Die Erhöhung der Benzinpreise findet in der Öffentlichkeit viel Beachtung. Das Bundeskartellamt geht in Deutschland von einem marktbeherrschenden Oligopol der Mineralölgesellschaften aus. Wettbewerbsrechtliche Maßnahmen greifen jedoch nicht, weil der Markt sehr volatil ist und direkte Preisabsprachen nicht nachgewiesen werden können. In Westaustralien sollen überhöhte Benzinpreise mit einer 24h-Regel verhindert werden, die auch für Deutschland eine Möglichkeit darstellt.
Kein Preis beschäftigt die öffentliche Diskussion so sehr wie der Benzinpreis. Die Preise für Otto- und Dieselkraftstoffe werden als zu hoch empfunden. Es wird beklagt, dass die Mineralölgesellschaften ihre Preise erhöhen würden, ohne dass entsprechende Kostensteigerungen dahinter stehen. Die großen Mineralölgesellschaften werden verdächtigt, ihre Preise abzusprechen. Ein weiteres Indiz für den Tatbestand der Ausbeutung der Kraftfahrer wird in den starken Preisschwankungen auch innerhalb eines Tages gesehen. Die Öffentlichkeit fordert von der Politik Maßnahmen, die den Wettbewerb zwischen den Mineralölgesellschaften stärken und zu „fairen“ Benzinpreisen für Konsumenten führen.
Wettbewerbs- und wirtschaftspolitisch ist fraglich, ob eine solche Ausbeutung wirklich besteht und was gegebenenfalls dagegen getan werden kann. Die erste Frage hat das Bundeskartellamt sehr ausführlich analysiert.1 Es kommt zum eindeutigen Ergebnis, dass die großen Mineralölgesellschaften in Deutschland ein marktbeherrschendes Oligopol bilden und somit die Voraussetzungen für zu hohe Preise bestehen. In der Tat findet das Kartellamt viele Indizien, dass es am Benzinmarkt regelmäßig zu koordinierten Preiserhöhungen durch die führenden Anbieter von Treibstoff kommt, die weder durch Kostensteigerungen noch durch eine erhöhte Nachfrage erklärt werden können. Ein Ausbeutungsmissbrauchsverfahren wegen überhöhter Preise einzuleiten, ist aber wenig sinnvoll, unter anderem da in einem Markt mit so vielfältigen Preisschwankungen keine Verfahren juristisch praktikabel umsetzbar sind. Darüber hinaus gibt es nach Ansicht der deutschen Wettbewerbsbehörde keine Anzeichen für abgestimmtes Verhalten, das als eine „Absprache“ im Sinne des § 1 GWB verfolgt werden könnte. Jedoch wirft die Studie des Kartellamts die Frage auf, ob regulative Eingriffe, die eine Koordination unter den Marktteilnehmern erschweren können, ratsam sind.
In Österreich und Westaustralien wird versucht, durch spezifische Preissetzungsregeln gegen Missbräuche im Tankstellenmarkt vorzugehen. Österreich erlaubt den Betreibern von Tankstellen nur noch einmal am Tag (um 12 Uhr), die Preise zu erhöhen; Preissenkungen sind jedoch jederzeit möglich.2 Im Bundesstaat Westaustralien dagegen müssen aufgrund der 24h-Regel die Benzinpreise um 14 Uhr für den Folgetag gemeldet werden, und dann ab 6 Uhr am Folgetag für 24 Stunden beibehalten werden. In beiden Gebieten können die Kunden sich über die Preise der verschiedenen Tankstellen im Internet oder mit Hilfe anderer Medien informieren. Während es erhebliche Zweifel gibt, ob die österreichische Regel zu niedrigeren Preisen führt, könnte die australische Regelung durchaus eine preisniveausenkende Wirkung haben. Sie schafft für Mineralölgesellschaften, die an einem Tag den Preis erhöhen, ein (beträchtliches) Risiko, bedeutend weniger abzusetzen, falls die umliegenden Tankstellen bei einer Preiserhöhung nicht mitgehen. Je preissensibler die Kunden reagieren, umso bedeutsamer wird dieses Risiko. In diesem Beitrag soll geprüft werden, ob die westaustralische 24h-Regel im deutschen Kraftstoffmarkt das zu beobachtende oligopolistische Parallelverhalten unterbinden oder zumindest abschwächen könnte.
Der deutsche Mineralölmarkt
Grundsätzlich lässt sich der Mineralölmarkt nach Wertschöpfungsstufen unterteilen (vgl. Abbildung 1).3 Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht die Tankstellenebene, da die diskutierten Preisregeln dort ansetzen würden. Hervorzuheben ist, dass allein die großen Mineralölkonzerne in Deutschland auf allen drei Wertschöpfungsstufen aktiv sind. Die auf der Tankstellenebene aktiven Firmen lassen sich hinsichtlich ihrer Preisstrategie unterscheiden.4 Die höchsten Preise verlangen üblicherweise Aral (BP), Esso (ExxonMobil), Shell, Total, Orlen, OMV, Agip (Eni), Avia und Westfalen; sie bilden somit die Premium-Marken (A-Preise). Preislich etwas darunter liegen gewöhnlich Jet (Conoco Philips), Star (Orlen), HEM (Tamoil), Q1 sowie Avanti24 (OMV) (B-Preise). Zu niedrigsten Preise bieten im Normalfall die im Bundesverband der Freien Tankstellen zusammengeschlossenen Downstream-Anbieter Kraftstoffe an (C-Preise).
Abbildung 1
Wertschöpfungsstufen des Mineralölmarktes
Hinsichtlich des Absatzortes von Kraftstoffen5 unterscheidet das Bundeskartellamt zwischen Straßen- und Bundesautobahntankstellen. Tankstellen an Bundesautobahnen werden durch ein öffentliches Verfahren vergeben, bisher entsprechend den Marktanteilen der Mineralölfirmen (Quotenmodell), zukünftig zunehmend durch Versteigerungen. Ferner spielen aus Sicht der Verbraucher Autobahntankstellen nur dann eine Rolle, wenn sie diesen Verkehrsweg benutzen. Ohne die schwierige Frage zu beantworten, inwieweit Nichtautobahntankstellen im Reiseverkehr Substitute für Autobahntankstellen sein können, gilt wohl, dass Straßentankstellen zumindest außerhalb des Reiseverkehrs einen eigenen Markt darstellen. Da der Kraftfahrer nur im Rahmen eines Fahrzeugwechsels eine Wahl zwischen Otto- und Dieselkraftstoff hat, sind beide Kraftstoffarten als getrennte Produkte anzusehen. Bezüglich der Straßentankstellen kann man von regional begrenzten Märkten ausgehen. Diese umfassen alle Tankstellen, auf die Autofahrer ausgehend von ihrer jeweiligen Zieltankstelle ausweichen könnten. Methodisch liegt hierzu das Erreichbarkeitsmodell des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung vor.
Die Preisanalyse des Bundeskartellamts geht als Ausgangspunkt vom Bruttotankstellenpreis aus.6 Dieser enthält die Energiesteuer (0,65 Euro für Otto- sowie 0,47 Euro für Dieselkraftstoff), den Zuschlag für Erdölbevorratung sowie die Umsatzsteuer. In der Summe entspricht dieser vom Staat induzierte Aufschlag ca. 60% des Bruttopreises. Die restlichen 40% des Bruttotankstellenpreises werden zu drei Vierteln für Beschaffung und Transport verwendet, so dass das restliche Viertel (d.h. ungefähr 10% des Bruttopreises) auf der Tankstellenebene verbleibt.
Voraussetzung für Marktbeherrschung
Nach § 19 GWB liegt unter anderem Marktbeherrschung vor, wenn zwei oder mehrere Unternehmen (Oligopole) untereinander keinem wesentlichen Wettbewerb (kein Binnenwettbewerb) unterliegen und eine überragende Marktstellung im Verhältnis zu den Wettbewerbern (kein Außenwettbewerb) besteht. Für Straßentankstellen gibt es nach den Erkenntnissen des Kartellamts ein marktbeherrschendes Oligopol mit BP (Aral), Conoco Philipps (Jet), ExxonMobil (Esso), Shell und Total, da
- in den sachlich relevanten Märkten für Otto- und Dieselkraftstoffe zwar ca. 14 700 Stationen existieren, die jedoch regional abgegrenzt werden müssen.
- sie allein Zugriff auf Raffineriekapazitäten, die einen wichtigen Machtfaktor darstellen, haben.
- sie allein bundesweite Tankstellennetze besitzen. Damit verfügt der Anbieter über eine vollständige Preistransparenz: Über Preisauszeichnungen am Monolithen, Meldung der Konkurrenzpreise durch eigene Pächter und weitere Informationsmedien erhalten Mineralölkonzerne einen umfassenden Marktüberblick. Sie können ihre eigene Preisstrategie der Konkurrenz mitteilen: Wettbewerber können regional und zeitlich abgegrenzt durch Preiskämpfe sanktioniert werden; aufgrund von gesellschafts- und vertragsrechtlichen Verflechtungen der Oligopolisten in Bezug auf Erzeugung, Lagerung und Logistik kann die reibungslose Zusammenarbeit in Frage gestellt oder gar gestört werden.
- die Koordinierung durch Strukturkriterien weiter erleichtert wird. Tankstellenmärkte sind sehr stabil, die Produkte sind fast homogen; Newcomer, aufgrund hoher Marktzutrittsschranken, und neue Kraftstoffsorten sind nicht zu erwarten. Folglich sind Marktentwicklung und -verhalten leicht vorhersehbar. Ferner besteht eine Symmetrie der Oligopolisten, da sie bundesweit tätig und alle vertikal integriert sind sowie gleichartige Produktportfolios und Technologien verwenden. Folglich unterliegen sie alle ähnlichen Anreizen und Interessen, was vereinfacht, sich aufeinander einzustellen.
- die häufige Interaktion die Koordinierung untereinander erleichtert.
- die Marktanteile in Regionalmärkten etwas unterschiedlich sind, aber bundesweit bei ca. 65% liegen.
Oligopolistisches Parallelverhalten
All diese Faktoren sind dazu geeignet, sowohl den Binnenwettbewerb als auch den Außenwettbewerb erheblich einzuschränken, und damit ein dauerhaft einheitliches Vorgehen der Oligopolisten zu erleichtern. Dieses einheitliche Vorgehen schlägt sich in oligopolistischen Parallelverhalten nieder; ein nach § 1 GWB verbotenes abgestimmtes Verhalten ist nicht erforderlich. Hierfür gibt es nach Ansicht des Bundeskartellamts auch keine Anzeichen. Nach der Sektoruntersuchung des Bundeskartellamts, die für 2007 bis 2010 in Hamburg, Köln, München und Leipzig durchgeführt wurde, sprechen folgende empirisch belegte Faktoren für oligopolistisches Parallelverhalten:7
- Tankstellenpächter oder deren Angestellte informieren sich mehrmals täglich bei den für sie von der Mineralölgesellschaft festgelegten Wettbewerbstankstellen über deren Preise; insbesondere in Städten liegen die Tankstellen unter Umständen räumlich so nahe beieinander, dass sie sich jederzeit und ohne Aufwand gegenseitig beobachten können. Die dezentral ermittelten Preise werden dann an das Mineralölunternehmen der Upstream-Ebene weitergegeben. In den Beobachtungsregionen gibt jede (Oligopol-)Tankstelle im Durchschnitt Preisinformationen über 3,27 (Köln) bis zu 3,57 (Hamburg) Wettbewerbstankstellen weiter. Nicht auszuschließen ist auch die systematische Beobachtung von Preisbewegungen, die im Internet verfügbar sind.
- Innerhalb des Betrachtungszeitraums von Januar 2007 bis Mai 2010 sind die durchschnittlichen Preise von 1,20 Euro für Otto- und 1,10 Euro für Dieselkraftstoffe auf 1,40 Euro bzw. 1,20 Euro gestiegen. Dabei erhöhten sich die Preise im zweiten Quartal 2008 um etwa 0,40 Euro und gingen in den beiden folgenden Quartalen rasant wieder um ca. 0,50 Euro zurück.
- Für alle untersuchten Teilmärkte gilt, dass tendenziell am Freitag und Samstagmorgen die höchsten Durchschnittspreise verlangt werden. Unter der Woche haben sich die Preishöchststände von Dienstag- auf Mittwochmorgen sowie am Ende der Betrachtungsperiode auf Donnerstagmorgen verschoben. Am preisgünstigsten war es meist montagmorgens, „second best“ war sonntags.
- Mehr als doppelt so häufig kommt es zu Preissenkungen wie zu Preiserhöhungen; wenn erhöht wird, ist der Preiszuwachs mehr als doppelt so hoch wie im Falle des Rückgangs. Zu Preissteigerungen kommt es meist montags bis donnerstags am Abend sowie freitags bereits ab mittags. Deutlich am stärksten wird montags von 18 bis 24 Uhr erhöht. Am Wochenende wird selten erhöht und wenn, dann wenig. Für Preissenkungen gibt es weder täglich noch stündlich eindeutige Muster; allein sonntags kommt es seltener zu Preisrückgängen.
- Die Konkurrenten reagieren auffällig asymmetrisch auf Preisbewegungen anderer Firmen: Bei steigenden Preisen ziehen Tankstellen der Oligopolanbieter (mindestens die Hälfte) häufig simultan mit, bei rückläufigen Preisen handeln die Unternehmen, ohne dass die Oligopolisten (analog) reagieren. Höhere Preise setzen meist Aral oder Shell, wobei beide zu gleichen Teilen beginnen. Wenn eine von beiden Gesellschaften beginnt, zieht die andere nach genau drei Stunden nach. Total zieht nach drei oder dreieinhalb Stunden mit der Preiserhöhung nach; Ähnliches gilt für Jet und Esso, aber regional etwas unterschiedlich. Jet wartet fünf Stunden ab, bleibt aber immer ein Eurocent dahinter, Esso benötigt drei bis sechs Stunden als Reaktionszeit. In einzelnen Regionen folgt die Preisreaktion von Jet und Esso erst am Morgen des Folgetags. Innerhalb der Woche wurden beinahe 80% der Preiserhöhungen zu acht Zeitpunkten vorgenommen.
- Vergleicht man die Tankstellennettopreise mit den jeweiligen Großhandelsnettopreisen, ergeben sich Handelsmargen. Diese stellen – unter Vernachlässigung der Vertriebskosten der Tankstelle – die Gewinne je verkauftem Liter dar. Vergleicht man diese Margen nach Wochentagen bzw. Monaten sowie Kraftstoffarten, gibt es eine nicht unerhebliche Volatilität. Montags sind diese Margen deutlich geringer als an Freitagen. Ebenso fallen niedrigere Gewinnpotentiale bei Otto- als bei Dieselkraftstoff an. Im Laufe eines Tages durchgesetzte Preiserhöhungen über mehrere Cents stellen im Vergleich zur Marge Preiserhöhungen im hohen zweistelligen Prozentbereich dar.
- Begrenzt auf die Absatzzahlen der marktbeherrschenden Oligopolisten wird deutlich, dass durchweg am Montag die größten Mengen und am Wochenende sowie teilweise am Dienstag die geringsten Mengen abgesetzt werden. Ohne die Frage der Kausalität beantworten zu können, ist nicht ersichtlich, dass kurzfristige Nachfragezuwächse zu höheren Preisen führen: sonntags geringe Absatzmengen und niedrige Preisen, montags große Mengen und niedrige Preise sowie an Freitagen durchschnittliche Mengen und hohe Preise. Ferner sind keine monatlich auffälligen Nachfragemuster erkennbar.
- Weder die Nachfrageentwicklung noch die Großhandelspreisniveaus können die in den vier erfassten Osterferien zu beobachtenden Preisanstiege erklären.
Insbesondere die zeitlich sich wiederholenden Preiserhöhungsmuster legen nahe, dass zumindest oligopolistisches Parallelverhalten vorliegt. Gegen Parallelverhalten sprechen die ökonometrischen Untersuchungen von Kirchgässner/Kübler, wonach im Deutschland der 1970er und 1980er Jahre der Benzinpreis weitgehend dem Rohölpreis folgte, allerdings tendenziell Rohölpreiserhöhungen schneller durchschlugen als entsprechende Senkungen.8 Galeotti et al. fanden ebenfalls asymmetrische Preisveränderungsmuster im Rahmen einer europäischen Preisuntersuchung, die auch Deutschland umfasst.9 Selbst wenn man wie Kasten/Klepper die vertikalen Wettbewerbsaspekte hinzu nimmt,10 ergibt sich auch für Daten am Ende des Jahrhunderts eine enge Verbindung des Preisgeschehens zwischen Rohöl- und Benzinmarkt.
Die ältere ökonometrische Literatur erbringt wenig Evidenz, dass sich die deutschen Tankstellenbetreiber wettbewerbswidrig verhalten. Dagegen liefert die jüngste, sehr umfassende, auch präzise das firmenspezifische Verhalten erfassende Untersuchung des Bundeskartellamts Indizien, wonach gerade das tägliche, wenn nicht sogar minütliche Preissetzungsverhalten mit Wettbewerb kaum erklärt werden kann. Alleine die Häufigkeit der täglichen Preisänderungen sowie die nicht unerheblichen Preissprünge dürften wohl kaum auf Änderungen der Rohölpreise oder Nachfrageschwankungen zurückzuführen sein. Offen ist hierbei, ob bessere Informationstechniken, insbesondere Preiserfassungen über das Internet, sowie elektronische Techniken zur Preissetzung an Tankstellen das jüngere Verhalten der Tankstellen bzw. der Mineralölkonzerne erklären.
Wettbewerbsrecht und -politik im Mineralölmarkt
Selbst wenn es deutliche Anzeichen dafür gibt, dass die großen Mineralölgesellschaften ihre Preisfestsetzung regelmäßig koordinieren und damit den Verbrauchern schaden, zeigen die Vorgänge am Treibstoffmarkt die Grenzen bei der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts. Denn ein direktes kartellrechtliches Vorgehen gegen das beobachtete Marktverhalten ist nicht erfolgversprechend.
§ 1 GWB könnte nur dann anwendbar sein, wenn das Verhalten der großen Mineralölgesellschaften als Absprache oder zumindest als abgestimmte Verhaltensweise zu charakterisieren wäre. Eine Preisabsprache lässt sich aber nicht nachweisen. Es fehlt an Beweisen für einen direkten Kontakt zwischen den Oligopolisten, bei denen sie sich über die Festsetzung des Spritpreises abstimmen; es fehlt auch an Anhaltspunkten, aus denen sich indirekt eine starke Vermutung solcher direkter Kontakte ergeben könnte. Hinsichtlich des Vorliegens einer abgestimmten Verhaltensweise nach § 1 GWB könnte man argumentieren, dass das GWB auch Formen der Koordinierung untersagt, die in weniger als einer direkten Absprache bestehen. Auf den Treibstoffmärkten sei es den großen Anbietern gelungen, durch die wiederholte Beobachtung des Marktverhaltens ihrer Konkurrenten deren zukünftiges Marktverhalten besser einschätzen zu können und damit das Risiko bei ihren eigenen Preisentscheidungen erheblich zu vermindern. Darin eine abgestimmte Verhaltensweise zu sehen, könnte auch mit der Aussage des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gestützt werden, dass eine verbotene Koordinierung dann vorliegt, wenn die Marktteilnehmer ihr Verhalten so abstimmen, dass sie bei ihren Preisentscheidungen eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten lassen.11
Diese Auslegung des § 1 GWB ginge aber nicht nur über den von der Rechtsprechung abgesteckten Anwendungsbereich der Vorschrift hinaus; sie wäre auch nicht zielführend. Zwar finden sich die genannten weitreichenden Interpretationen des EuGH, aber den Entscheidungen lagen immer Sachverhalte zugrunde, bei denen es über eine regelmäßige Marktbeobachtung hinaus zu direkten Kontakten zwischen Unternehmen gekommen ist, die Unsicherheiten über künftiges Marktverhalten verringern. Worauf es daher bei diesen Fällen entscheidend ankam, war nicht so sehr, ob sich das Risiko unternehmerischer Entscheidungen vermindert hatte, sondern dass diese Risikoverminderung das Resultat konkreter Handlungen ist, die durch die am Markt teilnehmenden Unternehmen gesetzt wurden und die sich nicht aus einem „normalen“ Marktverhalten erklären können.12 Eine einseitige Strategie eines Unternehmens, sich den Marktgegebenheiten und dem abzusehenden Verhalten seiner Konkurrenten anzupassen und eine seiner eigenen Gewinnmaximierung dienende Strategie zu entwickeln, ist also erlaubt. Das Kartellrecht ahndet nur Fälle, in denen Unternehmen gemeinsam Handlungen, die darauf abzielen, „künstliche“ Transparenz im Markt zu schaffen und damit eine zukünftige Koordinierung zu erleichtern, vollziehen. Solche Handlungen können am Treibstoffmarkt aber nicht festgestellt werden.
Die Erfordernis eines solchen zusätzlichen Handlungselements, das über eine Marktbeobachtung und eine einseitige Anpassung an das Marktgeschehen hinausgeht, ist auch aus rein praktischen Gründen sinnvoll. Wird eine Rechtswidrigkeit festgestellt, muss ein Gericht darauf mit entsprechenden Rechtsbehelfen, die das rechtswidrige Verhalten beenden, reagieren können. Solange aber eine Abstimmung „über den Markt“ erfolgt, fehlt es an einem solchen Verhalten, dessen Beendigung angeordnet werden könnte.13 § 1 GWB würde ein Preiskontrollinstrument, das nicht auf den Mechanismus der Preisbildung abstellt, sondern nur in bestimmten – allerdings nicht in von vorhinein eindeutig abgrenzbaren – Fällen das Resultat untersagt.
Eine andere Möglichkeit, mit dem GWB das Verhalten der großen Mineralölgesellschaften zu erreichen und als kartellrechtswidrig zu untersagen, besteht allenfalls in § 19 IV, Nr. 2 GWB. Nach dieser Vorschrift missbrauchen die Mitglieder eines Oligopol ihre marktbeherrschende Stellung, wenn sie überhöhte Preise, verglichen mit Preisen, die sich bei wirksamem Wettbewerb ergeben würden, fordern. Wie schon bei § 1 GWB gibt es hier konzeptuelle und praktische Schwierigkeiten, die die erfolgreiche Anwendung dieser Vorschrift ausschließen.
Die Vorschrift in § 19 IV, Nr. 2 GWB wirft folgende rechtspolitische Frage auf:14 Erkennt man die im Zusammenhang mit § 1 GWB festgestellten Grenzen an, wonach in einem marktwirtschaftlichen System einseitige Handlungen von Unternehmen, die unter gegebenen Marktverhältnissen auf eine Gewinnmaximierung für das Unternehmen abzielen, nicht als kartellrechtswidrig beurteilt werden sollten, so ist es schwer zu sehen, wieso anderes im Bereich des § 19 gelten sollte. Nun kann man einwenden, dass § 19 nur dann zur Anwendung kommt, wenn die beteiligten Unternehmen gemeinsam Marktmacht besitzen. Aber dies ist ein ungenügendes Unterscheidungsmerkmal. Die Problematik einer „stillschweigenden Koordination“ der Marktteilnehmer wird sich nur bei einem Oligopol stellen (einem Markt, in dem Innen- und Außenwettbewerb abgeschwächt sind), daher besteht hier kein nützliches Unterscheidungsmerkmal zwischen den Anwendungsbereichen des §1 GWB und des § 19 IV, Nr. 2 GWB.
Wenn man aber akzeptiert, dass der Gesetzgeber diese Bestimmung formuliert hat, um eine Preiskontrolle zu ermöglichen, bestehen praktische Probleme bei der Durchsetzung. Weil man in einem Oligopol ein Anpassen jedes Marktteilnehmers an Marktgegebenheiten erwarten muss, könnten nur erheblich höhere Preise, also Preise, die über ein „akzeptables“ Maß hinausgehen, als überhöht und daher als rechtswidrig angesehen werden. Unter der Anwendung ökonomischer Konzepte könnte das heißen, dass Preise, die als Nash-Gleichgewicht erklärt werden können, auf alle Fälle akzeptabel sind, und nur Preise, die sich davon erheblich in Richtung auf den Monopolpreis entwickeln, in den Anwendungsbereich des § 19 GWB fallen könnten. Das erfordert aber wiederum, eine Art Grenzwert der Erheblichkeit zu definieren, was angesichts des Fehlens von objektiven Kriterien, die dabei eingesetzt werden könnten, ein höchst unzuverlässiges Verfahren ist, das zu unvorhersehbaren Resultaten führen muss. „Ein wenig Anpassung und Koordination sind o.k., aber zu viel darf es nicht sein“, ist keine Regel, die bei der Durchsetzung des Kartellrechts angewendet werden sollte.15
Ein Verweis auf Preise in Vergleichsmärkten wirft neue Probleme auf. Selbst wenn es möglich scheint, einen Vergleichsmarkt zu finden, und man feststellt, dass auf diesem Vergleichsmarkt die Preise wesentlich geringer sind als auf dem Markt, auf dem eine Verletzung von § 19 IV, Nr. 2 GWB untersucht wird, muss man sich fragen, was die Preisunterschiede erklärt. Nimmt man an, dass Unternehmen in jeder Lage gewinnmaximierend agieren, deuten erheblich unterschiedliche Preise auf dem untersuchten Markt und einem Vergleichsmarkt darauf hin, dass die Marktkonditionen auf diesen beiden Märkten eben nicht so ähnlich sind. Das stellt wiederum das gesamte Konzept der Vergleichsmärkte in Frage.16
Zu diesen Fragen kommt auf den Treibstoffmärkten noch dazu, dass die Art der Preisbildung und die Häufigkeit von Preisanpassungen eine Anwendung von § 19 IV, Nr. 2 GWB rein praktisch unmöglich machen. Da nur während bestimmter, kurzfristiger Episoden überhöhte Treibstoffpreise geltend gemacht werden könnten, könnten nicht die Preise während eines längeren Zeitraums untersucht werden, sondern nur Preise, die innerhalb weniger Stunden gegolten hatten. Auch ein Rechtsbehelf, der hinreichend konkret, aber auch hinreichend flexibel ist, um die Marktgegebenheiten widerzuspiegeln, ließe sich nicht finden.
Aus alldem ergibt sich, dass das GWB keine geeigneten Instrumente zur Verfügung stellt, direkt gegen die Preisbildung auf Treibstoffmärkten vorzugehen. Das Kartellamt kann allenfalls indirekt gegen mangelnden Preiswettbewerb vorgehen, indem es z.B. versucht, mit dem Instrument der Zusammenschlusskontrolle eine weitere Marktkonzentration zu verhindern, oder kartellrechtlich gegen Strategien der Mitglieder des Oligopols vorgeht, die den Wettbewerb durch unabhängige Tankstellenbetreiber einschränken. Das Kartellamt ist wohl in beide Richtungen aktiv, aber allzu nachhaltige Effekte darf man von diesen Verfahren nicht erwarten. Ansonsten bleibt nur der regulative Eingriff, durch den ein Rahmen gesetzt wird, der es großen Mineralölkonzernen erschweren soll, ihre Preisbildung zu koordinieren.
Spieltheoretische Analyse der 24h-Regel
Ein mögliches Regulierungsinstrument ist die 24h-Regel, deren Ergebnisse anhand einer spieltheoretischen Analyse beurteilt werden. Diese Regel bedeutet, dass die Mineralölhändler ihre Preise jeweils am Vortag rechtzeitig melden müssen; die Preise des Folgetages sind dann fest und werden am Vortag über das Internet bekanntgegeben. Basis der spieltheoretischen Analyse des Preissetzungsverhaltens in Oligopolmärkten ist ein simultanes Spiel, das nur einmalig gespielt wird (vgl. Tabelle 1).17 Wenn beide Oligopolisten unabhängig voneinander den Preis hochhalten, wäre in unserem Beispiel jeweils ein Gewinn von 11 Geldeinheiten (GE) möglich. Senken beide Firmen den Preis, schaden sie sich gegenseitig, die Gewinne gehen jeweils auf 9 GE zurück. Setzt einer der beiden Oligopolisten einen hohen Preis und der andere eine niedrigen, so ziehen die Konsumenten, die preissensibel sind, den Anbieter mit dem niedrigen Preis vor. Dem Hochpreisoligopolisten bleibt nur eine geringe Nachfrage und damit ein entsprechend geringer Gewinn in Höhe von 2 GE. Der Anbieter mit dem niedrigen Preis erreicht 15 GE als Gewinn. Die Tabelle 1 zeigt, dass es für beide Oligopolisten besser ist, einen niedrigen Preis zu setzen, unabhängig vom Verhalten des Konkurrenten. Für beide Firmen ist ein geringer Preis die dominante Strategie. Im Ergebnis würden beide gerne einen hohen Preis setzen, z.B. über eine Kartellbildung, die Verfolgung des Eigeninteresses verhindert dies jedoch. Nach diesem einfachen Modell käme es folglich zu keinen überhöhten Preisen im Mineralölmarkt.
Tabelle 1
Simultanes Preissetzungsverhalten
Oligopolist 2 | |||
---|---|---|---|
Hoch | Niedrig | ||
Oligopolist 1 | Hoch | 11/11 | 2/15 |
Niedrig | 15/2 | 9/9 |
Tabelle 2
Sequenzielles Preissetzungsverhalten
Oligopolist 1 | Oligopolist 2 | ||||
---|---|---|---|---|---|
Oligopolist 1 | erhöht | Oligopolist 2 | erhöht | 11 | 11 |
bleibt | 2 | 15 | |||
bleibt | Oligopolist 2 | erhöht | 15 | 2 | |
bleibt | 9 | 9 |
Tabelle 3
Nachahmendes Verhalten der Konkurrenten
Alle anderen | Erwartungswert | |||
---|---|---|---|---|
ziehen mit in t+1 | bleiben in t+1 | |||
Mit unterschiedlichen Reaktionswahrscheinlichkeiten | ||||
Oligopolist 1 | erhöht in t+1 | 11 (0,9) | 2 (0,1) | 10,1 |
bleibt in t+1 | 9 (0,1) | 9 (0,9) | 9 | |
Mit gleichen Reaktionswahrscheinlichkeiten | ||||
Oligopolist 1 | erhöht in t+1 | 11 (0,5) | 2 (0,5) | 6,5 |
bleibt in t+1 | 9 (0,5) | 9 (0,5) | 9 |
Modelliert man diese Frage explizit als sequenzielles Spiel, kommt es zu den gleichen Ergebnissen. In der Tabelle 2 entscheidet in der ersten Runde der Oligopolist 1, ob er seinen Preis erhöht oder den bisherigen Preis beibehält. In der nächsten Runde kann der zweite Oligopolist ebenfalls entscheiden, ob er seinen Preis erhöht oder beibehält. Die Gewinne entsprechen dem simultanen Spiel. Durch Rückwärtsinduktion ergibt sich das Nash-Gleichgewicht, wonach beide Unternehmen ihre Preise beibehalten.
Tabelle 3 zeigt, wie es zu hohen Preisen kommen kann, falls die einzelnen Unternehmen das Verhalten ihrer Konkurrenten nachahmen. Aus Sicht des Oligopolisten 1 sollen sich alle anderen Unternehmen gleichartig verhalten: Entweder sie gehen auf Preiserhöhungen des Oligopolisten 1 ein oder bleiben beim Ursprungspreis. In der Tabelle 3 sind nur die Gewinne des Oligopolisten 1 abgetragen – angelehnt an die Werte der vorherigen Tabelle. Die Konkurrenten ahmen das Verhalten des Oligopolisten mit hoher Wahrscheinlichkeit nach: Mit jeweils einer Wahrscheinlichkeit (Wert in Klammern) von 90% erhöhen sie ihre Preise, wenn der betrachte Oligopolist mit einer Preiserhöhung vorangeht, bzw. lassen die Preise unverändert, wenn der Oligopolist die Preise nicht erhöht. Entsprechend sind dann die Gegenwahrscheinlichkeiten zu interpretieren. Da der Oligopolist Wahrscheinlichkeiten und Gewinne kennt, kann er als (risikoneutraler) Akteur die Erwartungswerte seiner Preisstrategien berechnen und die Strategie mit dem höchsten erwarteten Gewinn auswählen. In diesem Fall würde der Oligopolist seinen Preis erhöhen (10,1 > 9).
An dieser Stelle greift die 24h-Regel. Bei dieser Regel weiß kein Kraftstoffanbieter, ob seine Preiserhöhung von den Konkurrenten nachgeahmt wird. Jeder Anbieter trägt jetzt ein erhöhtes Risiko, dass er den Preis erhöht, seine Konkurrenten aber nicht mitziehen und deshalb preissensible Kunden abwandern. Im Vergleich zur Situation ohne 24h-Regel wird dem vorausgehenden Anbieter die Möglichkeit genommen, die eigene Fehleinschätzung gleich zu korrigieren. Würde man die 24h-Regel zeitlich ausdehnen, würden Fehleinschätzungen noch teurer. Treffen die Anbieter gleichartige Veränderungen, z.B. ansteigende Großhandelspreise, stellt die 24h-Regel kein Problem dar, da dann alle die Preise erhöhen würden. Spieltheoretisch wird die 24h-Regel, wonach das Preissetzungsverhalten des einen Anbieters zu keinen Nachahmungseffekten der anderen führt, in Tabelle 3 sichtbar. Insofern werden die Reaktionswahrscheinlichkeiten jeweils auf Gleichverteilung (bei zwei Alternativen also 0,5 zu 0,5) gesetzt. Der Oligopolist 1 würde daher entsprechend seines maximalen erwarteten Gewinns die Preiserhöhung unterlassen (9 > 6,5).
Da jedoch die Kraftstoffanbieter über lange und unabsehbare Zeit gemeinsam am Markt agieren, liegt kein einmaliges simultanes, sondern ein wiederholtes Spiel vor. In wiederholten Spielen sind nach dem Folk-Theorem hohe Preise zu erwarten, zumindest wenn durch die Kartellbildung nicht unerhebliche Gewinne realisierbar sind und zukünftige Gewinne nicht dramatisch abgezinst werden.
Diese kurze spieltheoretische Analyse zeigt, dass es für einen Oligopolisten rationaler ist, den Preis nicht zu erhöhen, falls er nicht erwarten kann, dass seine Mitbewerber sich gleich verhalten wie er. Insofern würde die 24h-Regel tendenziell die Anreize zu Preiserhöhungen reduzieren, falls diese nicht durch Kostenerhöhungen getrieben sind. Unbestritten bleibt natürlich, dass die marktbeherrschenden Oligopolisten lernen bzw. wissen, dass sich gemäß dem Folk-Theorem in unendlichen Spielen Kooperation auszahlt, es also besser ist, auf Preiserhöhungen des anderen einzusteigen. Die 24h-Regel hätte bei unendlichen Spielen dann nur den Effekt, dass die Anzahl der Preiserhöhungsrunden reduziert würde; die Preiszyklen würden seltener auftreten. Ob es „nur“ zu dieser Form der Anpassung kommen würde, hängt letztlich auch davon ab, wie viel ein Kraftstoffanbieter an Marge pro Tag verlieren würde, falls er als Einziger die Preise erhöht. Ceteris paribus gilt: Je höher dieser Verlust, umso wahrscheinlicher wird es, dass nicht durch Kostenerhöhungen bedingte Preiserhöhungen unterbleiben.
Empirie der 24h-Regel
Empirisch sind die Wirkungen der 24h-Regel unklar:18
- Nach einer Untersuchung des westaustralischen Wirtschaftsministeriums DOCEP sind die Preise nach der Einführung der Regel gefallen.
- Folgt man der Informationsplattform „Informed Sources“, sind im Durchschnitt die Preise um 1 bis 1,5 australische Cents gefallen.
- Nach der australischen Wettbewerbsbehörde ACCC sind im Durchschnitt die Preisaufschläge auf wöchentlicher Basis um 1,9 Cents gefallen im Vergleich zum Preisniveau vor 2001, die Amplitude der Preisschwankungen ist geringer geworden und längere Zyklen waren zu beobachten.
Gegen diese Empirie wird vorgebracht, dass19
- die Wettbewerbsbehörde ihre verwendeten Daten nicht zur Überprüfung/zum Nachschätzen herausgegeben hat, was entsprechend den üblichen Standards von Peer-reviewed Journals aber zu gewährleisten wäre.
- die Schätzung nicht berücksichtigt, dass es drei Jahre nach Einführung der 24h-Regel zum Markteintritt einer neuen Tankstellenkette gekommen ist. Wenn dies berücksichtigt würde, wäre es sogar zu einem signifikanten Anstieg der Preise gekommen.
- nominale statt reale Werte verwendet wurden.
- falsche Tests auf Strukturbrüche angewandt wurden.
Wissenschaftler des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie (DICE) haben sich in jüngster Zeit vergleichend mit der westaustralischen Regelung sowie der österreichischen Regel beschäftigt. Dewenter/Heimeshoff20 können zeigen, dass die Einführung der 24h-Regel in Westaustralien keine signifikanten Auswirkungen auf das Preisniveau hatte. Nach einer relativ kurzen „Verwirrungsphase“ haben die Anbieter wieder Methoden des oligopolistischen Preisverhaltens gefunden. Haucap/Müller21 kommen zum gleichen Ergebnis, wenn sie im Rahmen eines Experimentes verschiedene Preisregulierungsvorschriften durchspielen, indem Experimentteilnehmer über mehrere Runden hinweg als Anbieter über ihre Benzinpreise entscheiden dürfen. Für die Nachfrageseite erfolgt die Anbieterauswahl aus dem Minimum der Benzinpreise und der simulierten Entfernungskosten. Haucap/Müller vernachlässigen jedoch in ihrem Experiment, dass in Westaustralien die Marktteilnehmer für den Folgetag Planungssicherheit und vollständige Transparenz über die Benzinpreise bekommen und sie daher für den Folgetag „strategisch“ entscheiden können, welche Tankstelle sie anfahren. Je dichter das Tankstellennetz bzw. je leichter am Folgetag die Konsumenten zum preisgünstigsten Anbieter wechseln können, umso höher sind die Umsatzzuwächse für den Anbieter mit dem niedrigeren Preis. Dieser zentrale Effekt der 24h-Regel bleibt im Experiment außen vor, insofern sind die Ergebnisse von Haucap/Müller fragwürdig.
Zusammenfassend kann die Empirie nicht belegen, dass diese Regel das Preisniveau gesenkt hat. Allerdings ist fraglich, ob Erfahrungen für Westaustralien mit gut 500 Tankstellen auf das nach Bevölkerungs- und Tankstellendichte sowie Größe ganz unterschiedliche Deutschland übertragbar sind. Bei den Marktgegebenheiten in Deutschland hat eine wesentlich größere Anzahl von Kunden eine viel weitergehende Möglichkeit, zwischen Tankstellen zu wählen. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer preissensiblen Marktreaktion und auch das Risiko einer „falschen“ Preiserhöhung. Möglicherweise lernen die Tankstellenbetreiber jedoch nach gewisser Zeit, dass sich Parallelverhalten doch auszahlt und es bilden sich Mechanismen heraus, die den Preiswettbewerb eindämmen. Die vorliegende Evidenz aus einem Experiment ist zweifelhaft, da ein wesentlicher preissenkender Effekt nicht abgebildet wird.
Fazit
Die Höhe der Benzinpreise ist ein wichtiges Thema in der Öffentlichkeit. Mit dem Instrumentarium des GWB, insbesondere dem Verbot abgestimmten Verhaltens und der Missbrauchsaufsicht, wird es nicht möglich sein, dieses Problem zu lösen. Abgestimmte Verhaltensweisen sind bisher nicht nachzuweisen. Sie sind aber auch aus der Sicht der Mineralölgesellschaften nicht erforderlich. Eingriffe über den Missbrauchstatbestand scheitern an der hohen Volatilität der Preise. Preissenkungsverfügungen für Preise, die möglicherweise nur ein paar Stunden an einer einzigen Tankstelle gegolten haben, sind wettbewerbsrechtlich nicht praktikabel. Langfristig sinnvoller sind Eingriffe, die das Entstehen und Verstärken der Markbeherrschung unterbinden, sei es durch die Untersagung von Fusionen oder das Aufbrechen vertikaler Machtstrukturen.
Betrachtet man jedoch den aktuellen Tankstellenmarkt, fragt man sich, ob ein solcher erzwungener, weitgehender Attentismus gerechtfertigt ist. Zwar haben ältere ökonometrische Untersuchungen gezeigt, dass sich die Benzinpreise weitgehend an den Rohölpreisen, die den Hauptkostenbestandteil der Benzinnettopreise ausmachen, orientieren. Die sehr ausführliche Sektoruntersuchung des Bundeskartellamts zeigt, dass einerseits fünf Mineralölgesellschaften als marktbeherrschende Oligopolisten anzusehen sind und sich andererseits Preiserhöhungsmuster herausgebildet haben, die durch Schwankungen der Rohölpreise oder der Nachfrage nicht mehr erklärbar sind. Insbesondere die starken und häufigen Preisschwankungen sind auffällig und waren zum Zeitpunkt der älteren ökonometrischen Untersuchungen nicht beobachtbar. Vermutlich nutzen die Oligopolisten die deutlich verbesserten Informationstechniken, um im Rahmen oligopolistischen Parallelverhaltens vorhersehbare Preissetzungen durchzuführen.
Die westaustralische 24h-Regel erschwert insofern das Parallelverhalten, als ein Tankstellenbesitzer, der ohne die Notwendigkeit einer Kostensteigerung seinen Preis erhöht, das Risiko läuft, dass andere Anbieter ihre Preise nicht erhöhen. In Kombination mit der Bekanntgabe der festen Preise für den Folgetag können die Konsumenten die preisgünstigeren Anbieter ansteuern. Folglich werden ungerechtfertigte Preise mit einem Nachfrageeinbruch, analog zu überhöhten Preise bei vollständiger Konkurrenz, „bestraft“. Je preissensibler die Nachfrager reagieren, umso bedeutsamer wird die „Bestrafung“. Spieltheoretisch bedeutet dies, dass die Verhaltensstabilisierung durch Nachahmung erschwert würde. Selbstverständlich kann die 24h-Regel nicht ausschließen, dass derartig gebundene Mineralölgesellschaften nicht wieder neue Preissetzungsmechanismen erlernen, die dann in Parallelverhalten münden.
Die bisher vorliegende empirische und experimentelle Evidenz für die 24h-Regel in Westaustralien zeigt zwar, dass keine signifikanten Preissenkungen nachzuweisen sind. Da Westaustralien kaum mit Deutschland vergleichbar ist, wäre es denkbar, dass die regional sich überlappenden Tankstellenmärkte Deutschlands das Risiko überhöhter Preise vervielfachen. Die vorliegende experimentelle Evidenz lässt den Effekt verbesserter Transparenz und absoluter Preissicherheit für den Folgetag außen vor.
Die westaustralische 24h-Regel bleibt bisher den Nachweis zwar schuldig, dass sie in der langen Frist die Preise senkt. Sie schadet sogar, da für die Tankstellenbesitzer Kosten durch die Bekanntgabe der Preise des Folgetages entstehen. Da jedoch zumindest in Deutschland die Mineralöloligopolisten bereits jetzt eine hohe (interne) Transparenz schaffen, wären diese Kosten vermutlich sehr gering. Die strukturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Westaustralien lassen jedoch vermuten, dass in Deutschland die 24h-Regel Auswirkungen zeigt. Je preissensibler sich die deutschen Autofahrer verhalten, umso wahrscheinlicher werden nicht-kostenbedingte Preiseerhöhungen „bestraft“. Der Markt als Entdeckungsverfahren könnte jedoch neue Methoden des Parallelverhaltens entstehen lassen, so dass die Preisschwankungen zwar abnehmen, die Preise aber nicht sinken würden.
- 1 Vgl. Bundeskartellamt: Sektoruntersuchung Kraftstoffe, 2011, http://www.bundeskartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/Stellungnahmen/2011-05-26_Abschlussbericht_final2.pdf (4.7.2012).
- 2 Wir gehen hier nicht auf die seit Mai 2012 bestehende Sonderregelung ein, nach der an drei besonders reisestarken Wochenenden im Juni und Juli 2012 der am Donnerstag um 11 Uhr bestehende Spritpreis bis zum Sonntag nicht mehr geändert (also auch nicht abgesenkt) werden durfte. Wettbewerbspolitisch erscheint uns eine Regelung, die darauf abstellt, Preisanstiege zu einer Zeit einer besonders starken Nachfrage generell zu verbieten, fragwürdig.
- 3 Vgl. C. Kasten, G. Klepper: Verschwörung oder Marktwirtschaft? Was bestimmt die Marktpreise?, Kiel Working Papers, Nr. 1048, 2001, S. 5.
- 4 Vgl. Bundeskartellamt, a.a.O., S. 40.
- 5 Vgl. ebenda, S. 44-48.
- 6 Vgl. hierzu und zu Folgendem Bundeskartellamt, a.a.O., S. 74-81.
- 7 Ebenda, S. 82-114.
- 8 Vgl. G. Kirchgässner, K. Kübler: Symmetric or Asymmetric Price Adjustments in the Oil Market: An Empirical Analysis of the Relations between International and Domestic Prices in the Federal Republic of Germany 1972-89, in: Energy Economics, 14. Jg. (1992), S. 171-185.
- 9 Vgl. M. Galeotti, A. Lanza, M. Manera: Rockets and Feathers Revisited: An International Comparison on European Gasoline Markets, in: Energy Economics, 25. Jg. (2003), S. 175-190.
- 10 Vgl. C. Kasten, G. Klepper, a.a.O.
- 11 So z.B. EuGH: Fall C-8/08, T-Mobile Netherlands, 4.6.2009, Rz. 26; für diese weitreichende Auslegung vgl. unter anderen D. Zimmer: Kartellrecht und neuere Erkenntnisse der Spieltheorie – Vorzüge und Nachteile einer alternativen Interpretation des Verbots abgestimmten Verhaltens (§ 25 Abs. 1 GWB, Art. 85 Abs. 1 EWGV), in: Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht, 154. Jg. (1990), S. 470 ff.; anders D. Zimmer, in: U. Immega, E.-J. Mestmäcker: Wettbewerbsrecht: Bd. 2, GWB (4. Aufl. 2007), § 1 GWB, Rn. 101, unter ausdrücklicher Aufgabe der in der 3. Auflage vertretenen Ansicht. Auch die Europäische Kommission hat anerkannt, dass die Einschätzungen des EuGH im Fall von T-Mobile Netherlands eine Beschreibung des Problems in Oligopolen darstelle und keine haftungsbegründende Norm definiere; siehe OECD: Facilitating Practices in Oligopolies 2007, DAF/COMP(2008)24.
- 12 Dazu vgl. insbesondere die Entscheidung im Fall C-89/85, C-104/85, C-114/85, C-116/85, C-117/85 und C-125/85 bis C-129/85, Ahlström Osakeyhtiö unter anderen versus Kommission (Woodpulp), 31.3.1993 (Preisankündigungen, die sich aus Marktgegebenheiten wie z.B. Kundenerwartungen erklären lassen, führen nicht zu einer verbotenen Absprache). So auch der Sachverhalt im Fall C-8/08, T-Mobile Netherlands, 4.6.2009 (Treffen aller großer Mobiltelefonanbieter mit Informationsaustausch zu Preispolitik als eine notwendige Voraussetzung, um nachher eine abgestimmte Verhaltensweise vermuten zu können).
- 13 Darüber hinaus hätten auch Unternehmen, die sich im nächsten Markt in einer ähnlichen Position befinden, keinen Anhalt, wie sie sich verhalten müssen, um zwar auf Marktgegebenheiten zu reagieren, aber dabei das Risiko einer Rechtsverletzung zu vermeiden.
- 14 Kritisch zum rechtspolitischen Hintergrund dieser Bestimmung vgl. W. Möschel, in: U. Immega, E.-J. Mestmäcker, a.a.O., § 19, Rz 151-152.
- 15 Zu den Problemen bei der Feststellung eines „überhöhten“ Preises vgl. W. Möschel, a.a.O., Rz 153-161.
- 16 Der in der Judikatur entwickelte Ansatz, mit Zu- und Abschlägen Marktunterschiede berücksichtigen zu wollen, muss zu kaum noch objektiv begründbaren und vorhersehbaren Ergebnissen führen.
- 17 Vgl. S. Berninghaus, M. Hesch, A. Hildenbrand: Zur Wirkung regulatorischer Preiseingriffe auf dem Tankstellenmarkt, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 1, S. 46-50.
- 18 Vgl. zum Folgenden D. Harding: Fuel Watch: Evidence-based Policy or Policy-based Evidence, in: Economic Papers, 27. Jg. (2008), H. 4, S. 315-328; J. S. Gans: Evaluating Fuel Watch, Centre for Ideas in The Economy (CITE), 2008, http://cite.org.au/store/catalog/SubmissionFuelwatch.pdf (6.7.2012).
- 19 Vgl. D. Harding, a.a.O.; und J. S. Gans, a.a.O.
- 20 Vgl. R. Dewenter, U. Heimeshoff: Less Pain at the Pump? The Effects of Regulatory Interventions in Retail Gasoline Markets, DICE Discussion Paper, Nr. 51, Mai 2012.
- 21 Vgl. J. Haucap, H. C. Müller: Effects of Gasoline Price Regulations: Experimental Evidence, DICE Discussion Paper, Nr. 47, April 2012.