Erstmals seit 1980 hat Japan für das Jahr 2011 ein Handelsbilanzdefizit ausweisen müssen. Die vorläufigen Schätzungen für die Höhe des Defizits belaufen sich auf 32 Mrd. US-$, etwa 0,5% des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Waren es damals rasch steigende Ölpreise auf der Importseite und schwächelnde Exporte im Nachklang einer scharfen Rezession in der Weltwirtschaft, so sind die wichtigsten verantwortlichen Faktoren für das jetzige Defizit schnell ausgemacht: Lieferengpässe bei einigen Exportgütern als Folge der Fukushima-Katastrophe, abnehmende Preiswettbewerbsfähigkeit als Folge der Yen-Aufwertung und steigende Importe von energetischen Rohstoffen, unter anderem auch als Folge der Katastrophe.
Der japanische Notenbankgouverneur Shirakawa betont die Ausnahmesituation seines Landes nach der Katastrophe und sieht weder das Handelsbilanzdefizit als längerfristig an noch befürchtet er Auswirkungen auf die für die internationale Nettoforderungs- oder Verschuldungsposition eines Landes maßgebliche Leistungsbilanz. In der Tat liegt diese noch deutlich im Plus. Ausschlaggebend dafür sind die noch hohen Nettofaktoreinkommen aus Auslandsanlagen im Kredit-, Portfolio- und Direktinvestitionsbereich. Japan ist einer der größten internationalen Nettogläubiger der Welt; ein im Gegensatz zu der beispiellos hohen internen Verschuldung Japans oft vernachlässigter Tatbestand. Seine heimischen Ersparnisse übersteigen also seine heimischen Investitionen erheblich. Die jüngsten Projektionen des Internationalen Währungsfonds IWF lassen den Optimismus des Notenbankgouverneurs allerdings in etwas schwächerem Licht erscheinen. Bereits im September 2011 sahen die Projektionen des IWF eine gerade noch ausgeglichene Handelsbilanz für das gesamte Jahr 2011, eine leichte Erholung auf 0,5% des BIP 2012 und ein durchschnittliches Minus von 0,2% für die Jahre 2013 bis 2016. Gemessen am langfristigen Trendwert von +1,5% über die Jahre 1989 bis 2004 und einem Spitzenwert von +1,9% (2007) ist die Tendenz klar nach unten gerichtet. Japans Handelsaußenstände werden längerfristig abgebaut, Handelsschulden werden real getilgt. Der Anteil des Landes an den Weltindustriegüterexporten halbierte sich von 12% Mitte der 1990er Jahre auf jetzt 6%.
An der am raschesten alternden Volkswirtschaft der Welt lässt sich zeigen, was auch anderen alternden reifen Industrieländern, unter anderen der Bundesrepublik, bevorsteht: Die Attraktivität des eigenen Produktionsstandorts für Exporte nimmt langsam ab, gleichzeitig wächst die Nachfrage nach Gütern und vor allem Dienstleistungen, die der eigene Standort entweder aus natürlichen Gründen (Rohstoffe) oder preisbedingt (Fertigwaren und Dienstleistungen) nicht mehr anstelle konkurrierender Importe bereitstellen kann. Japans Wettbewerbsfähigkeitsproblem wird zudem durch eine traditionelle Schwäche bei international handelbaren Dienstleistungen, dem wahrscheinlich zukünftig am dynamischsten wachsenden Sektor in der Weltwirtschaft, verschärft. Japans Anteil an den statistisch erfassten Weltdienstleistungsexporten sank seit Mitte der 1990er Jahre von 6% auf unter 4%. Zu diesem Bild trug neben dem schwachen Strukturwandel in der japanischen Wirtschaft auch die kontinuierliche reale Aufwertung der Währung bei. Dies war unter anderem eine Folge der Niedrigzinspolitik und der damit zusammenhängenden hohen Attraktivität des japanischen Yen als Verschuldungswährung („carry trade“). Auch hat die Innovationskraft bei einigen traditionellen Exportschwerpunkten Japans, so im Automobilsektor, Schaden genommen. Die Zeiten, in denen japanische Automobile die europäischen und amerikanischen Standorte unter Druck setzten, sind lange vorbei. Wer denkt heute noch an die Zeit zwischen 1992 und 1999 zurück, als in der EU die Vergemeinschaftung der EU-Handelspolitik gegenüber japanischen Autoimporten und damit die Aufgabe nationaler, mengenmäßiger Importbeschränkungen in Ländern wie Italien, Spanien oder Frankreich Gegenstand von heftigen politischen Auseinandersetzungen zwischen EU-Partnern waren? Könnte man die japanischen Exporte auf Wertschöpfungsbasis berechnen und damit feststellen, wie hoch der Importgehalt an japanischen Fertigwarenexporten ist, wäre das Handelsbilanzdefizit schon seit Langem sichtbar. Japanische Unternehmen sind global beschaffende Unternehmen par excellence, vor allem in Asien, der Factory Asia. Ihre ausländischen Direktinvestitionen sind zudem die Quelle der hohen positiven Nettofaktoreinkommen, die dafür sorgen, dass Japans jährlicher Leistungsbilanzüberschuss auch bis 2016 auf 2,5% bis 2,8% des BIP geschätzt wird; so die Projektionen des IWF. Diese Nettofaktoreinkommen waren in den letzten Jahrzehnten im Trend steigend, von 0,8% (1989 bis 1996) über 1,5% (1997 bis 2004). Dazu passt auch das Bild, dass das Inländerprodukt Japans seit Längerem schneller wächst als das Inlandsprodukt. Nicht Japans Standort schafft mehr Wertschöpfung, sondern Japans Kapital und Arbeit in der Welt.
Wenn sich also Japan in Zukunft doch langsam mit einem ständigen Handelsbilanzdefizit wird auseinandersetzen müssen, werden die Faktoreinkommen eine noch größere Aufmerksamkeit als bisher erlangen, sind sie dann doch (neben den mengenmäßig unbedeutenden Transferzahlungen) der entscheidende Bestimmungsfaktor für den Leistungsbilanzsaldo und damit auch für die Schuldentragfähigkeit des Landes bei seinen Bürgern und bei internationalen Gläubigern. Zwei Probleme hat das Land dabei zu meistern. Erstens entwertet eine kontinuierliche Aufwertung der japanischen Währung seine Währungsreserven in nationaler Währung. Das ist wichtig, denn Japan hat ein klassisches „Währungs-Mismatch-Problem“: niedrige Erträge in internationalen Dollaranlagen und hohe Verpflichtungen in heimischer Währung. Japanische Lebensversicherungen können ein Lied davon singen. Gleichzeitig verschärft die kontinuierliche Aufwertung das Handelsbilanzdefizit, drückt die Wettbewerbsfähigkeit des japanischen Standorts und zwingt japanische Unternehmen zur Produktion ins Ausland. Dies führt zum zweiten Problem. Können die japanischen Unternehmen im Ausland auch weiterhin so hohe Renditen erwirtschaften, dass beispielsweise die Altersversorgung der japanischen Bevölkerung finanziert werden kann? Werden sich die Unternehmen der schärferen Besteuerung durch den Staat entziehen wollen, um wettbewerbsfähig zu bleiben, und so ihren wirtschaftlichen Schwerpunkt endgültig ins Ausland verlagern? Können sie hinreichende Innovationen generieren, um sich gegen die Übernahme durch nichtjapanische Unternehmen und damit den Verlust der technologischen Führerschaft zu wappnen?
Japan ist kein kleines ressourcenstarkes Land, das seine Erträge aus Rohstoffen mittelfristig passiv anlegen kann. Es lebt entscheidend von der Innovationskraft seiner global agierenden Unternehmen. Lässt die Innovationskraft nach, werden die international erzielbaren Renditen bei risikobehafteten Investitionen sinken, und dann werden auch die Faktoreinkommen aus dem Ausland zurückgehen. Gleichzeitig könnte es dazu kommen, dass in Japan tätige ausländische Unternehmen ihre Gewinne im Lande nicht mehr reinvestieren, sondern repatriieren. Würden dann heimische Gläubiger Risikozuschläge für ihre Forderungen an den japanischen Staat verlangen, könnte am Ende auch die Leistungsbilanz des Landes ins Minus geraten und Japan ein Nettoschuldner gegenüber dem Ausland werden. Soweit ist es noch lange nicht. Das Handelsbilanzdefizit ist noch kein Menetekel für die alternde Volkswirtschaft, sondern ein Hinweis auf die Bedeutung des Unterschiedes zwischen japanischem Inländer- und Inlandsprodukt. Ein Leistungsbilanzdefizit hingegen wäre ein Menetekel und würde der Welt eine neue offene Flanke in der Staatsschuldenproblematik bescheren.