auch. An seinem Bekenntnis zu einer offenen Welt hat diese Krise allerdings nichts geändert.
Der Grund dafür ist einfach, und er hat Giersch gerade auch nach seiner aktiven Zeit in Forschung und Lehre noch intensiv beschäftigt. Für ihn war die Offenheit der Weltwirtschaft weit mehr als eine Frage der ökonomischen Effizienz. Sie war eine Frage des Fortschritts der Menschheit, letztlich sogar eine Frage der Moral. An diesem Punkt traf er sich mit seinen großen philosophischen Vorbildern: mit Karl Popper, dem intellektuellen Kämpfer für die offene Gesellschaft, und Friedrich August Hayek, dem Protagonisten der Freiheit und der marktwirtschaftlichen Kreativität. Offenheit hieß für Giersch stets Offenheit für die Außenseiter, für die noch nicht Arrivierten, für die Menschen ohne Einfluss, Stimme und Macht, aber mit Motivation, Fähigkeiten und Talenten. Ihnen über den Markt die Chance auf „Teilhabe“ zu geben, das war für Giersch ein hohes ethisches Gebot. Sich nach diesem zu richten, das verlangte er von der Gesellschaft und der Politik.
Es ist deshalb auch kein Zufall, dass sich Giersch zeit seines Lebens mit Fragen des Zusammenhangs zwischen Gemeinwohl, Ethik und Marktwirtschaft beschäftigte. Er sah die Volkswirtschaftslehre als ein Fachgebiet, das der Gesellschaft Antworten geben musste auf dringende wirtschaftliche, soziale und politische Fragen – und zwar im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Eine Beschränkung auf abstrakte wertfreie Theorie war für ihn undenkbar, ein Bekenntnis zur Offenheit der Welt dagegen eine Selbstverständlichkeit. Gerade dies hat seine zahlreichen Schüler inspiriert und gleichsam „infiziert“. Viele von ihnen sind heute als Volkswirte in Universitäten, Banken, Verwaltungen und in der Politik tätig. Sie verbindet nicht nur das, was sie bei ihm an volkswirtschaftlichem Wissen und Denken lernten. Sie verbindet vielleicht noch mehr Gierschs überzeugende Botschaft vom Wert einer offenen Welt.
- 1 Weitere biographische Details sind der Website der Herbert Giersch Stiftung („Über Herbert Giersch“) zu entnehmen. Dort findet sich auch ein Verzeichnis ausgewählter Schriften.