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Nachdem der Stabilitäts- und Wachstumspakt seine Bindungswirkung nur unzureichend entfaltet hat, setzen die Staats- und Regierungschefs der Eurozone nun auf eine noch stärkere Regelbindung. Was sind die Vorteile einer solchen Politik gegenüber diskretionären Entscheidungen? Lässt sich innerhalb der Europäischen Union ein Konsens über den Politikstil herstellen? Welche Folgen hat eine Regelbindung für den demokratischen Entscheidungsprozess?

Nutzen und Kosten einer Regelbindung

Eine regelgebundene Wirtschaftspolitik ist dadurch gekennzeichnet, dass sich Wirtschaftspolitiker in ihrem Verhalten bestimmten Vorgaben oder Regeln unterwerfen. Die Hauptvorteile regelgebundener Wirtschaftspolitik bestehen darin, dass sie

  • den privaten Wirtschaftssubjekten Erwartungssicherheit über die staatlichen Aktivitäten verschafft und dadurch deren Planungssicherheit erhöht,
  • es den Politikern erleichtert, dem Druck von Interessengruppen zu widerstehen,
  • den privaten Wirtschaftssubjekten Kriterien an die Hand gibt, um die Leistung einer Politik bzw. ihrer Träger hinreichend einschätzen zu können und
  • der Gesellschaft die Destabilisierungskosten erspart, die (aufgrund von Wirkungsverzögerungen, deren Dauer nur ungefähr abgeschätzt werden kann) bei diskretionärer Politik anfallen.1

Weitere Vorteile ergeben sich dadurch, dass Regelpolitik Informations- und Transaktionskosten spart (insbesondere bei diskretionärer Politikkoordinierung sind regelmäßige Verhandlungen über die Ziele bzw. über die zu stabilisierenden Variablen und über die anzuwendenden Maßnahmen erforderlich) und „Zeitinkonsistenz“-Probleme abbaut.2

Der Nachteil regelgebundener Wirtschaftspolitik besteht darin, dass Wirtschaftspolitiker hierdurch inflexibel sind und auf plötzliche unerwartete Ereignisse nicht angemessen und schnell reagieren können. Frühe Verteidiger diskretionärer Politik hielten deswegen der Forderung nach Regelbindung entgegen, dass es einer sich diskretionär verhaltenden Politikbehörde frei stehe, sich im Bedarfsfall – wenn oder solange eine Regelorientierung die optimale Politikstrategie darstelle – dementsprechend zu verhalten. So könne sie sich die Flexibilität bewahren, von der Regel abzuweichen, wenn es notwendig oder angemessen ist, z.B. nach größeren Angebotsschocks. Es wurde also angenommen, dass Diskretionarität eine Regelbindung „dominiere“.

Die Berücksichtigung rationaler Erwartungen in neueren, insbesondere geldpolitischen Theorien führte dagegen zu einer klaren Favorisierung der Regelbindung. Die erste „Welle“ dieser Theorien3 kam zu dem Ergebnis, dass bei diskretionärer Politik die Inflationsrate langfristig höher als bei Regelpolitik sei, während das Produktionsniveau sich nicht unterscheide. Geldpolitische Modelle der letzten Jahre4 führen ebenfalls zu dem Schluss, dass Regelpolitik diskretionären Entscheidungen überlegen ist: Auch wenn Inflation und Produktionsniveau bei beiden Varianten im Durchschnitt auf dem gleichen Niveau liegen, ist ihre Volatilität im diskretionären Fall höher. Wenn man allerdings zusätzlich politökonomische Aspekte der Implementierbarkeit und Ungewissheit berücksichtigt, kann die Überlegenheit von Regelpolitik in Zweifel gezogen werden. So wird im Folgenden argumentiert, dass bei Berücksichtigung dieser Erweiterungen die Überlegenheit und/oder Realisierbarkeit regelgebundener Wirtschaftspolitik von ihrer Form und von den jeweiligen Rahmenbedingungen abhängig ist.5

Arten der Regelbindung

  1. Feste versus flexible Regelbindung: Die Inflexibilitätskosten einer Regelbindung können durch die Einführung von „Ausstiegsklauseln“ für wohldefinierte Situationen oder Ereignisse verringert werden. Dies ist vor allem in turbulenten Zeiten, in denen große Unsicherheit bezüglich der weiteren Entwicklung herrscht, sinnvoll. Allerdings können im Schatten von Ausstiegsklauseln eigennützige Änderungsinteressen von Politikern durchschlagen (beispielsweise aufgrund von asymmetrischen Informationen über die Art der Schocks). Vermeidbar ist dies nur durch Transparenz und den Einsatz unabhängiger – letztlich demokratisch nicht direkt legitimierter – Gremien, die die Entscheidungen über die Eintrittsbedingungen für einen Ausstieg zu treffen haben.6
  2. Einzelne versus mehrere Regelbindungen: Je mehr Regeln gleichzeitig bindend gelten, desto größer ist das Konfliktpotenzial. Ein bekanntes Beispiel liegt beim Stabilitätsgesetz und dem sogenannten magischen Viereck vor: Der Konflikt entsteht hier durch den Versuch, gleichzeitig Arbeitslosigkeit und Inflation zu verringern (Phillipskurven-Trade-off).
  3. Nationale versus internationale Regelbindungen: In der globalisierten Welt greifen nationale Regelbindungen meist zu kurz. Es kann zu Ausweichreaktionen und Arbitragestreben kommen, die das Erreichen des Ziels erschweren oder sogar unmöglich machen. Ein Beispiel hierfür ist die derzeitige Debatte um die Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Internationale, global geltende Regelbindungen sind hier erwünscht, aber nur schwer umzusetzen und oftmals aufgrund von Anreizen zu Trittbrettfahrerverhalten sehr instabil.7
  4. Grundlegende versus weniger grundlegende Regeln: Fundamentale, systemrelevante (als besonders wichtig erachtete) Normsetzungen werden in der Regel in Verfassungen festgeschrieben, um eine Veränderung zu erschweren, indem bewusst hohe Anforderungen wie Einstimmigkeit oder qualifizierte Mehrheiten an Abstimmungen zu ihrer Änderung/Abschaffung gestellt werden. Dagegen werden als weniger grundlegend oder wichtig erachtete Regeln eher in „normalen“ Gesetzen und Verwaltungsakten festgeschrieben und sind dadurch entsprechend leichter abzuschaffen oder zu ändern.8
  5. Einheitliche versus nichteinheitliche Regeln: Wettbewerb wird in der Ökonomie grundsätzlich als etwas Positives gesehen. Dies sollte auch für den institutionellen Wettbewerb gelten. Entsprechend befürworten nicht wenige Ökonomen einen solchen Wettbewerb zwischen institutionellen Regeln in verschiedenen Regionen oder Ländern, weil sie diesen als Entdeckungsverfahren institutioneller Verbesserungen (Kosteneinsparungen) sehen9 – ein Vorteil, der bei einer Harmonisierung von Regeln nicht zu erzielen wäre.10 Diesem Vorteil sind allerdings Effizienzverluste durch Fragmentierung gegenüberzustellen.11 Zudem setzt die Ausnutzung solcher Vorteile institutionellen Wettbewerbs die Möglichkeit der Abweichung von Regelsetzungen und damit ein gewisses Ausmaß von Diskretionärität im staatlichen Handeln voraus.

Unterschiedliche Rahmenbedingungen

1. Demokratie versus Diktatur: Zwischen Regelbindung und Demokratie herrscht ein komplexes Spannungsverhältnis: Zum einen wird einer regelgebundenen Wirtschaftspolitik manchmal „Demokratiefeindlichkeit“ vorgeworfen. Zum anderen können demokratische Strukturen die Durchsetzbarkeit von beständiger regelgebundener Wirtschaftspolitik erschweren. In Wahldemokratien sind Politiker von ihrem Wiederwahlinteresse getrieben, so dass für sie der Anreiz, von einfachen Regelversprechen abzuweichen, insbesondere vor Wahlterminen hoch ist. Außerdem ist es für eine Regierung unter Umständen nicht einfach, Nachfolgeregierungen an ihre eigenen Regelversprechen zu binden. Dies erfordert in der Regel Einvernehmlichkeit über konkurrierende Parteien hinweg, die am besten in Form einer Verankerung oder Festschreibung in der Verfassung eines Landes dokumentiert wird. Wenn Letzteres gelingt, können in Demokratien höhere Hürden gegen Regelverletzungen aufgebaut werden als in Diktaturen. In Diktaturen sind auch Verankerungen in Verfassungen häufig wertlos oder nicht-bindend, da auch diese von den Machthabern leicht geändert oder missachtet werden können. Regelbindung setzt Rechtsstaatlichkeit voraus, die in Diktaturen häufig nicht gegeben ist. Von daher dominiert in einer Diktatur die Diskretionarität; es gilt dort die oben beschriebene Position der frühen Verteidiger diskretionärer Politik, nämlich dass es einer Politikbehörde, hier dem Diktator, frei steht, sich im Bedarfsfall – wenn oder solange eine Regelorientierung die optimale Politikstrategie darstellt – entsprechend zu verhalten (ohne sich offiziell zu binden).12

2. Geheimhaltung versus Transparenz: In Punkt 1 (bei „Arten der Regelbindung“) wurde betont, dass flexible Regelbindungen mit Ausstiegsklauseln nur dann effizient sein können, wenn unabhängige (letztlich demokratisch nicht direkt legitimierte) Gremien über die Erfüllung der Eintrittsbedingungen für einen Ausstieg aus der Regelbindung entscheiden. Solche Entscheidungen sollten aber ihrerseits – gerade wegen des Demokratiedefizits – transparent gemacht werden. Generell ist zu betonen, dass echte Demokratien auch Transparenz voraussetzen. Transparenz verhindert das „heimliche“ Abweichen von auferlegten Regeln (beispielsweise aufgrund bestimmter Interessenkonstellationen).

3. Wirksame versus nichtwirksame Bestrafungen beim Abweichen von Regelversprechen: In der geldpolitischen Theorie werden schon seit Längerem Kontrakte diskutiert, die eine spezifische Strafe für Zentralbankgouverneure beinhalten, wenn gewisse Ziele nicht erreicht (bzw. gewisse Inflationsziele überschritten) werden. Ein entsprechender von Walsh vorgeschlagener Kontrakt ähnelt dem in Neuseeland in den 1990er Jahren eingeführten Verfahren, bei dem vertraglich festgeschrieben wird, dass das Realeinkommen und letztlich auch die (Weiter-)Beschäftigung eines Zentralbankgouverneurs von dem Erreichen eines vorgegebenen Inflationsziels abhängig ist.13 Die Wirkung einer solchen Bestrafung ist auch abhängig von der Art der Sanktionen:

(a) Automatische, in der Verfassung festgeschriebene, Sanktionen sind wirksamer als

(b) diskretionäre und damit ermessensbedingte und zum Teil willkürliche Entscheidungen. Dies zeigen z.B. Auslegungen der Regelungen im bisherigen EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt, die in der Vergangenheit dazu geführt haben, dass eine Mehrheit von Regelverletzern und mit Deutschland und Frankreich auch schon zwei große Länder die Implementierung von Sanktionen gegen ihre Länder verhindern konnten.14

4. Ruhige versus turbulente Zeiten: Es spricht einiges dafür, eine regelgebundene Wirtschaftspolitik eher in ruhigen als in turbulenten Zeiten zu favorisieren. So treten im Zuge der Globalisierung schneller und prägnanter ein überraschender Strukturwandel und neue Mitspieler auf. Dies erfordert Flexibilität im Sinne einer Umorientierung der Wirtschaftspolitik und der Regulierungssysteme. Eine gewisse Diskretionarität wird sich in diesen Fällen also kaum vermeiden lassen. Dies gilt auch und insbesondere für Schwellen- und Transformationsländer, in denen häufiger neue Strukturen zu Tage treten und sich neue, zum Teil unvorhergesehene Herausforderungen an die Wirtschaftspolitik stellen.

5. Risiko versus Ungewissheit: Eng mit dem vorherigen Aspekt verbunden ist die Unterscheidung zwischen Risiko und Ungewissheit. Bei Vorliegen von Ungewissheit sind die Kosten einer Regelbindung meist höher als im Fall des Risikos, bzw. gar nicht kalkulierbar, da verlässliche Informationen über Eintrittswahrscheinlichkeiten von Ereignissen fehlen.

6. Unabhängigkeit versus Abhängigkeit von Überwachungsbehörden: Regulierungsbehörden, die die Einhaltung von Regeln überwachen sollen, sind häufig selbst abhängig von Politikbehörden. Dies macht sie im Zweifelsfall zum Spielball politischer Partikularinteressen. Aus diesem Grund wird seit der jüngsten Finanzkrise in manchen Ländern z.B. die Eingliederung von (Finanz-)Regulierungsbehörden in unabhängige Zentralbanken diskutiert.15 Solche politisch unabhängigen Behörden sind allerdings, wie oben schon betont, oft dem Vorwurf der fehlenden demokratischen Legitimation ausgesetzt.

Schlussfolgerungen

Die Quintessenz dieses kleinen Essays ist, dass besonders beim Abweichen von dem Spezialfall einer unabhängigen Zentralbank sowie unter Einbeziehung von Implementierungsproblemen und der Ungewissheit keine allgemeingültige Aussage bezüglich der Bewertung regelgebundener Wirtschaftspolitik getroffen werden kann. Ob regelgebundene Wirtschaftspolitik sinnvoll bzw. einer diskretionären Politik überlegen ist, hängt letztlich von der Art der Regelbindung selbst und von den jeweils vorherrschenden Rahmenbedingungen ab.

So erscheint eine starre Regelbindung in turbulenten Zeiten weniger angemessen als in ruhigen Zeiten. Auch ist sie politisch nicht ohne Weiteres umzusetzen. Dies zeigen schon die Erfahrungen in den USA der 1980er und 1990er Jahre, wo vergeblich versucht wurde, eine gesetzlich festgelegte Fiskalregel zum Abbau der Staatsverschuldung durchzusetzen. Es ist nicht ausreichend, lediglich eine Regel aufzustellen, es müssen auch geeignete Anreize geschaffen werden, um die ausführenden Politikbehörden zu einer strikten Einhaltung des Regelziels zu bewegen. In der Geldpolitik mag dies im Vergleich zu verschiedenen anderen Bereichen der Politik, in denen die Politiker wesentlich stärker von kurzfristigen Interessen abhängig sind, noch relativ einfach sein.

Von daher muss davor gewarnt werden, zu sehr einschränkende Regelversprechen einzugehen, deren Umsetzung bzw. Einhaltung in der Folge scheitert. Dies führte bereits in der Vergangenheit zu Erwartungsenttäuschung, Vertrauensentzug und Glaubwürdigkeitsverlust der Politik. Es ist von daher immer erst zu prüfen, welche Alternativen unter welchen Rahmenbedingungen realisiert werden können. Diese sollten dann einem situationsbezogenen Kosten-Nutzen-Vergleich unterworfen werden.

  • 1 Letzteres gilt vor allem für passive Regeln. Bei Feedback-Regeln können dagegen auch Destabilisierungskosten aufgrund von instabilen Wirkungsverzögerungen auftreten. Eine passive Regel ist eine starre Regel, die unabhängig von kurzfristigen Änderungen der volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen ein immer gleiches Verhalten der Politik, z.B. ein konstantes Geldmengenwachstum, vorschreibt. Im Gegensatz zu passiven Regeln schreiben Feedback-Regeln eine aktive Reaktion auf Änderungen bestimmter volkswirtschaftlicher Rahmenbedingungen vor, z.B. auf eine Überschreitung eines bestimmten Inflationszielwertes. In einer solchen Regel ist genau festgelegt, wie in einer bestimmten Situation reagiert werden soll. Vgl. H. Wagner: Stabilitätspolitik, 9. Aufl., München 2011, 3. Kapitel.
  • 2 Eine Politik ist „zeitinkonsistent“, wenn eine zukünftige Politikentscheidung, die Teil eines heute formulierten optimalen Plans ist, vom Blickwinkel eines späteren Zeitpunkts nicht mehr optimal ist.
  • 3 Siehe F. Kydland, E. Prescott: Rules rather than discretion: The inconsistency of optimal plans, in: Journal of Political Economy, 85. Jg. (1977), S. 473-492; sowie R. Barro, D. Gordon: Rules, discretion and reputation in a model of monetary policy, in: Journal of Monetary Economics, 12. Jg. (1993), S. 101-122.
  • 4 Dies sind die Modelle der Neuen Neoklassischen Synthese (NNS); siehe z.B. H. Wagner, a.a.O., für eine nähere Erläuterung der hier beschriebenen Effekte.
  • 5 Im Folgenden werden aus Platzgründen nur einige der sinnvollen Unterscheidungen von Formen und Rahmenbedingungen aufgeführt.
  • 6 Unter flexible Regelbindungen fallen auch weiche (d.h. in engen Schranken flexible) Wechselkurssysteme, von denen bekannt ist, dass sie besonders bei Kapitalmobilität Spekulationsdruck ausgesetzt und deshalb tendenziell instabil sind, vgl. z.B. C. M. Reinhart: The mirage of floating exchange rates, in: American Economic Review, Papers and Proceedings, 90. Jg. (2000), S. 65-70.
  • 7 Vgl. hierzu H. Wagner: Ungleichgewichte und internationale Politikkoordinierung, in: Wirtschaftspolitische Blätter, 58. Jg. (2011), S. 487-99.
  • 8 Die Relevanz und damit Bindung von Regeln wird durch die Art der Festlegung bestimmt. Um ein aktuelles Beispiel anzuführen: Werden Schuldenregeln, wie im neuen EU-Fiskalpakt vorgesehen, in nationalen Verfassungen verankert, ist dies wesentlich bindender als die bislang geltenden EU-Konvergenzkriterien. Wie viel stärker diese Bindung tatsächlich ist, hängt von der konkreten Umsetzung ab, z.B. davon, ob und wie gegen Verletzungen vorgegangen werden kann (ob Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof als Automatismus bei Regelverletzungen oder erst nach der Klage einzelner Staaten gegen den die Verletzung begehenden Staat eingeleitet werden).
  • 9 F. A. Hayek: Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, Kiel 1968. Erst durch einen Vergleich der Wirksamkeit und Kosten verschiedener Regeln in unterschiedlichen Regionen kann, so die Vorstellung, die beste Regel entdeckt werden.
  • 10 Zur Frage, ob bzw. wann Harmonisierung oder Wettbewerb hinsichtlich von Regeln innerhalb einer Union vorzuziehen ist, siehe H. Wagner: Is harmonization of legal rules an appropriate target? Lessons from global financial crisis, in: European Journal of Law and Economics, 33. Jg. (2012).
  • 11 Eine solche Fragmentierung kann aber auch gewichtige Vorteile haben, nämlich die Berücksichtigung von Präferenzunterschieden zwischen Regionen oder Ländern. Darauf basiert auch der Gedanke einer föderalen Struktur des Politikwesens in Staaten wie Deutschland.
  • 12 Der (wohlwollende) Diktator ist die dominierende Kunstfigur in allen klassischen Makromodellen.
  • 13 C. Walsh: Optimal contracts for central bankers, in: American Economic Review, 85. Jg. (1995), S. 150-167. Zu möglichen Einwänden siehe z.B. H. Wagner: Stabilitätspolitik, a.a.O.
  • 14 Von Deutschland wurde in den letzten Jahren bei der Lösung der Schuldenkrise in der Eurozone die Variante (a) favorisiert, jedoch konnte diese im neuen EU-Fiskalpakt nur zum Teil eingelöst werden; de facto ist dieser durchlöchert mit Ausnahmeregelungen.
  • 15 Beispielsweise derzeit in Großbritannien; siehe z.B. H. Wagner: The causes of the recent financial crisis and the role of central banks in avoiding the next one, in: International Economics and Economic Policy, 7. Jg. (2010), S. 63-82; sowie B. Mohr, H. Wagner: Regulatory Governance and the Framework for Safeguarding Financial Stability, in: A. Tavidze (Hrsg.): Progress in Economics Research, 23. Jg. (2012), New York, S. 1-32.

Probleme regelgebundener Wirtschaftspolitik in Europa

Als Reaktion auf die Monetarismusdebatte Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre ging die Deutsche Bundesbank als erste Zentralbank der Welt 1975 dazu über, ihr geldpolitisches Handeln an ein im Voraus öffentlich angekündigtes Geldmengenziel zu binden. Trotz Zielverfehlungen und Änderungen des Maßstabs hielt sie bis zum Übergang in die Europäische Währungsunion (EWU) an dieser Praxis fest. Auch ihre Unabhängigkeit, die sie in Europa vor der Umsetzung des Maastrichter Vertrages nur mit der niederländischen Zentralbank teilte, ist als Politikregel zu sehen. In der deutschen Wirtschaftspolitik haben Regelbindungen mithin Tradition und gelten als wichtiges, bewährtes Element, was in jüngerer Zeit durch die Verankerung einer Schuldenbremse im Grundgesetz unterstrichen wurde. Durch den Maastrichter Vertrag wurden die Unabhängigkeit der Notenbank und die Regeln für die Fiskalpolitik Bestandteil der europäischen Geldordnung. Mit den Beschlüssen des Europäischen Rates über die Rettungsschirme, erst für Griechenland und dann für alle EWU-Länder, vom Mai 2010 ging der Rat jedoch über eine Reihe von Vertragsbestimmungen hinweg und setzte für mehr als ein Jahr auf Einzelfallentscheidungen. Da man durch sie der Lösung der Krise nicht näher kam, wurden auf deutsches Drängen schließlich strengere Regeln für den Stabilitäts- und Wachstumspakt („six pack“) und die Verankerung von Schuldenbremsen in den nationalen Verfassungen beschlossen. Werden die neuen Regeln in der Zukunft eingehalten werden? Warum ist effiziente Regelbindung auf europäischer Ebene schwieriger als auf deutscher Ebene?

Warum Regelbindung der Wirtschaftspolitik?

Der bekannteste Vorschlag zur regelgebundenen Geldpolitik stammt von M. Friedman.1 Er begründet seine Forderung nach einer starren Geldmengenregel (k percent rule) mit ungelösten Informationsproblemen. Da Prognosen des BIP mit erheblichen Fehlern behaftet seien und Geldmengenänderungen nur mit langen und variablen Verzögerungen wirksam werden, habe eine diskretionäre Geldpolitik destabilisierende Effekte. Wie immer man diese Informationsprobleme heute einschätzt, liefert die Theorie rationaler Erwartungen mit ihrer Annahme vorwärts schauender Wirtschaftssubjekte darüber hinaus ein starkes Argument für die Regelbindung der Wirtschaftspolitik.2 Dabei muss nicht von den in den ursprünglichen rationalen Erwartungsmodellen unterstellten und inzwischen viel kritisierten hohen Informationsständen der Akteure ausgegangen werden. Auch bei beschränkt rationalen Wirtschaftssubjekten sind Politikregeln rein diskretionärem Handeln überlegen, sofern sie mit einer Selbstbindung der Politiker bezüglich ihres zukünftigen Handelns verbunden sind.

Bei vorwärts schauenden Wirtschaftssubjekten bestimmt nämlich die Erwartung zukünftiger Ereignisse ihr gegenwärtiges Verhalten und damit die gegenwärtige Wirtschaftslage.3 Die Wirkungen einer bestimmten Wirtschaftspolitik können dann aber nicht nur aufgrund ihres augenblicklichen Kurses beurteilt werden, sondern es ist vielmehr nötig, auch ihren zukünftigen Kurs und damit ihre Reaktion auf bestimmte Ereignisse in der Zukunft zu spezifizieren. Bei vorwärts schauenden Wirtschaftssubjekten ist man mithin gezwungen, Wirtschaftspolitik als Regel zu begreifen.4

Bei rein diskretionärer Wirtschaftspolitik gibt es keine effektiven vertraglichen Abmachungen zwischen politischen Akteuren und privaten Wirtschaftssubjekten hinsichtlich des Verhaltens ersterer. Sind letztere vorwärts schauend und kennen sie z.B. die Möglichkeit der Geldpolitik zur Inflationierung, wird dies in ihre gegenwärtige Lohn- und Preissetzung einfließen. Daher wird bei diskretionärer Geldpolitik die tatsächliche Inflationsrate höher ausfallen als bei regelgebundener, ohne dass mit ihr Beschäftigungsgewinne verbunden wären. Dies gilt schon für den Fall ausschließlich gemeinwohlorientiert handelnder Politiker.5 Unterstellt man mit der Neuen Politischen Ökonomie eigennutzorientierte politische Akteure wird die Überlegenheit regelgebundener Politik noch deutlicher. Denn dann ist eine demokratische Kontrolle der Politik durch die Wähler einfacher. Ähnlich lässt sich für die Fiskalpolitik argumentieren.

Arten der Regelbindung

Zur regelgebundenen Wirtschaftspolitik werden zum einen starre Regeln gerechnet, was eine passive, die jeweilige Wirtschaftslage nicht berücksichtigende Politik impliziert. Beispiele sind die k-Prozent-Regel Friedmans aber auch die Unabhängigkeit der Zentralbank. Zum anderen umfasst sie Feedback-Regeln, bei denen die Wirtschaftspolitik insofern aktiv ist, als die Akteure ex ante sagen, wie sie in Zukunft auf bestimmte Situationen mit ihrem Instrumentarium reagieren werden. Die Geldmengenregel der Deutschen Bundesbank, die Zwei-Säulen-Strategie der EZB und der Stabilitäts- und Wachstumspakt sind Beispiele für Feedback-Regeln. Wegen ihrer größeren Flexibilität bieten sie viele Vorteile und haben sich deshalb in der Geld- und Fiskalpolitik durchgesetzt, sofern eine Regelbindung überhaupt praktiziert wird.6 Allerdings lässt sich keine klare Aussage über die optimale Art von Feedback-Regeln machen. Denn einerseits sind einfache Regeln zwar gut für die Kontrolle durch den Wähler, aber zugleich relativ inflexibel. Andererseits sind zwar komplexere Regeln flexibler, bieten aber die Gefahr, nicht mehr als Regel erkennbar und damit nicht mehr auf ihre Einhaltung kontrollierbar zu sein.

Voraussetzungen für die Wirksamkeit

Die bisher dargestellten Vorteile der Regelbindung gelten aber nur für den Fall, dass angekündigte Regeln auch eingehalten werden (dynamische Konsistenz). Intertemporal gibt es jedoch Anreize für die politischen Akteure, dynamisch inkonsistent zu handeln. Wenn nämlich Wirtschaftssubjekte, z.B. auf die Ankündigung der Notenbank hin, eine bestimmte – Preisniveaustabilität garantierende – Geldmengenregel strikt einzuhalten, eine niedrige Inflationsrate für die Zukunft erwarten und in langfristigen Verträgen entsprechend niedrige Nominallohnerhöhungen vereinbaren, entsteht ein Trade-off zwischen Inflation und Output. Die Notenbank kann ihn nutzen, indem sie von der angekündigten Regel abweicht, eine höhere Geldmengenausweitung vornimmt und damit die Inflation über das in den Verträgen antizipierte Maß hinaus anhebt. Dies würde Output und Beschäftigung erhöhen, solange die Verträge und mit ihnen die Nominallöhne nicht angepasst werden. Damit ist, wenn man eine übliche quadratische soziale Verlustfunktionen unterstellt, eine kurzfristige Erhöhung der sozialen Wohlfahrt verbunden.

Dies stellt schon für benevolente Zentralbanken und erst recht für an einer Wiederwahl interessierte Politiker einen Anreiz dar, dynamisch inkonsistent zu handeln. Da vorwärts schauende Wirtschaftssubjekte diesen Anreiz zur Regelverletzung kennen, werden sie genau dies auch für die Zukunft erwarten und einfachen Regelankündigungen nicht mehr Glauben schenken. Die Zentralbank verliert dann ihre Reputation für die strikte Verfolgung des Ziels Preisniveaustabilität. Wenn vorwärts schauende Wirtschaftssubjekte deshalb eine höhere als durch die Regel implizierte Inflationsrate antizipieren, entstehen mittel- bis längerfristig Wohlfahrtsverluste, da der höheren Inflationsrate keine Output- und Beschäftigungsgewinne mehr gegenüberstehen. Nur wenn die Einhaltung der Regelbindung sichergestellt und damit glaubwürdig ist, liefert sie bessere Ergebnisse als eine diskretionäre Politik.7

Dies kann nur durch glaubwürdige Selbstbindung der politischen Akteure im demokratischen Prozess geschehen. Wenn man die Regeln in die Verfassung aufnehmen würde, würde ihre Verletzung Verfassungsbruch bedeuten und somit sehr teuer werden für die Akteure. Bei der Ankündigung einer Regel würden vorwärts schauende Wirtschaftssubjekte daher von ihrer Einhaltung ausgehen, was wiederum ihre Erwartungsbildung und damit ihre gegenwärtigen Dispositionen stabilisieren würde. Erkauft würde dies jedoch durch eine relativ inflexible Politik, da wohl nur starre Regeln oder sehr einfache Feedback-Regeln in die Verfassung aufgenommen werden könnten. Als Alternative käme die Verankerung komplexerer Regeln in einem Gesetz in Frage, das nur mit qualifizierter Mehrheit geändert werden könnte. Aber auch dies wäre nicht unproblematisch. Denn es gilt: je komplexer die Feedback-Regel, desto flexibler kann die Politik reagieren, aber desto weniger bleibt sie für die Wirtschaftssubjekte als Regel erkennbar und desto schwieriger gestaltet sich auch für sie die Kontrolle ihrer Einhaltung.8

Fazit: Regelbindung der Wirtschaftspolitik verstetigt die Erwartungsbildung vorwärts schauender Wirtschaftssubjekte und damit ihr gegenwärtiges Handeln sowie die Wirtschaftslage. Voraussetzung dafür ist allerdings der Wille der politischen Akteure zur Einhaltung der Regeln, was sie durch eine wirksame Selbstbindung glaubhaft machen müssen.

Erfahrungen mit Regelbindung in der EWU

Im Maastrichter Vertrag wurden die Kernelemente der deutschen Geldordnung auf die EWU übertragen: Unabhängigkeit der Zentralbank, Verpflichtung auf das Ziel Preisniveaustabilität und Verbot der Finanzierung öffentlicher Haushaltsdefizite. Hinzu kamen Regeln für die Finanzpolitik: eine No-Bailout-Klausel sowie Defizit- und Schuldenstandskriterien, die im Stabilitäts- und Wachstumspakt konkretisiert wurden. Ferner wurden Konvergenzkriterien formuliert, die ein EU-Land erfüllen muss, um in die EWU aufgenommen zu werden. Deutsche Politiker haben vor dem Start der EWU ihren Wählern immer wieder versichert, dass alle Regeln strikt eingehalten werden, da die deutsche Stabilitätskultur mittlerweile von allen EU-Ländern akzeptiert werde. Sie konnten darauf verweisen, dass bei ihrer Nichtbeachtung die Bestimmungen eines internationalen Vertrages verletzt würden. Trotzdem war die Skepsis groß, die sich unter anderem auch in dem von etwa 160 deutschen Ökonomieprofessoren signierten und vom Verfasser mitinitiierten Manifest „Der Euro kommt zu früh“ äußerte, in dem auf gravierende Schwachpunkte des Maastrichter Vertrages hingewiesen wurde.

In der Folgezeit zeigte sich, dass die Skeptiker Recht behalten sollten. Denn die politischen Akteure demonstrierten immer wieder, dass sie nicht gewillt sind, sich an die von ihnen vertraglich vereinbarten Regeln zu halten. Dies fing schon mit der Erfüllung der Konvergenzkriterien, insbesondere der Haushaltskriterien an. So wurde das Defizitkriterium in einigen Ländern nur mit viel kreativer Buchführung formal erreicht. Beim Schuldenstand wurde die Vertragsbestimmung, dass er sich bei einer Überschreitung hinreichend rasch der 60%-Grenze wieder annähern müsse, soweit gedehnt, dass auch Italien und Belgien mit über 100% aufgenommen werden konnten. Selbst Deutschland hätte streng genommen nicht akzeptiert werden dürfen, da sein Schuldenstand über 60% des BIP und steigend war, sich also von der Grenze entfernte. Griechenland wurde 2001 sogar gestützt auf gefälschte Zahlen in die EWU aufgenommen und hat seitdem in keinem Jahr die Kriterien eingehalten, ohne dass die vertraglich vorgesehenen Sanktionen verhängt worden wären. Der Europäischen Kommission und dem Europäischen Rat, namentlich auch dem damaligen deutschen Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer, waren die Fälschungen bekannt. Offensichtlich aus übergeordneten politischen Erwägungen konnte Griechenland trotzdem Mitglied der EWU werden.

Ein Jahr später (2002) bezeichnete der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Romano Prodi, sogar den Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP), wie alle starren Regeln, als „dumm“. Wenn der Chef der „Hüterin der Verträge“ dies öffentlich erklärt, werden gravierende Zweifel am Willen der politischen Akteure zur Einhaltung dieser und anderer Regeln gesät, was ihre Wirksamkeit einschränkt bzw. zerstört. Die skeptische Haltung Frankreichs und anderer EWU-Länder gegenüber dem SWP wurde ab 2003 von der deutschen Regierung unterstützt. Statt die wegen der Verfehlung des Defizitkriteriums fälligen Sanktionen zu akzeptieren, wurde 2005 von beiden Ländern eine Verwässerung der Regeln des SWP durchgesetzt. Im vorletzten französischen Präsidentschaftswahlkampf haben alle Kandidatinnen und Kandidaten vehement für eine Einschränkung der Unabhängigkeit und der Preisniveaustabilitätsorientierung der EZB und für die Einrichtung einer Wirtschaftsregierung plädiert. Präsident Sarkozy hat sich nach seiner Wahl um Unterstützung für diese Anliegen bei vor allem südeuropäischen EWU-Mitgliedstaaten bemüht.

Als Ende 2009/Anfang 2010 die Renditen der Staatsanleihen Griechenlands, Portugals, Irlands und Spaniens im Vergleich zu denen Deutschlands stark anstiegen, wurde dies von den politischen Akteuren einer internationalen Spekulation gegen den Euro angelastet mit der Gefahr des Staatsbankrotts und Ausscheidens einzelner Länder aus der EWU. Bekanntlich wurden daraufhin im Mai 2010 Rettungsschirme für Griechenland und die EWU-Länder beschlossen. Der Europäische Rat setzte sich damit über die No-Bailout-Klausel des Maastrichter Vertrages hinweg. Präsident Sarkozy verkündete am Tag nach den Beschlüssen triumphierend, dass die Entscheidung „zu 95 Prozent“ auf französische Vorstellungen zurückgehe. Es sei endlich zu einer „veritablen Wirtschaftsregierung für die EWU“ gekommen und es seien alle Institutionen der EWU (einschließlich der EZB) bereit, „ohne Gnade gegen die Spekulation zu kämpfen“9.

In der Folge versuchte der Europäische Rat durch diskretionäre Entscheidungen mit wenig Erfolg die Krise zu bekämpfen. Hatte er schon durch die Nichtdurchsetzung des SWP und das Aushebeln der No-Bailout-Klausel erheblich an Glaubwürdigkeit verloren, so verschlimmerte er dies weiter durch nicht gehaltene Versprechen: die Rettungsschirme seien strikt auf drei Jahre begrenzt, Griechenland sei nur illiquide, nicht insolvent etc. Vor – aber auch noch nach – den Entscheidungen z.B. über den permanenten Rettungsschirm ESM gab es zudem einen vielstimmigen Chor wichtiger und weniger wichtiger Politiker, die eine andere Maßnahme wie z.B. den unbegrenzten Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB (lender of last resort), die Ausgabe von Eurobonds oder eine drastische Erhöhung des Volumens des ESM forderten. All dies zeigt, dass diskretionäre Politik auf europäischer Ebene noch problematischer ist als auf nationaler Ebene, da es mehr politische Akteure gibt. Im Ergebnis hat sie keine Stabilisierung gebracht, sondern vielmehr die EWU zum Spielball der Finanzmärkte gemacht.

Auch die 2011 und 2012 auf deutschen Druck letztlich beschlossenen neuen Regeln für den SWP („six pack“) und die Verankerung einer Schuldenbremse in den nationalen Verfassungen leiden erheblich unter dem über Jahre aufgebauten Glaubwürdigkeitsverlust des Europäischen Rates. Die einfache Ankündigung, in Zukunft die neuen Regeln einhalten zu wollen, wird daher nicht geglaubt werden. Denn die für die Erwartungsbildung vorwärts schauender Wirtschaftssubjekte so wichtige wirksame Selbstbindung der Akteure kann nicht als sichergestellt betrachtet werden. Vielmehr ist zu befürchten, dass die neuen Regeln vielerorts nur formal akzeptiert wurden, um Deutschland zwar aktuell als großen Finanzier zufriedenzustellen, aber bei nächster Gelegenheit wieder von ihnen abzuweichen.

Mein Eindruck aus vielen Diskussionen ist, dass Regelbindung der Wirtschaftspolitik in Frankreich und anderen EWU-Ländern noch immer als Werk von Technokraten abgetan wird. Als eigentliche, echte Wirtschaftspolitik gelten dort nur diskretionäre Entscheidungen, mit denen man sich – wenn nötig – jederzeit auch über vereinbarte „technokratische“ Regeln hinwegsetzen kann. Diese Vorstellung liegt auch der französischen Idee der Wirtschaftsregierung zugrunde, die die EZB in Missachtung ihrer Unabhängigkeit ohne Weiteres mit einbezieht. Diese gravierenden Unterschiede in den Konzeptionen der Wirtschaftspolitik stellen ein großes Hindernis für eine effiziente Bekämpfung der europäischen Staatsschuldenkrise dar und werfen grundlegende Fragen bezüglich der Nachhaltigkeit der EWU auf.

  • 1 M. Friedman: A Program for Monetary Stability, New York 1960.
  • 2 Vgl. z.B. F. W. Kydland, E. C. Prescott: Rules Rather than Discretion: The Inconsistency of Optimal Plans, in: Journal of Political Economy, 85. Jg. (1977), S. 473-491. Für einen neueren Überblick über Modelle der Erwartungsbildung siehe M. H. Pesaran, M. Weale: Survey Expectations, in: G. Elliott, C. W. J. Granger, A. Timmermann (Hrsg.): Handbook of Economic Forecasting. 1. Jg. (2006), S. 715-776.
  • 3 Vgl. W. Kösters: Zur theoretischen Integration der Stabilitätspolitik in die Konzeption des ökonomischen Liberalismus, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. 10 (1991), S. 145-166, hier S. 155.
  • 4 Vgl. z.B. J. B. Taylor: An Appeal for Rationality in the Policy Activism Debate, in: R. W. Hafer (Hrsg.): The Monetary versus Fiscal Policy Debate, Totowa, N.J., S. 151 ff.
  • 5 Vgl. R. J. Barro, D. B. Gordon: Rules, Discretion, and Reputation in a Model of Monetary Policy, in: Journal of Monetary Economics, 12. Jg. (1983), S. 101 ff.
  • 6 Vgl. W. Kösters: Erfahrungen mit Geldmengenzielen und ihre Implikationen für die konzeptionelle Ausgestaltung der Geldpolitik, in: B. Gahlen et al.: Wirtschaftswachstum, Strukturwandel und dynamischer Wettbewerb, Berlin u.a.O. 1989, S. 107-124.
  • 7 Vgl. W. Kösters: Zur theoretischen Integration …, a.a.O., S. 156 f.
  • 8 Vgl. K. Rogoff: The Optimal Degree of Commitment to an Intermediate Monetary Target, in: Quarterly Journal of Economics, 100. Jg. (1985), S. 1169 ff.
  • 9 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.6.2010, S. 17.

Wirtschaftsverfassung statt Wirtschaftsregierung

Die Geschichte des Euro ist auch eine Geschichte politischer List – nicht nur auf Seiten griechischer Politiker. Eine Lesart ist folgende: politische Eliten, vor allem in Deutschland und Frankreich, wünschten sich schon immer eine „politische Union“ – nur war diese manchen ihrer Kollegen und selbst ihren eigenen Bürgern damals nicht zu vermitteln. Damit war auch die „Krönungstheorie“ (erst politische Union und Wirtschaftsregierung, dann gemeinsame Währung) als Königsweg versperrt. Deshalb wagte man die Währungsunion gemäß der „Lokomotivtheorie“. Diese hat etwa Edmund Stoiber jüngst so beschrieben: „Wir beginnen mit dem Euro, und er wird die Europäische Union zusammenschweißen, er wird die politische Union erzwingen.“1 Rückblickend ist es billig festzustellen, dass der Euro die Union ganz und gar nicht zusammengeschweißt hat: „Was Mörtel sein sollte und uns als solcher angepriesen worden ist, hat sich in der Tat als Dynamit erwiesen“ (so Wilhelm Röpke 1959 im Hinblick auf die Blockbildung der EWG2). Vorausblickend scheint es tatsächlich so, dass die „Rettung des Euro“ eine Art politischer Union „erzwingen“ könnte, wenn sich die Losung durchsetzen sollte: „scheitert der Euro, dann scheitert Europa“.

Zumindest dominiert im politischen und intellektuellen Diskurs (von Merkel bis Habermas) die Ansicht, nun – in der Krise – helfe nur „mehr Europa“ in Form einer Europäischen „Wirtschaftsregierung“ – was immer das genau heißen mag. Die List der politischen Vernunft könnte aufgehen: die Währungsunion würde durch ihr drohendes Scheitern genau die politische Union „alternativlos“ werden lassen, die die Bürger nie gewollt haben – und noch immer nicht wollen.3 Ausgerechnet die selbstverschuldete Europäische (Schulden-)Krise liefert der Politik nun die Europäische (Einigungs-)Chance; die Währungsunion als Trojanisches Pferd. Man muss nicht Verschwörungstheoretiker sein, um dies perfide zu finden: bewusst ein Abenteuer einzugehen, um dann im Moment des Scheiterns eine politische Union gegen den ursprünglichen Willen der Bürger zu „erzwingen“!

Aber schon die Prämisse der Forderung nach einer weiteren Vergemeinschaftung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik war und bleibt äußerst fragwürdig. Tatsächlich, so meine These, braucht Europa auch jetzt keine „Wirtschaftsregierung“, sondern eine Stärkung dessen, was Europa schon hat: eine „Wirtschaftsverfassung“.

Eine Währungsunion erfordert keine gemeinsame Wirtschaftsregierung

Für den Erfolg einer Währungsunion war und ist eine zentrale, mit fiskal-, sozial- oder arbeitsmarktpolitischen Vollmachten ausgestattete gemeinsame „Wirtschaftsregierung“ keine Voraussetzung. Vielmehr wäre es von Anfang an auf die nach dem Vorsichtsprinzip knapp berechnete Auswahl der Mitglieder und deren Fähigkeit zu glaubwürdiger dauerhafter Selbstbindung an integrationsförderliche Regeln angekommen. Die Maastrichter Konvergenz- und Stabilitätskriterien kamen diesen beiden Anforderungen im Prinzip recht nahe. Als Aufnahmebedingungen wurden sie bekanntlich viel zu großzügig ausgelegt; und als Verhaltensbeschränkungen waren sie nie glaubhaft bindend. Dies galt selbst für das in seiner Deutlichkeit kaum zu übertreffende „Bailout“-Verbot der Europäischen Verträge (Art. 125 AEUV). Zudem überschätzte man die Fähigkeit der Mitglieder, mit asymmetrischen Schocks umzugehen – etwa die Flexibilität der Löhne nach unten oder die Mobilität der Arbeit nach draußen.

Die Währungsunion litt somit an zwei Konstruktionsfehlern: der verfrühten und überdehnten Vergemeinschaftung der Geldpolitik und dem zu wenig glaubwürdigen Ordnungsrahmen. Das Scheitern des verhängnisvollen Großexperiments „Währungsunion“ liegt nicht am Fehlen eines weiteren Großexperiments „Europäischer Finanzminister“ oder Europäische „Wirtschaftsregierung“.

Eine einheitliche Wirtschaftsregierung ist ökonomisch und politisch schädlich

Der Ruf nach einer Europäischen „Wirtschaftsregierung“ oder schlicht „mehr Europa“ wirkt umso überzeugender, je unklarer bleibt, was konkret gemeint sein soll. „Koordination“, „Kontrolle“, „Gemeinsamkeit“, „Solidarität“ klingen gut – brauchen aber keine einheitliche „Regierung“. Die Diskussion um eine Europäische Wirtschaftsregierung würde in allen EU-Mitgliedstaaten schnell in den akademischen Elfenbeinturm zurückverwiesen, wenn nicht nur abstrakt gefragt würde: „brauchen wir mehr Europa?“, sondern sehr konkret: „über welche Politikbereiche soll der Bundestag, l‘Assemblée Nationale, the House of Commons, etc., nicht mehr eigenverantwortlich entscheiden dürfen?“.

Schon jetzt stellt es sich als überaus demokratieschädlich heraus, dass in einem Teil Europas die „Troika“ als ungewähltes Gremium der Geberländer die Parlamente der Schuldner vor sich hertreibt, während im anderen Teil Europas Bürger ungefragt für die Schulden anderer Staaten haften und bürgen sollen. Eine Europäische Fiskal- und Transferunion würde diese doppelte Entmachtung des Souveräns nur noch größer und sichtbarer machen. Auch ökonomisch wäre nichts gewonnen; im Gegenteil dürfte eine europäische Wirtschaftsregierung mit Vollmachten eines Finanz-, Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsministeriums noch mehr Schaden anrichten. Sie kann entweder überall die gleiche Politik durchsetzen oder eine diskretionäre Politik je nach eigener Einschätzung der Lage bzw. der aktuellen Machtverhältnisse. Beides wäre schädlich.

Ersteres würde etwa die „Harmonisierung“ von Steuern, Ausgaben oder Sozialsystemen bedeuten. Dies entspricht dem französischen Politik- und Sozialmodell, wonach eine gemeinsame Geldpolitik sich den Erfordernissen einer übergeordneten einheitlichen Fiskal-, Konjunktur- oder Sozialpolitik zu fügen hat. Tatsächlich dürfte eine Europäische Wirtschaftsregierung die schon reichlich beschädigte Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) weiter schwächen, die bisher von der Fragmentierung der fiskalpolitischen Verantwortlichkeiten profitierte. Doch selbst wenn dies nicht der Fall wäre: die Europäische Union würde zusätzlichen Dilemmata ausgeliefert sein und zusätzliche Sklerose produzieren. Es war und ist schon eine Zumutung für die EZB, einen Leitzins für verschiedene und, durch die gemeinsame Währung zudem verstärkt auseinanderdriftende, Volkswirtschaften zu finden. In der Währungsunion sind mit Wechselkurs und Zins zwei zentrale Preise als Ventile oder automatische Stabilisatoren zum Ausgleich unterschiedlicher Entwicklungen der Wettbewerbsfähigkeit bereits eliminiert. Will man nun als einheitliche Wirtschaftsregierung auch noch die anderen Ventile schließen, dürfte diese „One-size-fits-all“-Strategie zur verstärkten „Euro-Sklerose“ führen.

Eine Zentralisierung oder Harmonisierung nun auch der Steuer- und Abgabenpolitik, der Sozialpolitik oder gar der (in Deutschland noch einigermaßen subsidiär entstaatlichten) Lohnfindungspolitik wäre fatal. Sie würde

(a) den heterogenen Präferenzen und Leistungsfähigkeiten in den verschiedenen Ländern der Eurozone niemals entsprechen können,

(b) die durch sichtbar konkurrierende Parteien und lebhaften politischen Diskurs besonders legitimierten nationalen Parlamente entmachten („no taxation without representation“) und

(c) die Währungsunion keineswegs stabiler machen.

Eine Europäische Wirtschaftsregierung wäre ein noch weniger global wettbewerbsfähiges Gebilde, da die stark wohlfahrtsstaatlich regulierten Mitglieder die Wirtschaftsregierung sicher dafür nutzen würden, ihre Standards den anderen Mitgliedern als „Europäisches Sozialmodell“ aufzunötigen. Das „Raising-rivals’-costs“-Motiv würde den innereuropäischen Wettbewerb der Sozialmodelle behindern, mit der Folge, dass Europa im globalen Wettbewerb weiter zurückfiele.

Nicht weniger schädlich wäre eine diskretionär handelnde und intervenierende Wirtschaftsregierung. Auch hierfür gibt es Anzeichen und Absichtserklärungen, etwa die Forderung, in Deutschland müssten die Löhne (und Lohnstückkosten) mehr als anderswo steigen, um „makroökonomische Ungleichgewichte“ zu beseitigen. Einer Europäischen Wirtschaftsregierung, die Einzelfallbetrachtungen nach Maßgabe der „Rule of reason“ anstelle einer allgemeinen „Rule of law“ anstellt, um dann den jeweiligen Mitgliedern „passgenaue“ Vorschriften zu machen, wäre nicht mehr der Vorwurf des „One size fits all“ zu machen. Manche Ökonomen mögen dies sogar als aufgeklärte Weiterentwicklung des „More economic approach“ im Europäischen Wettbewerbsrecht betrachten. Als Europäische Rechtsgemeinschaft, die sich im Rahmen der „begrenzten Einzelermächtigung“ und unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips ein allgemeines Gesetz gibt, wäre die EU aber in ihrem Kern beschädigt. Das mag den Ökonomen und Politiker nicht scheren; beide sollten sich aber an Erfahrungen etwa mit der deutschen Globalsteuerung oder der französischen „Planification“ erinnern und sich vorstellen, was geschähe, wenn diese Planungs- und Lenkungsphantasien nun auch noch zum Gegenstand permanenten Aushandelns (Log-rolling) in einer Europäischen Wirtschaftsregierung würden.

Europa war da erfolgreich, wo es sich auf eine liberale Wirtschaftsverfassung einigte

Der kategoriale Unterschied zwischen „Wirtschaftsregierung“ und „Wirtschaftsverfassung“ dürfte wohl nur den Kennern der Freiburger Schule sofort einleuchtend sein, da auch der Begriff der „Wirtschaftsverfassung“ sehr unterschiedliche Deutungen aufweist. Ich beziehe mich hier auf das von Franz Böhm entwickelte und dann von Ernst-Joachim Mestmäcker und Werner Mussler konkret auf die EU bezogene Konzept einer Wirtschaftsverfassung.4 Kurz und grob kann man sagen: Die Wirtschaftsverfassung trennt nach Maßgabe des Subsidiaritätsprinzips die Kompetenz- und Verantwortungsbereiche von „Privatrechtsgesellschaft“ und Rechtsstaat sowie von Mitgliedstaaten und Union und definiert Rechte und Pflichten mit Hilfe universalisierbarer Rechtsregeln. Eine Wirtschaftsverfassung basiert auf Ordnungspolitik und Regelbindung vor allem staatlicher Akteure; eine Wirtschaftsregierung betreibt Prozesspolitik und ergebnisorientierte Steuerung wirtschaftlicher Entwicklungen.

Schon der Kern der Römischen Verträge entsprach diesem Leitbild weitgehend. Das Prinzip der „limitierten Einzelermächtigung“ verlangt vertragsrechtliche Grundlagen des Gemeinschaftshandelns – während eine „Wirtschaftsregierung“ sich sehr viel eher eigene „Kompetenz-Kompetenz“ verschaffen würde. Die Grundfreiheiten und Wettbewerbsregeln kreieren individuelle Abwehrrechte der Bürger gegen ihre Regierung – während eine „Wirtschaftsregierung“ auf politische Eingriffsrechte in die Freiheiten der Bürger hinauslaufen dürfte. Gegenseitige Regelbindungen an Europäisches Recht sind auch nicht „undemokratisch“ – es sei denn, man vertritt das Ideal einer unbeschränkten Demokratie, die stets der jeweiligen Mehrheit ihr jeweiliges „Recht“ gibt. Eine Wirtschaftsverfassung kann (und sollte) auch Gegenstand expliziter Zustimmung der Bürger auf dem Wege des Bürgerentscheids sein – das alltägliche Lenken und Aushandeln von Maßnahmen einer Wirtschaftsregierung dagegen entzieht sich weitgehend der Möglichkeit einer direktdemokratischen Vorab-Legitimation.

Offene Märkte, Subventionsabbau, stabiles Geld: diese ordnungspolitischen Grundanliegen der Sozialen Marktwirtschaft sind inzwischen weitgehend „europäisiert“ worden. Sicher sind dabei nicht alle Ideale der Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft vollkommen und unverfälscht umgesetzt worden. Das ist auch in Deutschland nicht gelungen. Aber in den genannten Bereichen besteht eine Europäische Wirtschaftsverfassung, die es gerade heute zu bewahren und zu vollenden (Binnenmarkt) bzw. wieder herzustellen gilt (stabiles Geld).

Was tun?

Die Europäischen Regierungen müssen (wieder) einem Recht unterworfen sein, das sie nicht selbst beliebig ändern oder missachten können. Solide Fiskalpolitik (und Geldpolitik) darf nicht weiter Ergebnis machtpolitischen Aushandelns zwischen Schuldnern und Gläubigern sein; sie muss durch allgemeine Regeln erzwungen werden. Hierzu gehören:

  • Die Verpflichtung aller Regierungen, den strukturellen Haushalt auszugleichen – nach dem Vorbild der Deutschen Schuldenbremse.
  • Die Verpflichtung aller Regierungen, ihren Schuldenstand nach einem festgelegten Tilgungsplan auf ein Höchstmaß zu reduzieren.
  • Wie die einzelnen Länder diese Vorgaben erfüllen, bleibt ihnen überlassen. Weder die Europäische Union noch haftende Länder sollten konkrete Vorgaben machen, wie andere demokratische Länder ihre Ausgaben und Steuern gestalten.
  • Länder der Eurozone, die ihre Verpflichtungen nicht erfüllen, müssen mit automatischen Sanktionen belegt werden, deren Höhe im Vorhinein festgelegt ist und die auch nicht von anderen Mitgliedern der Eurozone ausgesetzt werden können.
  • Ein Staats-Insolvenzrecht muss für alle Euroländer gleichermaßen in Kraft gesetzt werden. Hierin sind die Voraussetzungen für eine Insolvenz ebenso erkennbar anzuzeigen wie die Rangfolge der für einen Forderungsverzicht herangezogenen Gläubiger. Private Gläubiger sind vorrangig zu belasten. Nur diese Erwartung des Gläubigerverlusts (anstelle der Vergemeinschaftung von Schulden durch Monetarisierung oder staatliches Bailout) wirkt anreizkonform auf Investoren und Haushaltspolitiker.
  • Schließlich muss die EZB wieder zu ihrem ursprünglichen Mandat, der Erhaltung der Geldwertstabilität, zurückkehren. Kurspflege und Amtshilfe zur Haushaltsfinanzierung durch die Notenpresse sind nicht Aufgaben der EZB.

Die von 25 Staatschefs jüngst verabschiedeten Maßnahmen zur Etablierung einer „Fiskalunion“ oder „Stabilitätsunion“ entsprechen diesem Modell in einigen wichtigen Teilen (etwa: Schuldenbremse und Tilgungsplan). Andererseits ist kein glaubwürdiger „Automatismus“ von Sanktionen zu erwarten, solange eine qualifizierte Mehrheit von Ministern die vorgesehenen Sanktionen stoppen und hierbei auch auf das unveränderte, völkerrechtliche Vereinbarungen übertrumpfende EU-Vertragsrecht verweisen kann. Zudem zielen andere Teile des „Fiskalpakts“ auf eine selektiv intervenierende „Wirtschaftsregierung“.

Marktkräfte nutzen, um Regelbindung glaubwürdiger zu machen

Ein durchaus berechtigter Einwand gegen meine Eloge auf die Regelbindung einer europäischen Wirtschaftsverfassung anstelle diskretionärer Entscheidungen einer Europäischen Wirtschaftsregierung besteht darin, dass auch die „Maastricht-Regeln“ einschließlich des überaus klaren „Bailout“-Verbots letztlich nicht gewirkt haben. Ähnlich könnte es in der Tat auch den jetzigen Selbstverpflichtungen ergehen – selbst wenn sie eines Tages nicht nur jeweils unterschiedlich interpretiertes nationales, sondern vom EuGH einheitlich durchgesetztes europäisches Recht würden. In der Tat: solange politische Selbstbindung eben auch Selbstregulierung ist, gibt es wenig Gewähr gegen politische Selbst-Entbindung und Verlagerung der Haftung auf Steuerzahler oder künftige Generationen. Am glaubwürdigsten sind politische Versprechen wohl dann, wenn schon der Geruch ihrer Nichteinlösung auch ökonomische und damit politische Konsequenzen hat. Deshalb ist es zentral, dass die Sanktionsinstanzen der „Finanzmärkte“ und Ratingagenturen sensibilisiert werden und wirkmächtig bleiben.

Ein Großteil der aktuellen Krisenbewältigung hat dagegen zum Ziel, sich von „den Märkten“ zu isolieren und das „Primat der Politik“ gegen die Bildung realistischer Risikoerwartungen auf Märkten durchzusetzen. Rettungsschirme, EZB-Anleihekäufe oder Eurobonds dienen genau diesem Ziel – mit der Folge, dass Banken wieder risikolose Gewinne und Staaten wieder risikolose Schulden machen können. Das Risiko der Insolvenz wird dabei aber nicht reduziert, sondern nur verschoben: auf die Steuerzahler und die künftigen Generationen. Eine weiterreichende „Europäische Wirtschaftsregierung“ dürfte diesen Trend fortsetzen. Eine glaubwürdige „europäische Wirtschaftsverfassung“ würde dagegen ein „Primat der nationalstaatlichen Haftung und Selbstverantwortung“ konstituieren, das die Märkte nicht als Gegner, sondern als Verbündete nutzte: Länder, die ihren souverän eingegangenen Selbstverpflichtungen (Schuldenbremse) nicht genügen, zahlen dann auch einen Preis (Risikoaufschlag).

Schlussbemerkung

„Wir brauchen kein Planungsprogramm, sondern ein Ordnungsprogramm in Europa“, so schrieb schon Ludwig Erhard.5 Dem entspricht meine These: Wir brauchen keine Wirtschaftsregierung, sondern eine Wirtschaftsverfassung in Europa. In Europa muss auch nicht einheitlich „Deutsch gesprochen“ werden; deutsche Wörter wie „Länderfinanzausgleich“, „Globalsteuerung“ oder „Politikverflechtungsfalle“ sollte man sich in Brüssel gar nicht erst aneignen. Es genügt, Begriffe wie „Ordnungspolitik“, „Wirtschaftsverfassung“ oder „Schuldenbremse“ ins Europäische zu übersetzen. Dabei kann man sich durchaus ein Beispiel nehmen an einem Griechen: Odysseus, der Listige – aber nicht als legendärer Erfinder des Trojanischen Pferdes, sondern als Vorbild einer erfolgreichen Selbstbindung, die es ihm erlaubte, den Versuchungen der Sirenen zu widerstehen.6

  • 1 Die Welt vom 15.8.2011.
  • 2 W. Röpke: Zwischenbilanz der europäischen Wirtschaftsintegration, Kritische Nachlese, in: ORDO, 11. Jg. (1959), S. 88.
  • 3 Vgl. die Zeit-Online-Umfrage vom 2.9.2011, www.zeit.de/politik/2011-09/umfrage-vereinigte-staaten-von-europa, wonach in Deutschland 50%, in Frankreich 54% und in Großbritannien 78% der Meinung sind, Finanz-, Steuer-, und Wirtschaftspolitik solle „allein Aufgabe der nationalen Parlamente und Regierungen bleiben“.
  • 4 Vgl. W. Mussler: Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union im Wandel: Von Rom nach Maastricht, Baden-Baden 1998.
  • 5 L. Erhard: Planification – kein Modell für Europa, in: K. Homann (Hrsg.): Ludwig Erhard. Gedanken aus fünf Jahrzehnten, Düsseldorf 1962/1988, S. 770.
  • 6 M. Wohlgemuth: Reformdynamik durch Selbstbindung: Zur politischen Ökonomie von Meinungen, Emotionen und Interessen, in: Wirtschaftsdienst, 87. Jg. (2007), H. 9, S. 571-575.

Demokratische Verfahren statt Regelbindung

Regelbindungen, so zum Beispiel die verfassungsrechtliche Verankerung des Instruments der Schuldenbremse, wie sie im Fiskalpakt vom 2. März 2012 für die EU-Staaten vereinbart worden ist, werfen die Frage nach ihrer Vereinbarkeit mit Normen demokratischen Entscheidens auf. Aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive wird hier zu klären versucht, welche Formen der Regelbindung demokratiekompatibel sind – und welche nicht.

Das Ziel jeder Regelbindung ist die Festlegung auf ein bestimmtes Handeln in einer notwendig unbestimmten Zukunft. Demokratietheoretisch ist Regelbindung erst jenseits eines legislativen Aktes, durch den ein Gesetz eine Regel implementiert (und mithin keine Handlungsspielräume für untergeordnete Akteure und Instanzen zulässt), problematisch. Gesetze können jederzeit durch andere ersetzt werden, findet sich eine Mehrheit dafür. Erst eine höhere Bindungsqualität durch verfassungsrechtliche Verankerung mit den entsprechend höheren Hürden einer Supermajorität lässt die Frage der Demokratieverträglichkeit aufkommen, weil eine Generation oder eine nur zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehende Mehrheit zukünftige Generationen festlegt. Das ist aber mit der Idee politischer Gleichheit und dem allen zustehenden Recht auf demokratische Beteiligung an kollektiven Entscheidungen, denen man selbst unterliegt, nur schwer zu vereinbaren. Nun sind im Felde der wirtschaftlichen Regelbindung die Zeithorizonte sicherlich kürzer. Aber auch auf die kurzen Horizonte von Legislaturperioden bezogen gilt die Reversibilität als grundlegende demokratische Norm. Eine neue Mehrheit muss jederzeit die Chance haben, die alten Gesetze und Regeln aufzuheben und durch neue zu ersetzen. Sollte eine aktuelle Mehrheit durch nicht-revidierbare Festschreibungen versuchen wollen, zukünftige Mehrheiten durch Vorfestlegung zu entmachten, würde der Regierungs-Oppositions-Mechanismus als Kern des demokratischen Wettbewerbs außer Kraft gesetzt.

Regelbindung und das Odysseus-Szenario

Von den Befürwortern wirtschaftspolitischer Regelbindung wird Politik aber nicht als eine Veranstaltung konzipiert, bei der unterschiedliche Werthaltungen und politische Programme um Unterstützung werben und es vernünftige Kontroversen um den richtigen wirtschaftspolitischen Weg gibt. Vielmehr wird angenommen, dass Regierungen unter dem Druck von Wahlen dazu neigen, Entscheidungen zu treffen, die sie ohne den Willen zur Wiederwahl und die Notwendigkeit, unmittelbar auf Wünsche und Forderungen der Bevölkerung oder einzelner Interessengruppen einzugehen, nicht getroffen hätten. Regierungen leiden an Willensschwäche, an Akrasie. Regelbindung erscheint als geeignetes Mittel dagegen. Wie vormals Odysseus gilt es heute, die Regierungen an den Mast zu binden, sie zwar die Sirenen (das Volk und die Interessengruppen) hören zu lassen, sie aber zu hindern, deren Ruf zu folgen.1 Regelbindungen müssen aber genau durch die Regierungen implementiert werden, die an Willensschwäche leiden. Diese müssen also dazu gebracht werden, in einem „lichten Moment“ oder einer Sondersituation sich solche Festlegungen zu verordnen, wie Odysseus sich hat an den Mast binden lassen und seinen Gefährten befahl, nunmehr keinem seiner Befehle mehr zu folgen.

Regelbindung ist daher Selbstbindung. Sie liegt dann vor, wenn eine Regierung sich zum Zeitpunkt t1 über die Installierung einer externen Größe (einer Regel) so festlegt, dass in den folgenden Zeitpunkten t2 bis tn nur die externe Größe entscheidungsrelevant ist. Alle Versuche, anderslautende eigene Entscheidungen vorzunehmen, sind dagegen als ungültig anzusehen. In diesem Odysseus-Szenario erscheint Regelbindung als Versuch, die eigene Rationalität zu erhöhen, sich gegen Zustände der Schwäche und der Irrationalität zu sichern. Je klarer und bestimmter die Regel, desto besser. Feste Größen und Formeln, genau definierte Bezugsgrößen und Berechnungsverfahren erscheinen geeignet, Automatismen zu installieren, die bis ins Kleinste hinein alles regeln und auch für den Fall der Abweichung noch einen Korrekturmechanismus bieten. Das Ideal ist das einer Turingmaschine oder eines kybernetischen Regelkreises. Die Vertreter der Regelbindung müssen aber unterstellen, dass es Zeitpunkte gibt, zu denen Regierungen fähig sind, rational zu entscheiden, und zwar so rational, dass sie sowohl ihre spätere Verführbarkeit kennen als auch das über längere Zeiträume passende Mittel, die Regel, die dauerhaft eine rationale Lösung herbeiführt. Diese Annahmen zur schwankenden Rationalität von Regierungen – rational in Zeiten der Regelsetzung, ansonsten meist irrational – sind schlicht unplausibel. Warum sollten nicht auch in Zeiten der Krise Einflüsse von Interessengruppen und Wählern eine rationale Entscheidung beeinträchtigen?

Das Konzept der Regelbindung im Sinne einer nicht unbedingt starren, aber formelgebundenen Steuerung beugt aber nicht nur einer vermeintlich zeitweiligen Willensschwäche von Regierungen vor, vielmehr werden potentiell hoch umstrittene und mit komplizierten Verhandlungen verbundene Entscheidungen überflüssig gemacht. Regelbindung, die scheinbar nur der Absicherung gegen zeitweise Irrationalität dienen sollte, erhält den Charakter des Ausschlusses von Kontroversen und Politik als Versuch bewussten kollektiven Entscheidens. Politische Probleme sollen hier durch Politikvermeidung gelöst werden. Ist aber nicht die zeitweise Willensschwäche, sondern die jederzeit vorhandene Unsicherheit über den richtigen oder angemessenen Weg das zentrale Problem, taugt das Odysseus-Szenario nicht. Stattdessen ist davon auszugehen, dass zu jedem Zeitpunkt Kontroversen darüber herrschen werden, was wirtschaftspolitisch aktuell und in der nächsten Zukunft zu tun ist. Wir befinden uns nicht in der Situation des Odysseus, sondern in der Situation der Agora, des Versammlungsplatzes, wo verschiedene Meinungen und ökonomische Theorien aufeinander treffen – und immer wieder neu entschieden werden muss, welche Ansichten, welches Wissen und welche Theorien zur Grundlage gemeinsamen Handelns gemacht werden sollen. In einem Agora-Szenario aber stellt Regelbindung nur einen Versuch des Ausschlusses und der Vorentscheidung von Kontroversen dar.

Wissen um den richtigen Weg

Die Demokratietheorie hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten vornehmlich der Frage der epistemischen Qualität demokratischen Regierens gewidmet. Wie kann Demokratie so eingerichtet, so „deliberativ“ ausgestaltet werden, dass politische Entscheidungen ein hohes Maß an Vernünftigkeit bei Berücksichtigung des relevanten Wissens und der relevanten Ansprüche aller Beteiligten vermuten lassen?2 Voraussetzung guten demokratisch-deliberativen Regierens ist die Etablierung eines argumentativen (nicht nur ideologischen oder strategischen) öffentlichen Austausches. Regelbindungen aber lassen nur eine Phase der argumentativen Auseinandersetzung zu – bei der Regelaufstellung. Regelbindungen sollen zwar nicht weitere Diskussionen ausschließen, aber sie doch unwirksam machen. Dies lässt sich aber nur verteidigen, wenn man unterstellt, dass zum Zeitpunkt der Regelsetzung die „richtigere“ Entscheidung auf der Basis des „richtigeren“ Wissens und der „besseren“ Argumente getroffen wird als zu einem späteren Zeitpunkt.

Die durchaus häufig anzutreffende Annahme, dass man zum Zeitpunkt der Festlegung über ein solches Wissen verfüge, das auch dann noch Bestand haben wird, wenn die Regelbindung längere Zeit fortexistiert, ist aber in Zeiten einer nur von Minderheiten der ökonomischen Disziplin in ihren Dimensionen erahnten oder erwarteten Finanzmarktkrise eine kaum überzeugende Unterstellung. Auch ökonomische Theorien ändern sich. Bei einer neuen innerwissenschaftlichen Mehrheitsmeinung würde man die alte Regelbindung als „Fehler“ aufgrund falscher Theorien ansehen, hätte aber, wenn man den Regeln wirklich Verbindlichkeit sichert, keine Chance, sie zu ändern. Diese offensichtliche Diskrepanz zwischen aktuellem Wissensstand und politischer Regelung ist politisch nicht dauerhaft durchzuhalten. Eine sich gegen die Wissensänderungen durch zwingende Verbindlichkeit immunisierende Regel wird als Entscheidung gegen eine lernende Politik gewertet. Regelbindung ist zum Zeitpunkt ihrer Implementierung als Abweichungsverbot konzipiert, funktioniert damit aber auch als Lernverbot und kann sich als Instrument zum Abblocken von Diskussionen entwickeln.

Regelbindung zum Leitprinzip zu erheben, erscheint aber auch aus einem aktuellen Grund eher bedenklich. Schließlich sind sich alle Beobachter einig, dass die gegenwärtige Situation als äußerst ungewiss einzuschätzen ist: Eine zu restriktive Haushalts- und Finanzpolitik könnte in den europäischen Staaten die Konjunktur derart eintrüben, dass eine ausgeprägte Rezession nicht nur Wachstumshoffnungen, sondern auch die Budgetkonsolidierung verhindern würde. Sparen allein kann daher nicht das Ziel sein, auch die Ankurbelung des Wachstums ist vonnöten.3 Wie soll aber eine rationale Regelbindung unter solchen Umständen stark divergierender Anforderungen und zudem bei der weiterhin bestehenden Möglichkeit des Zusammenbruchs größerer Banken oder der Insolvenz eines Staates entwickelt werden? Die epistemische Kapazität der demokratischen Prozesse ist nicht hinreichend, hier eine für längere Zeiträume geltende Lösung zu finden. An dieser epistemischen Kapazität fehlt es aber ebenso der Wissenschaft und der Elite aus dem Banken- und Finanzsektor. Auch sie haben in den drei vergangenen Jahren kein „Rezept“ präsentiert, das Austerität und Rezessionsvermeidung in einer wirtschaftspolitischen Formel vereinigen könnte.

Aber unabhängig von der Richtigkeit der Regel bietet die Regelbindung auf Seiten der staatlichen Haushalts- und Finanzpolitik einen generellen Vorteil für Marktakteure. Wenn sich der Staat festlegt, ist die Umwelt für die großen Akteure auf Finanz- und Gütermärkten einfacher zu beherrschen – ein Unsicherheitsfaktor oder Mitakteur weniger, den man als strategisch Handelnden einkalkulieren muss. Nur unter der Annahme, dass einzelne Staaten oder auch die Eurozone oder die EU gegenüber Märkten in einem strategischen Spiel ohnehin unterlegen sind – die Märkte mithin sicher gewinnen werden, wenn es zu einem strategischen Aufeinandertreffen kommt –, ist eine derartige Zurückhaltung aber rational zu rechtfertigen. Sich allen Mitakteuren im politisch-ökonomischen Kontext gegenüber überraschungsfrei zu verhalten, ist eine Selbstbescheidung, die aus einer Verliererrolle heraus entworfen ist und diese verfestigt. Man überlässt anderen wirtschaftlichen Akteuren jede beliebige Volte im Ausleben und Ändern ihrer ökonomischen Vorlieben, man nimmt auch jene durchaus „irrational“ gearteten (mit den empirischen Evidenzen nicht zusammenstimmenden) Wahrnehmungen von Investitionsbedingungen in bestimmten Ländern unter bestimmten Regierungen hin, lässt dort also jede Form der Leidenschaft und Emotion gelten und bietet diesem Spiel der nicht gebundenen und politisch nicht verantwortlichen Kalkulatorik zusätzlichen Entfaltungsraum.

Europäisierung der Regelbindung

In einem Europa, das selbst noch keine funktionierende föderale demokratische Struktur besitzt, verfassungsrechtlich wirksame Regelbindungen für alle Nationalstaaten zu verankern, die tiefgreifend die nationale Politik bestimmen, ist demokratietheoretisch aus folgenden Gründen nicht zu rechtfertigen: Der Fiskalpakt vom 2. März 2012 begründet eine Verschiebung von haushaltspolitischen Kompetenzen von den Nationalstaaten zu einem an die EU angelehnten, im Wesentlichen aber intergouvernementalen Regime. Die doppelte Verfassungsreform, zum einen die Überantwortung nationaler Kompetenzen und Kontrollmöglichkeiten, zum anderen die Verpflichtung, in die eigene Verfassung das Instrument der Schuldenbremse aufzunehmen, treibt die haushalts- und wirtschaftspolitische Integration Europas einen entscheidenden Schritt weiter. Dies mag man durchaus befürworten, eine solche Verfassungsreform muss aber auf demokratischem Wege zustande kommen. Allein, diese Verschiebung wird als Elitenprojekt auf einer rein intergouvernementalen Ebene ohne vorherige Partizipations- und Einflussmöglichkeiten der Bürger auf europäischer oder nationalstaatlicher Ebene betrieben. Zwar ist die Implementierung des Fiskalpaktes immer noch Sache der nationalen Parlamente, aber die Rolle der verfassunggebenden Versammlung haben die Zusammenkünfte der Regierungschefs übernommen. Aus Bürgersicht – und zwar als Bürger eines Nationalstaates wie als Unionsbürger – dürfte die Hinnahme von Akten, die die Verfassunggebung derart weitgehend in die Hände der Exekutiven geben, als konstitutionelle Selbstenteignung angesehen werden.

Der Inhalt dieser intergouvernementalen Verfassunggebung wird zudem nicht von der Perspektive der Bürger, sondern von der Perspektive der Märkte bestimmt. Die Annahmen der Politik darüber, was Märkte und relevante Marktakteure erwarten, welche Lösungen ihnen als glaubwürdig und verlässlich erscheinen könnten, bilden die Grundlage der Verfassungsreform. Ergebnis ist nicht nur die Konstitutionalisierung der Wirtschaftspolitik, sondern auch eine ökonomisierte Verfassunggebung. Zwar müssen Bürger- und Marktperspektive nicht notwendig konfligieren, aber ihr grundlegendes und dauerhaftes Zusammenstimmen ist ebenso wenig zu unterstellen. Wenn daher die Marktperspektive derart in den Vordergrund rückt, verschieben sich die Legitimationsgrundlagen von Verfassungen, sie sind nicht mehr der Ausdruck von Volkssouveränität und Menschenrechten, sondern auch eine Kreation der Märkte. Es ist nicht mehr das Volk, das als verfassunggebende Gewalt auftritt, sondern es sind die antizipierten Erwartungen von internationalisierten Finanzmärkten, die den letzten Horizont der Verfassunggebung bilden. Das ist kein Weg zu politischer Autonomie eines geeinten Europas, sondern die Festschreibung der Heteronomie der europäischen Staaten und der Europäischen Union.

Demokratische Regelbindung

Aber nicht jede Form der Regelbindung und der Selbstbindung ist demokratieunverträglich. Zielsetzung demokratischer Regelbindung kann nur die jederzeitige Aufrechterhaltung von Urteilskraft unter gleicher Beachtung der Stimmen aller Bürger sein. Eine Vernichtung von Spielraum für Urteilskraft und die Einbeziehung der vielfältigen Sichten in der Bevölkerung muss daher verhindert werden. Dies kann auf dem Wege der Selbstbindung in einem prozeduralen Sinne gelingen. Der Rechtstheoretiker und Philosoph J. Waldron4 hat gezeigt, dass es einen großen Unterschied macht, ob eine mechanische Regel, ein Automatismus, implementiert wird (eine regulative Norm) oder – so am Beispiel des von einer Party kommenden Autofahrers – einem Freund im Vorwege die Autoschlüssel übergeben werden. Der Einbau einer „dritten“ Partei erfolgt im politischen Raum allerdings nicht durch einzelne Personen, sondern nur durch Gremien und Verfahren. Gefordert sind mithin prozedurale Regeln. Diese schaffen erst hinreichend Raum für Überlegung und Urteilskraft, für ein Abwägen der besonderen Umstände, für Kontroversen und die Einbeziehung neuen Wissens.

Eine verfahrensbezogene Regelbindung kann demnach durchaus demokratisch ausgestaltet werden: Wird ein Schwellenwert eines ökonomischen Indikators erreicht, wird automatisch ein politisches Verfahren in Gang gesetzt, ein Verfahren, das Expertenstäbe und Verhandlungsarenen ins Spiel bringt, letztlich aber eine demokratisch legitimierte Instanz zur Geltung kommen lässt. Die Besonderheit der Verfahrensbindung im Unterschied zur Regelbindung liegt darin, dass das Ergebnis der Entscheidung nicht vorweggenommen wird. Zwar kann durch die Art der gestellten Entscheidungsaufgabe für die Verfahrensbeteiligten eine starke Einengung möglicher Optionen vorliegen, innerhalb dieses Rahmens bleibt das Verfahren aber entscheidungsoffen. Diese Offenheit ist das Merkmal von Politik und erforderlich, um sie als demokratische Politik aufrecht zu erhalten. Auf diese Offenheit zu verzichten (was auch der Fiskalpakt mit seiner Möglichkeit in Art. 7, durch qualifizierten Mehrheitsbeschluss eine Verpflichtung aufzuheben, nicht tut), bedeutete, sich den (imaginierten) Markterwartungen unterzuordnen statt Demokratie, d.h. Politik unter Beachtung politischer Gleichheit aller Bürger, zu befördern.

  • 1 J. Elster: Ulysses Unbound. Studies in Rationality, Precommitment, and Constraints, Cambridge 2000.
  • 2 Unter anderem J. Cohen: Philosophy, Politics, Democracy, Cambridge 2009; J. Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt a.M. 1992.
  • 3 Vgl. W. Streeck: Völker und Märkte. Demokratischer Kapitalismus und Europäische Integration. Ein Epilog, in: Lettre International 95, Winter 2011, S. 15-17.
  • 4 J. Waldron: Disagreement and Precommitment, in: ders.: Law and Disagreement, Oxford 1999, S. 255-281.

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DOI: 10.1007/s10273-012-1354-7

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