Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Die Eurokrise hat tiefgreifende Veränderungen im Gefüge von Institutionen und Kompetenzen in der Europäischen Union angestoßen, dafür stehen der „Fiskalpakt“ und die „excessive imbalance procedure“. Ein effizientes Governance-System hat sich aber bisher nicht herausgebildet. Die einzelnen Politikbereiche sind zudem innerhalb der EU unterschiedlich stark integrierbar. Zwischen Bereichen, in denen Zentralisierungstendenzen wünschenswert sind und solchen, in denen das Subsidiaritätsprinzip angemessen ist, muss klar unterschieden werden. Bei der Krisenbewältigung müssen demokratische Prinzipien dringend stärker beachtet werden.

Illegitim und rechtswidrig: Das neue makroökonomische Regime im Euroraum

Die Eurokrise hat tiefgreifende Veränderungen im Gefüge von Institutionen und Kompetenzen der Europäischen Union angestoßen. Als Reaktion auf die Krise erfolgte nicht nur eine Verschärfung des Stabilitätspakts, der künftig automatisierte Sanktionen vorsieht und der auf Grundlage des zwischenstaatlichen „Fiskalpakts“ um nationale Schuldenbremsen nach deutschem Vorbild ergänzt werden soll. Installiert wurde zudem auch ein „Verfahren zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte“ (Excessive Imbalance Procedure – EIP). Künftig wird die Europäische Kommission jährlich länderbezogene Wirtschaftsdaten auf Anzeichen für sich entwickelnde Fehlentwicklungen prüfen und bei Erreichen eines gewissen (Über-)Maßes ein Korrekturverfahren gegen den betroffenen Mitgliedstaat eröffnen. Der Ablauf ist dem Verfahren bei übermäßigen Defiziten nach Art. 126 AEUV nachgebildet. Hat der betroffene Mitgliedstaat die Korrekturvorgaben mangelhaft umgesetzt und gehört er der Eurozone an, können die Unionsorgane Sanktionen in Gestalt von Geldbußen verhängen.

Drei Punkte sind hierbei von besonderer Brisanz.

  1. Die Korrekturvorgaben können ohne Rücksicht auf die Grenzen der regulativen Kompetenzen der EU erfolgen und im Prinzip alle Politikbereiche betreffen, inklusive der Lohn-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sowie der allgemeinen Ausrichtung der Budgetpolitik – Politikbereiche also, deren Gestaltung nach der europäischen Kompetenzordnung dem demokratischen Prozess innerhalb der Mitgliedstaaten vorbehalten ist.
  2. Das Verfahren setzt eine bemerkenswerte Machtverlagerung vom (intergouvernementalen) Rat zur (supranationalen) Kommission ins Werk. Zwar fällt die Beschlussfassung über einzuleitende Gegenmaßnahmen und Sanktionen weiterhin formell dem Rat zu. Tatsächlich aber ist seine Gestaltungsmacht an wesentlichen Stellen des Verfahrens auf ein Vetorecht gegenüber den Beschlussvorlagen der Kommission verkürzt.
  3. Mit der EIP operiert die Union in einem Steuerungsmodus, der mit dem Ziel der schrittweisen Harmonisierung durch europäische Gesetzgebung nichts mehr zu tun hat. Die „Europäische Wirtschaftsregierung“ im Rahmen der EIP beruht vielmehr auf partikularen, also an einzelne Mitgliedstaaten gerichteten Weisungen zur Umsetzung von Vorgaben der Unionsorgane.

Makroökonomische Spannungen im Euroraum

Warum haben sich die Mitgliedstaaten zur Ingangsetzung dieses bemerkenswerten Verfahrens entschlossen? Über die Ursachen der erheblichen makroökonomischen Spannungen, die sich seit der Einführung der gemeinsamen Währung im Euroraum gebildet haben, ist viel gesagt und geschrieben worden. Wir wollen es daher bei knappen Hinweisen belassen: Im Kern besteht die Schwierigkeit in einer weit geöffneten Schere aus markant erhöhten Anforderungen an die makroökonomische Performance der Mitgliedstaaten einerseits bei gleichzeitigem Wegfall mehrerer zur Zielerreichung eigentlich notwendiger Steuerungsinstrumente andererseits. Die europäische Zinspolitik setzt für die betroffenen Mitgliedstaaten dysfunktionale Impulse, weil sich der einheitliche nominale Zinssatz der EZB angesichts divergenter Inflationsraten in unterschiedliche Realzinsen übersetzt. Diese unterschiedlichen Impulse treiben die europäischen Konjunkturen auseinander, statt eine Konvergenz der Konjunkturverläufe zu induzieren. Vor diesem Hintergrund wären die Mitgliedstaaten eigentlich gefordert, mit aktiver makroökonomischer Politik gegenzusteuern. Als Instrumente der makroökonomischen Steuerung stehen Volkswirtschaften normalerweise Wechselkursanpassungen, die Zinspolitik, die Fiskalpolitik und die Lohnpolitik zur Verfügung. Unter den Bedingungen der einheitlichen Währung und des verschärften Stabilitätspakts sind allerdings drei dieser vier Instrumente nicht mehr verfügbar. Allein die Lohnpolitik wäre auf der Ebene der Mitgliedstaaten im Prinzip noch zur makroökonomischen Gegensteuerung einzusetzen. Kurz, Anpassungsleistungen müssten in erster Linie durch die „richtige“ Lohnpolitik erbracht werden.

Soweit die Theorie. In der Praxis finden sich im Euroraum 17 ganz unterschiedliche Regime der Lohnaushandlung. In manchen von ihnen erfolgt die Lohnfindung durch Aushandlungen starker Verbände, in anderen hingegen dezentral und unkoordiniert. So ist die Fähigkeit zum strategischen Einsatz der Lohnpolitik, um mittelfristige Ziele zu erreichen, über den Euroraum höchst unterschiedlich verteilt. Deutschland, das nach der Euro-Einführung mit zu hohen Realzinsen konfrontiert war, reagierte auf diese Problemlage mit strategischer Lohnzurückhaltung. So gelang es, die Wirtschaft über den gezielten Aufbau von Exportüberschüssen anzukurbeln. Ländern mit unkoordinierter und deshalb kaum steuerbarer Lohnfindung steht dieser Weg der Problembewältigung nicht zur Verfügung. In der Folge haben sich die Lohnstückkosten und deshalb auch die preislichen Wettbewerbspositionen unter den Teilnehmern der Europäischen Währungsunion sehr unterschiedlich entwickelt und damit zu den erheblichen makroökonomischen Spannungen beigetragen, die wir derzeit beobachten.

Auch die Lohnpolitik lässt sich also zum Ausgleich der Ungleichgewichte im Euroraum nur bedingt einsetzen. Sie ist vielmehr ursächlich für weitere Spannungen. Vor diesem Hintergrund erscheint verständlich, dass die Mitgliedstaaten den gewagten Weg institutioneller Reformen und einer erheblichen Einschränkung ihrer Autonomie gehen, um makroökonomische Fehlentwicklungen durch zentrale, von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat variierende Vorgaben eindämmen zu können. Und ebenso erscheint es nahezu zwingend, dass das neue Instrumentarium erstmals auch den sensiblen Bereich der Lohnpolitik umfasst, sowohl auf der Ebene der zu evaluierenden Indikatoren als auch als potenzielles Ziel sanktionsbewehrter Vorgaben.

Warum sich die betroffenen Mitgliedstaaten wehren werden

Allerdings erwarten wir nicht, dass das neue makroökonomische Regime reibungslos funktionieren wird. Vielmehr befürchten wir, dass die EIP erhebliche Zwietracht unter den Teilnehmern der Europäischen Währungsunion säen wird und dass sich die künftig betroffenen Mitgliedstaaten mit den ihnen zur Verfügung stehenden, d.h. auch juristischen Mitteln gegen die über sie verhängten Sanktionen wehren werden.

Das erste von zwei Problemen liegt in der zu erwartenden asymmetrischen Behandlung der Mitgliedstaaten. Grundsätzlich sind Wirtschaftspolitiken, die im Ergebnis zu chronischen Leistungsbilanzüberschüssen führen, für die makroökonomischen Ungleichgewichte im Euroraum ebenso verantwortlich wie solche, die zu Defiziten führen. Folglich hatte sich die Aufmerksamkeit bei der Aushandlung der EIP in starkem Maße auf die Frage konzentriert, ob sich das Verfahren gleichermaßen auf die Eindämmung sowohl von Defiziten als auch von Überschüssen richten würde. Hoffnungen, die auf eine solche Symmetrie gerichtet waren, wurden aber alsbald zunichte gemacht.

Zwar beinhaltet das für die Überwachung durch die Kommission maßgebliche Scoreboard, das die Schwellenwerte makroökonomischer Indikatoren enthält, oberhalb derer wirtschaftliche Entwicklungen als Ungleichgewichte klassifiziert werden sollen, in der Tat sowohl einen Schwellenwert für übermäßige Leistungsbilanzdefizite als auch für Überschüsse. Der Schwellenwert für Überschüsse wurde – maßgeblich auf deutschen Druck – mit 6% aber höher gelegt als die 4%-Hürde, oberhalb derer Defizite als übermäßig angesehen werden. Auf gleicher Linie stellte Währungskommissar Olli Rehn bereits am 4. November 2011 in einem an die Finanzminister gerichteten Schreiben klar, dass der Fokus der EIP auf den Defizitländern liegen würde. Im Februar 2012 veröffentlichte die Kommission ihren ersten Bericht über makroökonomische Ungleichgewichte. Zwölf Länder sind betroffen, in allen Fällen handelt es sich um Defizitländer. Deutschland wird trotz langjähriger exorbitanter Exportüberschüsse nicht genannt. Dies begründete Kommissar Rehm mit den Worten, der Euroraum brauche Volkswirtschaften, die wettbewerbsfähige Produkte anbieten können.1

Das Problem ist nun, dass die EIP vor diesem Hintergrund keine wirtschaftspolitische Neutralität für sich beanspruchen kann. Vielmehr drückt sie spezifische Länder – solche mit Leistungsbilanzdefiziten – in Richtung spezifischer Problembewältigungsstrategien, namentlich Lohnmoderation, Arbeitsmarktflexibilisierung und soziale Einschnitte. Wir wollen uns an dieser Stelle einer Einschätzung darüber enthalten, inwieweit diese Instrumente zum nachhaltigen Abbau von Außenhandelsdefiziten tatsächlich geeignet sind. Die Befunde sind bekanntlich widersprüchlich und Gegenstand kontroverser Debatten zwischen den widerstreitenden wirtschaftswissenschaftlichen Schulen. Aus Sicht der betroffenen Mitgliedstaaten aber erscheint offensichtlich, dass derart einseitige Vorgaben und die mit ihnen künftig sogar verknüpften Sanktionen als Gängelung empfunden werden dürften – als illegitime Fremdbestimmung zur Bewältigung einer Problemlage, die zudem nur teilweise selbst verschuldet ist.

Das zweite Problem resultiert aus der in vielen Mitgliedstaaten fehlenden und auch durch die EIP naturgemäß nicht erhöhten politischen Steuerbarkeit der Lohnentwicklung. Das Scoreboard legt fest, dass die Kommission Verfahren gegen Mitgliedstaaten eröffnen kann, wenn deren Lohnstückkosten in einem Drei-Jahres-Zeitraum um mehr als 9% gestiegen sind. Ergreift der betroffene Mitgliedstaat keine durchgreifenden Maßnahmen, können – wenn der Rat nicht mit qualifizierter Mehrheit widerspricht – Sanktionen verhängt werden. Für die betroffenen Regierungen ist die Lohnentwicklung aber nicht unmittelbar beeinflussbar, und auch die mittelbare Beeinflussung dieser Zielgröße über die freiwillige Einbindung der Gewerkschaften in sogenannte „Soziale Pakte“ (man spricht hier auch vom „liberalen Korporatismus“) gelingt nur unter günstigen, historisch gewachsenen Bedingungen. Und politischen Eingriffen etwa in die Verbindlichkeit oder die Reichweite von Tarifverträgen können Garantien des nationalen Verfassungsrechts, aber auch des internationalen Menschenrechts (Europäische Menschenrechtskonvention, ILO-Konventionen) entgegenstehen. Kurz, die EIP sieht Sanktionen für Fehlentwicklungen bei Indikatoren vor, die in vielen Fällen allenfalls schwach steuerbar sind und deren Freiheit vor politischen Eingriffen in gewissem Umfang sogar rechtlich garantiert ist. Wer über etwas politisches Gespür verfügt, sollte nicht überrascht sein, wenn sich im Ernstfall herausstellt, dass dies von den Betroffenen nicht als legitim empfunden wird.

Werden also am Ende der bereits angelaufenen EIP tatsächlich Sanktionen verhängt, dann erwarten wir, dass sich die betroffenen Regierungen – die nicht mehr dieselben sein müssen wie jene, die die EIP in Kraft gesetzt haben – zur Wehr setzen werden. Diesen Regierungen steht der Weg der Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) offen. Ein wichtiger Angriffspunkt wird dabei die Frage sein, ob die EIP im Einklang mit den Kompetenzen der EU steht.

Die EIP als Überschreitung der Unionskompetenzen

Den rechtlichen Rahmen des Verfahrens der EIP bilden zwei förmlich voneinander unabhängige Verordnungen des Europäischen Parlaments und des Rates. Die erste ist die Verordnung (EU) Nr. 1176/2011 „über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte“, die auf sämtliche Mitgliedstaaten Anwendung findet, die zweite ist die Verordnung (EU) Nr. 1174/2011 „über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger Ungleichgewichte im Eurowährungsgebiet“, welche nur die Mitglieder der Eurozone betrifft.

Die erste Verordnung regelt das Verfahren der makroökonomischen Überwachung von der generellen Überwachung der makroökonomische Situation in den Mitgliedstaaten seitens der Kommission über die Eröffnung von Verfahren gegen einzelne Staaten wegen übermäßiger Ungleichgewichte bis zu dem Moment einer Feststellung, dass ein Mitgliedstaat den ihm von Kommission und Rat vorgegebenen Korrekturmaßnahmenplan nicht eingehalten hat. Die zweite Verordnung liefert die rechtliche Grundlage dafür, dass die Mitglieder der Eurozone anschließend mit Geldbußen belegt werden können. Die Frage, ob diese zweite Verordnung (EU) Nr. 1174/2011 (im Folgenden: DurchsetzungsVO) im Kompetenzbereich der Union liegt, wird also im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, wenn sich einzelne Mitgliedstaaten wie von uns erwartet vor dem EuGH gegen ihnen gegenüber verhängte Sanktionen wehren.

Der Erlass der DurchsetzungsVO wurde auf die Vorschrift des Art. 121 Abs. 6 AEUV gestützt. Diese Vorschrift erlaubt es Rat und Europäischem Parlament, die Einzelheiten des Verfahrens multilateraler Überwachung festzulegen, das wiederum ein zentraler Bestandteil der wirtschaftspolitischen Koordinierung auf Unionsebene ist. Die Eckpunkte des Verfahrens multilateraler Überwachung finden sich in Art. 121 Abs. 3 und 4 AEUV, und diese regeln einen Prozess von Berichten, Bewertungen und Empfehlungen. Sanktionen gegenüber den Mitgliedstaaten, die den Empfehlungen nicht Folge leisten, sind an dieser Stelle nicht vorgesehen. Es ist klar und anerkannt, dass solche Sanktionen darum auch nicht durch eine Verordnung auf Basis von Art. 121 Abs. 6 AEUV eingeführt werden können.

Aus diesem Grund wurde in der DurchsetzungsVO bei der obligatorischen Angabe der Kompetenzgrundlage zusätzlich zu Art. 121 Abs. 6 AEUV auch noch die Vorschrift des mit dem Vertrag von Lissabon in den Vertrag aufgenommenen Art. 136 AEUV angesprochen. Art. 136 Abs. 1 b) AEUV ermächtigt den Rat, für die Mitglieder der Eurozone besondere Grundzüge der Wirtschaftspolitik zu erarbeiten und deren Einhaltung zu überwachen. Entscheidend ist daher die Frage, ob Art. 136 AEUV den Rat im Rahmen der dort angesprochenen Überwachung über unverbindliche Empfehlungen hinaus auch zu Sanktionen ermächtigt. Wäre diese Frage zu bejahen, hätten Rat und EP wohl tatsächlich auf Basis von Art. 121 Abs. 6 AEUV die Einzelheiten der Überwachung in der DurchsetzungsVO festlegen dürfen.

Doch die Frage ist eindeutig zu verneinen. Art. 136 AEUV ermächtigt den Rat nicht zu Sanktionen, sondern nur zu Maßnahmen von der Art, die sich bereits in den Eckpunkten des Verfahrens multilateraler Überwachung nach Art. 121 Abs. 3 und 4 AEUV finden. Eine sorgfältige Auslegung der zunächst etwas unverständlich anmutenden Vorschrift des Art. 136 AEUV lässt am Ende keinen Zweifel: Zum einen regelt Art. 136 AEUV kein Verfahren zur Annahme der Sanktionsbeschlüsse durch den Rat, wie es an sich erforderlich wäre. Auch Art. 121 AEUV, auf den Art. 136 AEUV generell für die Annahmeverfahren verweist, enthält kein Verfahren für Sanktionen, sondern naturgemäß nur Verfahren für die dort vorgesehenen unverbindlichen Ratsmaßnahmen von Bewertung und Empfehlung. Zum anderen würde eine entgegengesetzte Auslegung letztlich darauf hinauslaufen, dass der Union bereits mit der Aufnahme von Art. 136 AEUV in den Vertrag eine umfassende Kompetenz zur Steuerung der mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitik im weitesten Sinne, also unter Einschluss von Steuer-, Arbeits- und Sozialpolitik, und nicht nur in Gestalt von Sanktionen, sondern auch in Gestalt europäischer Gesetzgebung zugesprochen worden wäre. Die Union verfügte also seit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon im Jahr 2009 über die rechtlichen Grundlagen einer echten Wirtschaftsregierung, nur dass das bis heute unbemerkt geblieben wäre. Das erscheint jenseits des Vertretbaren.

Ob freilich der EuGH in einer mit Blick auf den Bestand des Euro womöglich als notstandsähnlich wahrgenommenen Situation die an sich offensichtliche Kompetenzüberschreitung der Union nicht dennoch absegnet, lässt sich aus heutiger Sicht nicht beantworten. Gäbe der EuGH dem Druck nach, würde das im Falle deutscher Beteiligung sicherlich ein weiteres Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nach sich ziehen, und zwar unter dem in dieser Konstellation ausnahmsweise durchaus Erfolg versprechenden Gesichtspunkt einer strukturwirksamen Verletzung der Kompetenzordnung.

Fazit

Die Eurokrise hat das politische und kulturelle Klima zwischen den Teilnehmerländern empfindlich gestört. Mit dem neuen makroökonomischen Verfahren wurde die Hoffnung auf frühzeitige Erkennung und Beseitigung wirtschaftlicher Ungleichgewichte verknüpft – eine Voraussetzung dafür, dass der Euro zu dem beitragen kann, wofür die europäische Integration doch letztlich antritt: die europäischen Länder und Völker einander näherzubringen. Allerdings führte unsere politökonomische und juristische Betrachtung der EIP zu ernüchternden Ergebnissen. Statt Harmonie zu stiften, dürfte die EIP neue Zwietracht säen, und mit ihr überschreitet die Union ihre Kompetenzen. Die wirtschaftlichen, politischen und in der Folge auch kulturellen Spannungen zwischen den Teilnehmerstaaten werden den Euro noch lange begleiten.

  • 1 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.2.2012, S. 11.

Governance auf verschiedenen Ebenen

In den letzten zwei Jahren – die den Übergang von der vom amerikanischen Immobiliensektor ausgehenden Weltfinanzkrise zur Eurokrise markieren – haben reichlich 15 EU-(Sonder-)Gipfeltreffen stattgefunden. Im Zentrum dieser hektischen Suche nach Lösungen für die Eurokrise stand die Weiterentwicklung der europäischen Governance-Strukturen im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Einerseits und vordringlich ging es um die Schaffung von Notfallverfahren, die den potenziellen Staatsbankrott einzelner Eurozonenländer – und damit wohl auch das Auseinanderbrechen der Europäischen Währungsunion (EWU) – verhindern sollen. Derartige Governance-Strukturen waren bei der Schaffung der EWU schlicht nicht vorgesehen, weil niemand – insbesondere nicht nach dem scheinbar so erfolgreichen ersten Jahrzehnt1 – mit den Problemen der Eurozone seit 2009 rechnete oder aber Governance-Verfahren mit Notfallcharakter von den Architekten der EWU auch bewusst vermieden wurden, weil dies als Zeichen der eigenen Skepsis hätte gewertet werden können. Neben den Notfallverfahren wurden aber auch strukturelle Änderungen am bislang bestehenden Governance-System vorgenommen, um in Zukunft die Wahrscheinlichkeit krisenhafter Entwicklungen, die die blanke Existenz des Integrationsprojekts EWU gefährden, zu minimieren.

Hier soll es wesentlich um die strukturellen Änderungen des EU-Governance-Systems gehen, denn die Notwendigkeit der Schaffung von Notfallverfahren hat sich wohl ebenso als unstrittig herausgestellt, wie konkret die Bereitstellung einer Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) bzw. eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) grundsätzlich als weitgehend alternativlos bezeichnet werden kann.2

Aufgaben und Ziele des EU-Governance-Systems

Bevor wir einen Blick auf die strukturellen Reformen des Governance-Systems werfen wollen, soll kurz nach den Aufgaben und Zielen des EU-Governance-Systems gefragt3 und eine Einschätzung der strukturellen Mängel gegeben werden4 – solche dürfen jedenfalls unterstellt werden, da ansonsten kein Reformbedarf bestehen würde.

Aufgabe des EU-Governance-Systems ist es, jene wirtschaftspolitischen Bereiche zu koordinieren, die durch grenzüberschreitende Interdependenzen an Effizienz auf nationaler Ebene eingebüßt haben. Koordinierung, Harmonisierung oder gar Supranationalisierung dienen dann dazu, die Effizienz nationaler Wirtschaftspolitiken zu erhalten bzw. auf supranationaler Ebene zurückzugewinnen, um so die Zielsetzung sowohl der nationalen Regierungen als auch der supranationalen EU-Ebene verwirklichen zu können: die Maximierung der gesellschaftlichen Wohlfahrt. Während also die Koordinierung, Harmonisierung oder gar Supranationalisierung die Internalisierung externer Effekte ermöglichen soll, besteht andererseits die Gefahr, dass nationalen (heterogenen) Präferenzen nicht ausreichend Rechnung getragen werden kann und die (fiskalische) nationale Selbstverantwortlichkeit leiden mag. Auch die Möglichkeit des gegenseitigen Lernens (der Wettbewerb nationaler Wirtschaftspolitik als Entdeckungsverfahren also) und, vor allem, die nationale Souveränität werden eingeschränkt.

Deshalb muss ein effizientes Governance-System aus einer Mischung verschiedener Verfahren und Bereitstellungsebenen bestehen: Wirtschaftspolitikbereiche, die keine Interdependenzen aufweisen, können und sollten in rein nationaler Verantwortlichkeit verbleiben – es sei denn, es besteht eine gemeinsame Problemlage und -perzeption: In diesem Fall mag eine weiche Koordinierung, die wesentlich auf den Austausch von Informationen hinausläuft, sinnvoll aber auch hinreichend sein. Arbeitsmarktpolitik ist ein Beispiel; in der EU wird sie im Rahmen der Europäischen Beschäftigungsstrategie (EBS) tatsächlich weich und somit hinreichend koordiniert. Wirtschaftspolitikbereiche, die Interdependenzen aufweisen und gleichermaßen eine gemeinsame Problemlage und -perzeption ermöglichen – so z.B. im Fall der makroökonomischen Koordinierung von Geld-, Finanz- und Tarifpolitik – bedürfen dennoch der harten, also sanktionsbewährten Koordinierung, um Kooperationsfallen zu umgehen. Der Europäische Makroökonomische Dialog (EMD), der für die horizontale Koordinierung der Geld-, Finanz- und Lohnpolitik in der EWU zuständig ist, ist hingegen in ein weiches Koordinierungsverfahren eingebettet, was seine weitgehende Ineffizienz erklärt.5

Jene Wirtschaftspolitikbereiche schließlich, die starke Interdependenzen aufweisen und keine gemeinsame Problemlage und -perzeption erwarten lassen, bedürfen der Harmonisierung bzw. Supranationalisierung, um ein effizientes Koordinierungsergebnis hervorzubringen: Die Geldpolitik ist ebenso ein Beispiel hierfür, wie die vertikale Koordinierung der jeweils nationalen Finanz-, Lohn- oder Steuerpolitik. Tatsächlich ist bislang lediglich die Geldpolitik supranationalisiert, im Bereich der Steuerpolitik fehlt noch fast jede Form von EU-weiter Koordinierung, während für die Lohn- und Finanzpolitik zumindest keine adäquaten Governance-Strukturen geschaffen wurden: Die bisher vorhandenen Initiativen zur Selbstkoordinierung der Lohnpolitik auf gewerkschaftlicher Seite sind nur von regional begrenzter Reichweite,6 und es fehlen alle rechtlichen Rahmenbedingungen – z.B. ein EU-weites Kollektivvertrags- oder Streikrecht –, die die Eurozone zu einem „optimalen Lohnraum“7 machen könnten. Und im Falle des Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakts (ESWP) schließlich, der die Finanzpolitiken der nationalen Regierungen zwar in einem harten (weil sanktionsbewährten) Verfahren koordiniert, aber eben nicht supranationalisiert, kann es deshalb kaum verwundern, dass diesem Koordinierungsverfahren von allen Seiten mangelnde Effizienz attestiert wird.8

Reformen des EU-Governance-Systems

Das europäische Governance-System im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik ist nicht an einem akademischen Reißbrett entstanden, sondern entspricht dem Ergebnis eines intergovernementellen Aushandlungsprozesses, in den unterschiedliche nationale Interessen und gegebenenfalls auch unterschiedliche theoretische Standpunkte einfließen – es sollte also nicht überraschen, wenn erst wenige Jahre nach der Einführung der gemeinsamen Währung noch kein adäquates Governance-System vorzufinden ist. Die Ineffizienzen zeigen sich darin, dass weder die sozioökonomischen Ziele der Lissabonner Strategie, noch der makroökonomische Policy-Mix erreicht werden konnten. Und auch die Haushaltsprobleme vieler E(W)U-Mitgliedsländer sind nicht nur in deren Ausgabeverhalten, sondern auch in den Einnahmeproblemen unter den Bedingungen des nicht-koordinierten Steuerwettbewerbs zu suchen.9 Die Eurokrise aber könnte als jener Anstoß verstanden werden, der zur notwendigen Weiterentwicklung – und in einigen Bereichen eben auch zu einer Harmonisierung oder Supranationalisierung im Sinne einer echten „Europäischen Wirtschaftsregierung“ – des Governance-Systems führen sollte.

Tatsächlich sind einige Reformen und Erweiterungen des EU-Governance-Systems vorgenommen worden, die gelegentlich als Einstieg in eine „Europäische Wirtschaftsregierung“ oder eine Finanzunion bezeichnet wurden: Neben den bereits erwähnten Notfallmaßnahmen EFSF/ESM wurde jüngst der sogenannte Fiskalvertrag unterzeichnet, der im Kern eine Härtung des ESWP vorsieht und diesen mit konstitutionellen Vorkehrungen für eine Begrenzung der Staatsverschuldung – Schuldenbremsen nach deutschem Vorbild – verknüpft. Darüber hinaus werden im Euro-Plus-Pakt die nachhaltigen Leistungsbilanzungleichgewichte adressiert und mit dem Europäischen Semester eine bessere Verknüpfung der Abstimmungsprozesse im Rahmen des EU-Governance-Systems mit den nationalen Haushaltsverfahren angestrebt.

Der Fiskalvertrag trägt der Interpretation der Eurokrise als Krise der öffentlichen Haushalte Rechnung, die vorgeblich in der mangelnden Effizienz der finanzpolitischen Koordinierung durch den ESWP begründet liegt. Die Härtung des ESWP mittels Stärkung des präventiven und korrektiven Arms ebenso wie die Verpflichtung der Einführung einer konstitutionellen Schuldenbremse soll deshalb künftig nicht nur die angeblich fehlende Solidität der öffentlichen Haushalte einzelner Länder erzwingen, sondern auch den mit der Etablierung von EFSF/ESM aufgekommenen Befürchtungen entgegentreten; nationale Regierungen könnten gerade angesichts solcher Hilfestellung nicht genügend Anreize verspüren, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben. Ob mit diesen Vorkehrungen das Vertrauen der Finanzmarktteilnehmer in dem Sinne wiederhergestellt werden kann, dass allen EU-Regierungen wieder der Zugang zum internationalen Finanzmarkt zu vernünftigen Konditionen ermöglicht wird, wird sich erst noch zeigen müssen.

Klar erscheint, dass die Durchsetzung eines solchen Verfahrens leichter für ein Land (Deutschland) zu akzeptieren ist, dessen Wirtschaftsentwicklung sich nach der Krise – auch in Folge der seit dem Beginn der EWU aufgelaufenen Lohnstückkostenvorteile gegenüber dem EWU-Durchschnitt – als einigermaßen robust erwiesen hat. Andere Länder aber (Griechenland, Spanien, Portugal) haben verständlicherweise andere Problemwahrnehmungen und Prioritäten. Ihre Wirtschafts- und vor allem Beschäftigungsentwicklungen verbleiben nach der Krise – auch als Folge inverser Lohnstückkostennachteile, aber ebenso unzureichender konjunktureller Stimuli aufgrund eingeschränkter Haushaltsspielräume von 2009 bis 2010 – so schwach, dass weitere Austeritätsprogramme (zunächst erzwungen durch die Konditionalität der Liquiditätshilfen des EFSF/ESM, später perpetuiert durch die Bedingungen des ESWP) politisch kaum zu legitimieren sind und ökonomisch sicher nicht den Rahmen für dringend benötigtes Wachstum schaffen.

Und der Euro-Plus-Pakt widmet sich zwar einer Problemlage in der EWU – den nicht-nachhaltigen regionalen Leistungsbilanzungleichgewichten –, die bislang nur eine Minderheit der Ökonomen für die eigentliche realwirtschaftliche Ursache für die Krise in der Eurozone ansehen. Jedoch wird hier einseitig den Leistungsbilanzdefizitländern der Anpassungsdruck auferlegt. Mangels anderer Instrumente sind allein lohnpolitische Restriktion, sozialpolitische Mäßigung und arbeitsmarktpolitische Flexibilisierung als Handlungsperspektiven vorprogrammiert.

Weiterentwicklung des EU-Governance-Systems

Die E(W)U mag die gegenwärtige Krise noch einmal überstehen, ohne das von manchem Experten prophezeite,10 von anderen wohlwollend nahegelegte Auseinanderbrechen11 der Eurozone. Den dauerhaften Bestand der Währungsunion als weiteren Integrationsmotor kann das reformierte Governance-System deshalb nicht sichern, weil die Lehren der Krise, die wissenschaftlichen Analysen, aber auch historische Erfahrungen mit früheren (erfolgreichen und gescheiterten) Währungsunionen nicht hinreichend verarbeitet wurden: Eine monetäre Union erfordert die Begleitung durch eine politische Union. Oder anders: Eine supranationalisierte Geldpolitik benötigt eine wirtschafts- und finanzpolitische Steuerung, die nicht an einer vornehmlich national gebundenen Rationalität orientiert bleiben kann. Das dies nicht den undifferenzierten Ruf nach „mehr Europa“ auf allen Ebenen rechtfertigt, habe ich versucht darzulegen – es gibt aber andererseits Teilbereiche, die nicht ohne ökonomischen Effizienz- und politischen Legitimationsverlust in nationaler oder bloß intergouvernemental verhandelter Verantwortung verbleiben können. Dazu zählt die Fiskal- und Steuerpolitik ebenso wie die Rahmensetzung für die Lohn- bzw. Tarifpolitik und alle zusammen rechtfertigen den Ruf nach einer „Europäischen Wirtschaftsregierung“ als unitarischem Akteur, dem Steuererhebungs- und Gesetzgebungskompetenz genauso zugestanden, wie er demokratisch kontrolliert werden muss. Eine „Europäische Wirtschaftsregierung“ kann und muss dabei auf nationale Stabilisierungserfordernisse ebenso Rücksicht nehmen, wie es in föderalen Gebilden üblich und möglich ist (und selbstverständlich im die europäische Integration begleitenden Prozess der deutschen Einheit praktiziert wurde). Gleichzeitig impliziert ein einheitlicher kollektivvertraglicher Rechtsrahmen keineswegs eine zentrale (EU-weite) Verhandlungsebene, wohl aber die Einfriedung des Lohn- und Regulierungsdumpings.

Gewiss bedarf es noch der genaueren Ausgestaltung einer solchen „Europäischen Wirtschaftsregierung“ und seiner demokratischen Vorbedingungen. So könnte im Musgraveschen Sinne die Stabilisierungsfunktion der Finanzpolitik europäisiert werden, während die Allokationsfunktion auf nationaler (bzw. regionaler) Ebene verbleibt. Gleichzeitigt müssen Anreize und Verfahren dafür geschaffen werden, dass die Stabilisierungseffekte national (und regional) ebenso differenziert werden können, wie die durch positive Wachstumsimpulse ausgelösten Selbstfinanzierungseffekte einer solchen Politik angemessen auf die verschiedenen Bereitstellungsebenen verteilt werden. Wie wir aus föderalen Gebilden wissen, sind dies keineswegs triviale technische, sondern höchst polit(-ökonom)ische Aufgabenstellungen. Um hier zu akzeptablen Lösungen zu kommen, bedarf es vor allem einer veränderten Integrationslogik und -kultur.

  • 1 Vgl. J. Almunia: Foreword, in: European Economy, Nr. 2/2008.
  • 2 Tatsächlich sind zwei wesentliche Kritikpunkte gegen EFSF/ESM vorgebracht worden: Einerseits beharrt der harte Kern der Mainstream-Ökonomen darauf, dass eine solche Notfallfazilität („Rettungsschirm“) falsche Anreize setzt und insistiert auf Verfahren für „geordnete Staatsinsolvenzen“. Das Ausmaß der verabschiedeten Austeritätsprogramme in der Eurozone verweist diese Argumentation aber in das Reich der Ideologien, wobei „geordnete Staatsinsolvenzen“ in hochentwickelten Ländern ebenso unnötig wie ökonomisch unsinnig sind. Allenfalls wird damit – vielleicht die Intention der Kritiker – die weitere Verschuldungsmöglichkeit in der mittleren Frist für solche Länder verbaut. Die zweite Kritik betrifft das beschlossene Garantielimit des EFSF/ESM, das sich schnell als zu gering herausstellen kann und dann die Funktionsfähigkeit des Notfallverfahrens beschneidet. Diese Kritik betrifft aber offensichtlich nur die Ausgestaltung, nicht das Notfallverfahren an sich.
  • 3 Vgl. A. Heise: European Economic Governance – Wirtschaftspolitik jenseits des Nationalstaates, in: Wirtschaftsdienst, 85. Jg. (2005), H. 4, S. 230-237.
  • 4 Vgl. A. Heise: European Governance: Institutionelle Reformen nach der Krise; in: Wirtschaftsdienst, 91. Jg. (2011), H. 9, S. 634-642.
  • 5 Vgl. W. Koll, V. Hallwirth: Strengthening the Macroeconomic Dialogue to tackle economic imbalances within Europe, A. Watt, A.s Botsch (Hrsg.): After the crisis: Towards a sustainable growth model, Brüssel 2010, S. 139-143.
  • 6 Vgl. T. Schulten: Perspektiven des gewerkschaftlichen Kerngeschäfts: Zur Reichweite der Tarifpolitik in Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 13-13/2010, 29.3.2010, S. 36-40; ders.: Solidarische Lohnpolitik in Europa. Zur Politischen Ökonomie der Gewerkschaften, Hamburg 2004.
  • 7 Vgl. A. Heise: Theorie optimaler Lohnräume: Zur Tarifpolitik in der Europäischen Währungsunion, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, 71. Jg. (2002), H. 3, S. 368-383.
  • 8 Vgl. P. Bofinger: Grundlinien für eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts, in. Wirtschaftsdienst, 85. Jg. (2005), H. 1, S. 14-18; J. B. Donges et al.: Den Stabilitäts- und Wachstumspakt härten, Stiftung Marktwirtschaft, Berlin 2005.
  • 9 Vgl. P. Genschel, M. Jachtenfuchs: How the European Union Constraints the State: Multilevel Governance of Taxation, in: European Journal of Political Research, 50. Jg. (2011), H.3, S. 293-314.
  • 10 Vgl. H. Flassbeck: Woran die Eurozone zerbrechen wird, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 130 (4), 2011, S. 5-7.
  • 11 Vgl. D. Meyer: Stabilität durch Nord-Süd-Teilung der Währungsunion, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 130 (4), 2011, S. 19-21.

Bessere Governance durch mehr Flexibilisierung

Der europäische Integrationsprozess weist zahlreiche Wegmarken auf, die in jüngerer Vergangenheit in immer kürzeren Abständen gesetzt wurden. Diese Marken manifestieren sich nicht nur in Erweiterungsrunden, sondern auch in neuen Vertiefungsschritten, die allmählich den Charakter der EU und die Natur des Integrationsprozesses verändert haben. Dabei bedeutet Vertiefung gewöhnlich eine Vergemeinschaftung von Politikfeldern sowie eine zunehmende Übertragung politischer Kompetenzen auf die Europäische Kommission, den Europäischen Rat oder andere Akteure auf der europäischen Ebene.

Sowohl Vertiefungs- als auch Erweiterungsschritte überforderten zuweilen alte und neue Mitgliedsländer, oder sie standen nationalen Interessen entgegen. Dies führte oft zu Ausnahmeregelungen oder zu offenen oder versteckten Konflikten zwischen Mitgliedstaaten oder zwischen EU-Organen und nationalen Entscheidungsträgern, die dann häufig in (teilweise teure) nicht transparente Kompromisslösungen mündeten.

Die gegenwärtige Staatsschuldenkrise könnte sich als ein historischer Moment erweisen, der aufgrund der normativen Macht des Faktischen, aufgrund von Zeitdruck und scheinbarer Alternativlosigkeit neue Vertiefungsschritte zunächst temporär einleitet, die schließlich dauerhaften Charakter erhalten. Diese Krise könnte sich als „critical juncture“ erweisen, an der eine außergewöhnlich hohe Wahrscheinlichkeit für eine Veränderung oder Neuausrichtung des institutionellen Entwicklungspfades besteht – eine Situation, in der Akteure eine besondere diskretionäre Gestaltungsmacht erhalten, die sonst nicht besteht, und in der diese Akteure bereit sind, Regeln radikal zu ändern.

Zu denken ist in diesem Kontext nicht nur an die Rettungsschirme EFSF und ESM, sondern auch an wirtschaftspolitische Auflagen der Troika (bestehend aus EU, EZB und IWF), die Diskussion um einen EU-weiten Fiskalpakt und eine Wirtschaftsregierung sowie an Eurobonds oder die Schaffung einer Transferunion. Wenn es eine politische List gewesen sein sollte, über die Schaffung der gemeinsamen Währung eine politische Union zu erzwingen, dann ist dieser Schachzug möglicherweise nicht gänzlich gescheitert.1 Zwar ist eine solche Union nicht in Sichtweite, aber die Krise einzelner Länder ist zu einer Krise der EWU und der EU insgesamt geworden. Die beschlossenen und für die Zukunft diskutierten institutionellen Reformen deuten auf eine starke Zentralisierung von Entscheidungsbefugnissen und eine Harmonisierung von Rechtsnormen hin, die sich als weitere (wenn auch in dieser Form nicht geplante) Schritte in Richtung einer politischen Union erweisen könnten.

Die mit diesen Diskussionen verknüpften Maßnahmen sind kurzfristig auf die Krisenbekämpfung ausgerichtet, sollen aber zudem präventiv wirken und sind daher mit der Schaffung neuer und dem Umbau bestehender Institutionen verbunden. Dies dürfte eine weitere Kompetenzverlagerung auf EU-Organe implizieren mit nachhaltig negativen Folgen für die Qualität der europäischen Mehrebenen-Governance-Struktur.

Das Fehlen geordneter Verhältnisse

Die gegenwärtige Krise droht die EU in ihren Grundfesten zu erschüttern. Dies gilt sowohl für die Existenz der EWU in ihren derzeitigen Strukturen als auch für grundlegende Bausteine der EU. Dennoch scheinen die politischen Entscheidungsträger entschlossen zu sein, den Euro zu retten und die EU in hohem Tempo weiterzuentwickeln. Letzteres gilt nicht nur für die Fortsetzung ihres Erweiterungskurses, sondern auch für eine rasche Umsetzung weiterer Vertiefungsschritte. Möglicherweise übt die gegenwärtige Krise gar eine Katalysatorfunktion in dieser Hinsicht aus, da sie die politisch Handelnden unter Zugzwang setzt, rasch ökonomisch gebotene, aber auch von den Wählern erwartete und akzeptierte Lösungen vorzulegen. Der enorme Zeitdruck, unter dem dieser Prozess stattfindet, impliziert, dass in anscheinend immer kürzer werdenden Intervallen Teil(-kompromiss-)lösungen präsentiert werden, die sich rasch als nicht tragfähig erweisen und neue Verhandlungen und Maßnahmen erfordern. Die wenig transparente Adressierung eines hochgradig komplexen Problems unter Zeitdruck führt zu einem Muddling Through, durch das man (un-)beabsichtigt auf höhere Integrationsstufen gelangen wird – ein Prozess, der nur schwer revidiert werden kann.

Die Bekämpfung der Staatsschuldenkrise verläuft scheinbar wie in einem Zeitraffer, basiert aber auf den Verhandlungs- und Entscheidungsmechanismen, die man aus EU-Erweiterungs- oder Vertragsverhandlungen kennt. Selbst für informierte Beobachter sind diese Prozesse intransparent. Im gegenwärtigen europäischen Governance-System gibt es keine klare ordnende Potenz und kein System akzeptierter und durchgesetzter Regeln, wie bei Vertiefungs-, Erweiterungs- oder Krisensituationen zu verfahren ist.2 Die sich ergebenden diskretionären politischen Spielräume mögen in manchen Situationen schnell und flexibel genutzt werden können, eröffnen aber gleichzeitig Gelegenheiten für politische Willkür, Stimmentausch und Rent Seeking. Das Fehlen einer Ordnung hinsichtlich des weiteren EU-Integrationsprozesses schwächt die Glaubwürdigkeit der Politik, erhöht die Unsicherheit der Bürger und verringert die Akzeptanz der EU zumindest in den Nettozahler-Ländern.

Bad Governance in der EU? Übertriebene Regulierung und Zentralisierungstendenzen

Die rasante Entwicklung seit Inkrafttreten des Maastricht-Vertrages und den sogenannten Osterweiterungen hat sichtbare Spuren hinterlassen. Die Spanne zwischen armen und reichen Mitgliedstaaten ist größer geworden, grenzüberschreitende Probleme nehmen zu, Verteilungsprobleme verschärfen sich und (wirtschafts-)politische Konflikte treten offen zutage. Seit langem wird eine übertriebene Regulierung durch die EU beklagt, Zentralisierungstendenzen werden beobachtet, und eine übermäßige Harmonisierung der Politik befürchtet und von vielen bereits gesehen.

In einem viel beachteten Aufsatz fassten Roman Herzog, Frits Boltkestein und Lüder Gerken viele dieser Aspekte treffend zusammen:3 Sie kritisieren nicht nur den Umstand, dass jedes EU-Land seinen (eigene Interessen vertretenden) Kommissar hat (und gemäß Lissabon-Vertrag auch behalten wird), sondern auch das sogenannte „Spiel über Bande“, nach dem nationale Akteure ihre Partikulärinteressen, die sie nicht auf nationaler Ebene realisieren können, über Einwirkung auf die Europäische Kommission durchzusetzen suchen. Dieser Aspekt gewinnt noch an Bedeutung, wenn man bedenkt, dass mehr als 15 000 Lobbyisten in Brüssel aktiv sind. Herzog et al. bemängeln ferner europäische Gesetzgebungsverfahren, weil sie mehr als 80% der nationalen Rechtsakte (etwa in Deutschland) determinieren und gewöhnlich Kompromisslösungen zwischen Ministerrat, Europäischem Parlament, Kommission und Mitgliedstaaten darstellen und angesichts der Vielzahl widerstreitender Interessen tendenziell zu viele Regulierungen produzieren. Die weniger strikte Ausgestaltung der Abstimmungsregeln im Ministerrat, die im Vertrag von Lissabon verankert worden ist, mag dazu beitragen, dieses Problem zu entschärfen, seine Beseitigung ist nicht in Sicht.

Kritiker sehen für die Zukunft einen Anstieg von EU-Regulierung und Einflussnahme auf die nationalstaatliche Ebene, die verstärkt z.B. in der Sozial-, Arbeitsmarkt-, Steuer- und Hochschulpolitik, aber auch in den Bereichen Schulpolitik, Ausbildung und sogar Nahverkehr wirksam werden könnten. Diese und andere Beispiele belegen, dass die EU gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt. Fallen aber lokale oder nationale Probleme in die Regelungs- und Politikkompetenz auf supranationaler Ebene, verwundert es nicht, wenn die daraus folgende Regulierung nicht auf die Präferenzen der Betroffenen zugeschnitten ist und zu Akzeptanzproblemen bei Bürgern und Vertretern der privaten Wirtschaft führt.

Ähnlich verhält es sich beim Umgang mit der aktuellen Staatsschuldenkrise. Die Notwendigkeit, rasch einen Schutzschirm aufzuspannen, impliziert weit reichende Entscheidungen hinsichtlich des Aufbringens finanzieller Mittel, der Gewährung von Garantien und der Haftungsübernahme. Dass die Haftenden nicht immer die Verursacher der Probleme sind, könnte als konstituierendes Element einer Solidargemeinschaft angesehen werden. Dann wäre es allerdings erforderlich, dass alle Beteiligten die geltenden Regeln kennen und gesichert ist, dass diese auch eingehalten werden. Dies ist in der Geschichte von EU und EWU häufig nicht der Fall gewesen. Man denke nur an die wiederholte und nicht sanktionierte Verletzung des Stabilitätspaktes oder an die Nicht-Einhaltung der Bailout-Klausel.

Die Lösung der gegenwärtigen Probleme impliziert die Schaffung neuer zentralisierter Institutionen. Des Weiteren verknüpft die Troika Hilfszusagen an Krisenländer mit Konditionalitäten in Form umfassender Sparprogramme und Strukturreformen, die kaum auf länderspezifische Besonderheiten oder gewachsene Strukturen Rücksicht nehmen. Das daraus entstehende Phänomen kennt man seit langem aus der Entwicklungsländerforschung als „lack of ownership of reforms“. Wenn aber weder die betroffene Regierung noch die Bevölkerung die Reformen als ihre eigenen ansehen, dann formiert sich Widerstand, und die Maßnahmen werden gar nicht oder halbherzig durchgeführt.

Als Folge dieser Erscheinungsformen von Bad Governance sinkt die Akzeptanz für das Krisenmanagement auf Seite der Haftungsgemeinschaft und in den Krisenländern. Dies verstärkt die ohnehin bestehenden Legitimitätsprobleme der EU, die Glaubwürdigkeitsdefizite ihrer Politiker und die Akzeptanzprobleme auf Seiten der Bevölkerung.

„It’s time to agree to differ!“

Dieses Postulat des Economist4 aus dem Jahr 2000 ist heute genauso aktuell wie damals. Durch die EU-Erweiterungen ist die bestehende Heterogenität verstärkt worden. Die Mitglieder unterscheiden sich hinsichtlich ihrer politischen Institutionen, Prozesse und Zielsetzungen, bezüglich der ökonomischen Strukturen und finanziellen Restriktionen und auch in bezug auf gesellschaftliche Präferenzen. Dies zeigt sich z.B. in unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen. Während einige Länder wie Großbritannien den sogenannten liberalen Marktwirtschaften zuzuordnen sind, finden sich andere in der Gruppe der sogenannten koordinierten Marktwirtschaften (z.B. Deutschland, Österreich), und wiederum andere bilden einen eigenen, institutionell eher hybriden Cluster (wie die Mittelmeerländer).5 Ferner existieren Unterschiede nicht nur in den Produktions-, sondern auch in den Sozialsystemen. Die sogenannten sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten vornehmlich in Skandinavien unterscheiden sich signifikant von den konservativen Wohlfahrtsstaaten in der Mitte des Kontinents und noch mehr von den liberalen Regimen in den angelsächsischen Ländern.6 Dabei ist festzustellen, dass sich diese Produktions- und Sozialregime zwar im Zeitverlauf verändern und sich an post-industrielle Entwicklungen oder Globalisierungstrends anpassen, aber in der Regel ihre Eigenarten beibehalten. Es ist keine Vereinheitlichungstendenz zu einem Best-Practice-Modell zu erkennen.7 Diese Beharrungstendenzen sind mit Pfadabhängigkeiten, aber auch mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Präferenzen, wie sie sich z.B. in der Sozial-, der Umwelt- oder der Landwirtschaftspolitik zeigen, zu begründen.8 Des Weiteren weisen gerade die nicht-hybriden Systeme institutionelle Komplementaritäten auf, die regime- bzw. landesspezifische komparative Vorteile begründen. Radikaler institutioneller Wandel würde solche Komplementaritäten zerstören, individuelle Anpassungsfähigkeiten überfordern und effizienzmindernd wirken. Aus diesen Gründen ist eine One-Size-Fits-All-Strategie aus Sicht der betroffenen Länder nicht wünschenswert und kontraproduktiv für die EU als Ganzes.9

Glaubwürdigkeit und Akzeptanz durch Subsidiarität

Grundsätzlich hat sich die EU in Art. 5, Abs. 3, EUV dem Subsidiaritätsprinzip verschrieben. Subsidiarität wird zwar von Politikern, Wissenschaftlern und Bürgern in verschiedenen Staaten (und auf europäischer Ebene) unterschiedlich interpretiert, aber als kleinster gemeinsamer Nenner darf angenommen werden, dass es um die Aufteilung von Politikkompetenzen alternativ auf die supranationale (bzw. inter-gouvernementale) oder die nationalstaatliche Ebene geht (und in manchen Ländern auf Ebenen darunter).

Subsidiarität kann effektiv dazu beitragen, ordnungspolitische Verfehlungen auf höchster Ebene zu vermeiden, die Logik des politischen Stimmentauschs zu durchbrechen, den politischen Wettbewerb als Entdeckungsverfahren für innovative institutionelle Arrangements in einer heterogenen Union zu fördern und nationale Regierungen zu disziplinieren. Subsidiarität ist ein geeigneter Mechanismus, um unterschiedlichen Bürgerpräferenzen Rechnung zu tragen und Möglichkeiten zu erforschen, wie mit Chancen und Risiken umzugehen ist, die von Land zu Land anders aussehen. Die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips würde die Akzeptanz politischer Entscheidungen auf der Seite der Bürger erhöhen. Wenn das Subsidiaritätsprinzip einschließlich geeigneter Durchsetzungsinstrumente fest in einer europäischen Wirtschaftsverfassung verankert wäre, würde die Glaubwürdigkeit europäischer und nationaler Entscheidungsträger steigen, da ihre diskretionären Entscheidungsspielräume verengt, ihre Rechenschaftspflicht erhöht und ihre Kompetenzen eindeutig geregelt würden. In der Realitität spielt das Subsidiaritätsprinzip jedoch keine zentrale Rolle.

Bessere Governance erfordert Flexibilisierung und adaptive Effizienz

Die Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips in der EU ist eine notwendige Bedingung für die Erhöhung der Governance-Qualität. Dies würde Ad-hoc-Entscheidungen bei Erweiterungs- und Vertiefungsfragen reduzieren, eine regelgeleitete Flexibilisierung des Integrationsprozesses ermöglichen und helfen, Krisen zu verhindern.

Das Prüfkriterium für EU- bzw. nationalstaatliche Zuständigkeit sollte sein, ob Probleme grenzüberschreitenden Charakter haben. Ist dies nicht der Fall, ist die (sub-)nationale Jurisdiktion zuständig. Andernfalls wäre zu prüfen, ob alle Mitgliedsländer betroffen sind. Ist dies nicht der Fall, ist zu untersuchen, ob die Betroffenen durch Zusammenarbeit das Problem ohne die EU lösen können. Erst wenn dies nicht zutrifft, sollte ein Problem in die Zuständigkeit der EU-Organe gelangen. Ein derartiges Prüfkriterium fehlt im Lissabon-Vertrag.

Grenzüberschreitenden Charakter haben Probleme grundsätzlich dann, wenn es sich um internationale öffentliche Güter oder externe Effekte handelt. Ausgehend vom Instrument der Verstärkten Zusammenarbeit (Art. 20 EUV sowie Art. 326 bis 334 AEUV) könnte eine regelgeleitete Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips durch die Kombination des Konzeptes der abgestuften und des Ansatzes der differenzierten Integration gelingen.10

Die abgestufte Integration steht für eine Vertiefungspflicht. Sie erlaubt kleineren Ländergruppen, in bestimmten Integrationsfeldern voranzuschreiten. Die zunächst integrationsunwilligen oder -unfähigen Staaten folgen nach bestimmten Vorgaben, wobei das angestrebte Ziel einheitlich ist. Ein Beispiel für diesen Integrationsweg ist die EWU mit den sogenannten Maastricht-Kriterien bzw. dem Stabilisierungs- und Wachstumspakt.

Die differenzierte Integration erlaubt kleinen Ländergruppen, in einzelnen Politikbereichen ohne Vertiefungspflicht zu kooperieren. Die Mitglieder der jeweiligen Clubs bestimmen Verfahren, Ziele und Tempo der Zusammenarbeit. Außenstehende hätten keine Mitentscheidungsrechte, könnten aber zu einem späteren Zeitpunkt teilnehmen. Diese Art der differenzierten Integration ähnelt der Idee des Instrumentes der Verstärkten Zusammenarbeit, ginge in der Realität aber weit darüber hinaus. Die EU wäre als Club zu verstehen, der seinen Mitgliedern öffentliche Güter (wie den Binnenmarkt) zur Verfügung stellt. Aufgrund der Heterogenität bietet die differenzierte Integration die Möglichkeit, kleinere Clubs innerhalb der EU zu schaffen, in denen Länder (oder gar Regionen) grenzüberschreitend in den Politikfeldern zusammenarbeiten, in denen sie gemeinsame Interessen aufweisen und die keine EU-weite Dimension haben.11

Eine Vertiefungspflicht erscheint bezüglich der Bereitstellung supranationaler (EU-weiter) öffentlicher Güter oder bei Existenz EU-weiter externer Effekte sinnvoll. In diesen Fällen ist zu erwarten, dass die Nutzen aus der Internalisierung externer Effekte und der Ausnutzung von Skaleneffekten entstehende Präferenzkosten, die aus harmonisierten Politiken bei heterogenen Präferenzen resultieren, übersteigen. Zu denken wäre vor allem an die Wettbewerbs- und Außenhandelspolitik, eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik, Bereiche der Umweltpolitik sowie eine gemeinsame Geldpolitik und subsidiäre Fiskalregeln für die EWU.12 Keine Vertiefungspflicht, aber eine Vertiefungsoption wäre für die Politikfelder zu empfehlen, bei denen der Saldo negativ wäre. Dies würde z.B. Bereiche wie die Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, die regionale Wirtschaftsförderung und sektorspezifische Politikmaßnahmen betreffen.

Im Verbund könnten beide Konzepte dazu beitragen, Rücksicht auf länderspezifische Heterogenitäten zu nehmen und das Subsidiaritätsprinzip durchzusetzen. Darüber hinaus eröffnet eine derartige Strategie politische Freiheitsgrade für nationale (und lokale) Jurisdiktionen, die individuell oder in kleineren Zusammenschlüssen genutzt werden können, den Wettbewerb unterschiedlicher Regelsysteme fördern und dadurch Anreize setzen, die Qualität nationaler und lokaler Regelwerke zu verbessern.

Ein solches institutionelles Rahmenwerk würde Zentralisierungs- und Harmonisierungstendenzen begrenzen und notwendige Flexibilität schaffen, ohne EU-Mitgliedschaften zweiter Klasse oder ein Europa à la carte entstehen zu lassen. Der skizzierte Ansatz würde das institutionelle Rahmenwerk, in dem sich die Integration vollziehen würde, adaptiv effizient machen, indem alternative, unter Umständen im Wettbewerb zueinander stehende Politikmodelle dezentral auf ihre Funktionsfähigkeit und Akzeptanz getestet würden. Wettbewerb zwischen Clubs oder nationalen Regelsystemen ermöglicht innovative, nicht nur sequentielle, sondern parallel verlaufende gesellschaftliche Lernprozesse. So wird rasch festgestellt, welche Lösungen zielführend sind. Die Chancen für institutionelle Innovationen steigen, deren Risiken sinken. Schließlich kann ein solcher dezentraler Institutionenwettbewerb schneller auf Veränderungen von Problemen und Präferenzen reagieren. Der Wettbewerb und die damit einhergehende institutionelle Innovationsdynamik würden dazu beitragen, erkannte politische Fehler eher zu revidieren, da keine verflochtenen Politikkartelle dem entgegenstünden.13

Ein derartiges Konzept für eine flexiblere EU-Integration würde sich nicht von selbst durchsetzen. Es erfordert eine vertragliche Verankerung und klare Regeldurchsetzung. Dazu bedarf es Meta-Institutionen oder Subsidiaritätswächter. Zu denken wäre etwa an den Europäischen Gerichtshof, der aber möglicherweise eigenen Interessen verhaftet ist. Unter Umständen könnten nationale Verfassungsgerichte effektivere Wächterarbeit leisten, wie die Entscheidungen des deutschen Verfassungsgerichtes belegen. Darüber hinaus könnten nationale Parlamente und Regierungen, aber auch die Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen als Subsidiaritätswächter agieren. Ferner ist die Kompetenz-Kompetenz in einer europäischen Wirtschaftsverfassung eindeutig zu regeln. Schließlich bedarf der Prozess der europäischen Integration ein weitaus größeres Maß an Öffentlichkeit, durch den die Bürger selbst beginnen, ihre Rechte einzufordern.

  • 1 Vgl. M. Wohlgemuth: Wirtschaftsverfassung statt Wirtschaftsregierung, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 3, S. 153 f.
  • 2 Dies gilt selbst für EU-Erweiterungen. Obwohl der vollständige Acquis Communautaire vom neuen Mitgliedsland vor dem Beitritt implementiert werden soll, gibt es in der Realität nicht zuletzt aus politischen Gründen zahlreiche Abweichungen.
  • 3 Vgl. R. Herzog et al.: Die EU schadet der Europa-Idee, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.1.2010; http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftswissen/bruesseler-institutionen-die-eu-schadet-der-europa-idee-1906033.html (28.3.2012).
  • 4 Vgl. Economist vom 5.10.2000; http://www.economist.com/node/387483 (28.3.2012).
  • 5 Siehe dazu die Literatur zum Varieties-of-Capitalism-Ansatz und stellvertretend P. A. Hall, D. Soskice (Hrsg.): Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage, New York 2001.
  • 6 Vgl. G. Esping-Andersen: Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton, NJ 1990; vgl. I. J. Schustereder: Welfare State Change in Leading OECD Countries. The Influence of Post-Industrial and Global Economic Developments, Wiesbaden 2010, hinsichtlich einer Untersuchung, ob und wie sich die genannten Regime-Typen im Zuge von Globalisierungsprozessen verändern.
  • 7 Vgl. I. J. Schustereder, a.a.O.
  • 8 Vgl. J. Ahrens, R. Ohr, G. Zeddies: The perspectives of common policies in an increasingly heterogeneous European Union, in: Jahrbuch für Wirtschaftswissenschaften/Review of Economics, 58. Jg. (2007), H. 2.
  • 9 Vgl. P. A. Hall, D. Soskice, a.a.O.
  • 10 Die nachfolgenden Überlegungen stammen aus: J. Ahrens, M. Meurers, C. Renner: Spannungen im europäischen Mehrebenensystem durch heterogene Präferenzen: Zur Notwendigkeit einer flexibleren Integrationsstrategie der EU, in: R. Ohr (Hrsg.): Europäische Union ohne Grenzen, Berlin 2007, S. 56 f.
  • 11 Vgl. M. Wohlgemuth: 50 Jahre Europäische Ordnungspolitik: ordnungs- und konstitutionenökonomische Anmerkungen, in: ORDO, Bd. 59, 2008; J. Ahrens, H. W. Hoen, R. Ohr: Deepening Integration in an Enlarged EU: A Club-Theoretical Perspective, in: Journal of European Integration, 27. Jg. (2005), H.4.
  • 12 Zum letzten Aspekt siehe den interessanten Vorschlag von D. Snower, J. Burmeister, M. Seidel: Regelgebundene Fiskalpolitik und Schuldenkommissionen, in: Wirtschaftsdienst, 91. Jg. (2011), H. 11, S. 751-758.
  • 13 Vgl. M. Wohlgemuth, a.a.O.

Austerität oder Innovation? Perspektiven einer nachhaltigen europäischen Wirtschaftspolitik

Die im Rahmen der Finanzkrise geäußerten Erwartungen, dass die Politik die Finanzmärkte stärker einhegt, haben sich nicht bestätigt. Weder auf nationaler, noch auf supranationaler Ebene kam es zu einer umfassenden Regulierung der Finanzmärkte, die auf die Herstellung des oft apostrophierten „Primats der Politik“ hingewiesen hätte. Ganz im Gegenteil: die Finanzkrise hat aufgrund umfangreicher staatlicher Stabilisierungsbemühungen mit weitreichenden Marktinterventionen zu einer Fiskalkrise der öffentlichen Haushalte im atlantischen OECD-Raum geführt. Die europäische Schulden- und Währungskrise lässt sich als besondere Ausprägung dieser Tendenzen verstehen. Aus der fiskalischen Überlastung des Staates entstehen Legitimationsprobleme, die sich durch die Verengung der politischen Handlungsfähigkeit im Rahmen fortdauernder Austeritätsprogramme weiter verschärfen. An diesem Punkt wird die Neugestaltung wirtschaftspolitischer Governance-Mechanismen zur Ausgangsbedingung eines nachhaltigen europäischen Wachstumsmodells, das Auswege aus der Krise bieten könnte. Die Demokratisierung der ineinander verschränkten politischen und ökonomischen Systeme spielt dabei eine zentrale Rolle.

Von der Finanzkrise zur Krise der europäischen Integration

Die Volkswirtschaften der Europäischen Union sind den vielschichtigen Effekten einer kombinierten Finanz-, Fiskal- und Währungskrise ausgesetzt, deren ökonomische, soziale und politische Folgen noch nicht absehbar sind, auch wenn es offensichtlich ist, dass die Ursachen dieser kombinierten Krise weiterhin primär im Finanzsektor zu suchen sind.1 Angesichts der anhaltenden Debatten um angemessene politische Lösungswege zur Klärung dieser Lage kann auch von einer Krise der europäischen Integration gesprochen werden – kaum dass das an nationalen Referenden und Parlamenten gescheiterte Projekt einer europäischen Verfassung in provisorische Vertragskonstrukte umgewidmet worden war. Im Kern dieser Debatten geht es um das Verhältnis von Staat und Markt, respektive von öffentlich verhandelter Demokratie und privat koordinierten Marktprozessen. Dabei lässt sich diese Trennung kaum transparent aufrechterhalten. Demokratische Entscheidungsfindung bindet private Akteure systematisch ein, während die von der Finanzkrise betroffenen Märkte und Marktakteure ohne öffentliche Interventionen und auch symbolisch relevante Stützungsleitungen kaum funktionsfähig geblieben wären.

Tatsächlich hat der rapide Anstieg der Staatsverschuldung, der ab 2008 mit den umfassenden Stabilisierungspakten für den Finanzsektor einsetzte, dazu geführt, dass auch vor dem Hintergrund der unter Druck geratenen Währungsunion ein umfangreiches Schuldenmanagement etabliert wurde. Neben Griechenland waren auch Portugal, Spanien, Italien und Irland in unterschiedlichem Ausmaß als Schuldnerstaaten von diesen Verhandlungen betroffen, die im Herbst und Winter 2011 zu weitreichenden Vereinbarungen führten. Dabei haben sich die als Schuldner auftretenden europäischen Nationalstaaten und die als Gläubiger auftretenden privaten Akteure des Finanzsektors an Verhandlungen über Zahlungsgarantien und Umstrukturierungen beteiligt, die einem anhaltenden Vertrauensverlust entgegenwirken sollten – wobei involvierte Regierungen wie die Frankreichs und Deutschlands durchaus auch Interessen ihrer Privatgläubiger gegenüber anderen Staaten wahrgenommen haben.

Der Übergang von der Schuldengemeinschaft zur Transferunion erfolgt über die kollektive Gewährleistung des Schuldendienstes. Hierbei kommen sogenannte „Rettungsschirme“ zum Einsatz, die potenziell insolvente Staaten stützen, damit aber letztlich öffentliche Mittel zur Rückzahlung an private Gläubiger umverteilen. Zugleich werden in den Schuldnerstaaten strikte Sparprogramme verkündet – auch dies mit dem Ziel, eine optimistische Erwartungshaltung bei den Gläubigern zu erzeugen und zugleich anfallende Refinanzierungskosten zu stabilisieren. Zudem dienen diese Sparmaßnahmen einer Beschwichtigung jener Staaten, aus deren öffentlichen Mitteln die Finanztransfers bestritten werden. Institutionelle Sicherungen einer glaubhaft selbstverpflichteten Sparpolitik lassen sich auf nationalstaatlicher Verfassungsebene über eine „Schuldenbremse“ umsetzen. Entsprechende intergouvernementale oder supranationale Kollektivregelungen würden allerdings unmittelbar die staatliche Haushaltssouveränität angreifen – und damit ein Kernelement moderner Staatlichkeit.

Eine europäische Finanz- und Transferunion?

Diese implizite Transformation der Europäischen Union in eine partielle Finanz- und Transferunion, die im Maastrichter Vertrag noch explizit ausgeschlossen worden war, folgt letztlich aus den ungeklärten Fragen um das Selbstverständnis der europäischen Integration. Während die Währungsunion des Maastrichter Vertrages eine unabhängige Zentralbank vorsah, ging eine weiterführende Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik im Rahmen einer Regelbindung nur schleppend voran; von einer faktischen Harmonisierung oder gar einer gemeinsamen „Wirtschaftsregierung“ wurde letztlich abgesehen. Vor diesem Hintergrund muss die Währungsunion, die es den einzelnen Volkswirtschaften verwehrt, über Währungsabwertungen die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen zu stimulieren, auf Ausgleichsmechanismen zurückgreifen, um massive Diskrepanzen in den wirtschaftlichen Leitungsprofilen abzubauen. Im nationalen Rahmen kennt etwa die Bundesrepublik Deutschland das System des Länderfinanzausgleichs; die Europäische Union sucht ähnliche Angleichungseffekte über ihre Strukturfonds zu bewerkstelligen. Die europäische Finanz- und Transferunion geht über diese in Mitteln und Verwendung begrenzten Fonds hinaus, indem sie zur Sicherung des Schuldendienstes einen innereuropäischen Finanzausgleich unter Bedingungen fiskalischer Austerität organisiert. Dass dies nur unter Aufhebung fiskalischer Souveränität umzusetzen ist, verweist wiederum auf die ungeklärte Frage der Staatlichkeit des europäischen Integrationsprojekts.

Aktuell erscheint die Europäische Union als provisorische „Austeritätsgemeinschaft“, die sich zur Konsolidierung der Wirtschafts- und Währungsunion – auch unter Einbezug internationaler Akteure wie des Internationalen Währungsfonds – auf ein gemeinsames Programm des Schuldenabbaus verständigt hat.2 Dass dieses Austeritätsparadigma die Inkonsistenzen und Widersprüche der europäischen Integration weiter verschärft, zeigt sich anhand der Vielzahl offener Probleme im institutionellen Gefüge des Integrationsprozesses. Hierzu gehört das wirtschaftspolitische Sonderverhältnis der Euroländer zueinander, aber auch die zukünftige Rolle der Europäischen Zentralbank als wirtschaftspolitisch gestaltendes Organ sowie die entsprechende Rolle der Parlamente im europäischen Mehrebenensystem. Dass auch die Kommission eine neue Rolle als wirtschaftspolitischer Impulsgeber finden muss, liegt auf der Hand; hier greift das Stichwort von der notwendigen Reform der europäischen Governance-Strukturen im Umgang der Mitgliedstaaten untereinander, mit der Kommission, und mit den anderen Organen der Union.3 So zeigt sich die Widersprüchlichkeit der ökonomischen und politischen Logiken des Integrationsprozesses, die sich in den Problemfeldern der Wirtschafts- und Währungsunion und der supranationalen Demokratisierung artikulieren.

Von der Wettbewerbsfähigkeit zur Austerität

Fragt man danach, warum es nahezu reibungslos gelungen ist, das wirtschaftspolitische Leitbild der Austerität als scheinbar alternativlose Lösung der Finanz- und Fiskalkrise zu platzieren, dann wird deutlich, dass die Politik der Austerität als aktuelle Fortsetzung eines angebotspolitisch verkürzten Paradigmas der Wettbewerbsfähigkeit und der Strukturanpassung dient – wobei Motive zur Staatsverschuldung der 1980er Jahre und der Reform des Wohlfahrtsstaates der 1990er Jahre aufgegriffen werden. In diesem Sinne liegt kein wirtschaftspolitischer Paradigmenwechsel vor; vielmehr wäre eine diskursive Verschiebung zu diagnostizieren. Tatsächlich wird das Ziel der Wettbewerbsfähigkeit seit den 1990er Jahren auf internationaler Ebene vor allem von der OECD propagiert – hier primär im Einklang mit einer globalisierungs- und technologiebedingten Transformation moderner Industriegesellschaften zu Wissensgesellschaften, die ihre Wirtschaftstätigkeit auf Lernen und Innovation gründen. Im Unterschied dazu bezieht sich der europäische Diskurs deutlicher auf Aspekte staatlicher Gestaltungsoptionen in der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Umsetzung der neuen Leitbilder.4 So ist das Leitbild der Wettbewerbsfähigkeit von einem Diskurszusammenhang geprägt, der die Absicherung der Wirtschafts- und Währungsunion im Einklang mit den Erfordernissen außenwirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit propagiert.

Die dabei umrissenen Anpassungsmaßnahmen erscheinen als scheinbar alternativlose Maßnahmen im globalen Standortwettbewerb. Entsprechende Politikdiskurse spielen hierbei im Sinne der Konstruktion und Vermittlung politisch wirksamer Bedeutungen eine zentrale Rolle, da sie ein gesellschaftliches Handlungsfeld markieren. Das heißt, dass wirtschaftspolitische Diskurse als Form politischer Kommunikation einen normativen Gehalt artikulieren, der dazu angetan ist, unpopuläre Politikmaßnahmen zu rechtfertigen. Allerdings sind dabei die nationalen Spezifika solcher Diskurse zu berücksichtigen, die in ihrem argumentativen Gehalt die institutionelle und kulturelle Vielfalt der nationalen Varianten marktwirtschaftlicher Systeme reflektieren.5 Dies lässt sich anhand der Debatten um die Reform des Wohlfahrtsstaates nachvollziehen. Entsprechende „politics of retrenchment“ gehen keinesfalls mit radikalen Politikwechseln einher, sondern spiegeln den historischen Gehalt nationaler Politiktraditionen, die das Terrain der Reformprozesse und ihrer pfadabhängigen Ausrichtung markieren.6 Kernmotive solcher Reformprogramme beziehen sich vor allem auf den legitimatorischen Aspekt der Herstellung internationaler Wettbewerbsfähigkeit als Manifestation eines globalisierungsbedingten Außendrucks, der von internen Problemen wie demographischem Strukturwandel begleitet wird. Die europäische Beschäftigungspolitik des Luxemburg-Prozesses und die mit ihr seit Ende der 1990er Jahre verbundene aktivierende Sozialpolitik können als Ausdruck dieser Motivlage aufgefasst werden.7

In diesem Sinne repräsentieren die am Leitbild der Wettbewerbsfähigkeit orientierten Reformen des Wohlfahrtsstaates eine „Politik für den Markt“, wobei politische Elemente des „market-making“ zur Vollendung des Gemeinsamen Marktes im Vordergrund stehen, begleitet von der Positionierung der Europäischen Union im Weltmarktgefüge.8 Zugleich impliziert die Diskussion zur Reform des Wohlfahrtsstaates einen Wandel im Verständnis von Staatsaufgaben und politischer Steuerung, wie er in bestimmten Strängen der Governance-Diskussion um die Effizienzsteigerung in Politik und Verwaltung als Ausdruck einer institutionellen Transformation der Staatlichkeit vorgetragen wird. Damit hat das Paradigma der Wettbewerbsfähigkeit einen maßgeblichen Beitrag zum Wandel politischer Steuerungsformen geleistet.9 Auch die aktuelle Umsetzung der europäischen Austeritätsprogramme greift auf diesen bereits eingeleiteten Wandel politisch-administrativer Governance-Mechanismen zurück.

Neue Governance-Mechanismen

Die Durchsetzung neuer Governance-Mechanismen ist zunächst auf der nationalstaatlichen Ebene zu verorten. So trennt das in der Wohlfahrtsstaatsforschung geläufige Konzept des „aktivierenden Staates“ eine staatliche Gewährleistungsverantwortung bei der Erstellung öffentlicher Güter von einer Finanzierungs- und Vollzugsverantwortung, die auch an Private delegiert werden kann. Damit wird zugleich das Modell eines pragmatisch verfassten demokratischen Experimentalismus formuliert, das im Hinblick auf staatliche Handlungskapazitäten ein dezentrales Experimentieren mit Ideen und Ressourcen als Grundlage reflexiver Selbstregulierungsfähigkeit zulässt.10

Im Rahmen der europäischen Integration ist die zunächst vor allem zur Koordinierung nationaler Beschäftigungspolitiken eingesetzte „offene Methode der Koordinierung“ mit ihren entsprechend ausgestalteten dezentralen Politikexperimenten und ihrer institutionalisierten Diffusion von Lerneffekten und Politikinnovationen zu einem maßgeblichen Governance-Mechanismus im institutionellen Mehrebenen-System der Europäischen Union avanciert.11 Der Begriff der „offenen Methode“ impliziert das Setzen gemeinsamer Zielvorgaben bei variablen Modi der Zielerreichung seitens der Mitgliedstaaten. So wird die Heterogenität nationaler Modelle der Wirtschafts- und Sozialpolitik als Ausgangspunkt eines auf institutionelle Vergleiche und kontinuierliches Lernen setzenden Koordinierungspotenzials wahrgenommen.12 Andererseits wird kritisch eingewandt, dass die „offene Methode“ weitreichende Liberalisierungsprozesse formuliert, die dann vor allem gegen wohlfahrtsstaatliche Arrangements auf nationaler Ebene durchgesetzt werden sollen.13 Der dabei zum Tragen kommende Mechanismus institutionellen Wettbewerbs lässt sich dementsprechend als Ausdruck des politischen Leitbilds der Wettbewerbsfähigkeit interpretieren – mit weitreichenden Implikationen für das Spannungsverhältnis zwischen nationalen Variationen der Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Dieser Zusammenhang wird schon anhand der Kodifizierung dieser neuen Governance-Mechanismen auf dem Lissabonner Ratsgipfel 2000 deutlich. Der paradigmatische Zusammenhang mit dem Leitbild der Wettbewerbsfähigkeit ist bereits aus dem Thema dieses Sondergipfels ersichtlich: „Beschäftigung, Wirtschaftsreformen und sozialer Zusammenhalt – Für ein Europa der Innovation und des Wissens“. Die resultierende „Lissabon-Strategie“ formuliert die Zielsetzung, dass die Europäische Union innerhalb von zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu entwickeln sei. Kernmotiv dieser Strategie ist der anstehende Übergang zu einer „wissensbasierten Wirtschaft“, begleitet von Reformen zur Sicherung von Wettbewerbsfähigkeit und Innovationsdynamik sowie von Investitionen in Humankapital und soziale Kohäsion. Über internationales „Benchmarking“ und die Kommunikation von „Best-Practice-Ansätzen“ sollen dann institutionelle Optimierungsprozesse eingeleitet werden.14 Bezieht man diese Aspekte auf die wirtschaftspolitische Diskursebene, dann wird deutlich, dass die „offene Methode der Koordinierung“ maßgeblich dazu beiträgt, das Leitbild der Wettbewerbsfähigkeit in Aushandlungs- und Vermittlungsprozessen umzusetzen. Dabei wird Reformprozessen in besonders konfliktreichen Politikfeldern eine supranationale Legitimation verliehen. Für die Umsetzung der europäischen Austeritätsprogramme bedeutet das, dass sie auf hinreichend flexible Governance-Strukturen zurückgreifen können, die es potenziell erlauben, die Sachzwangdiskurse der Schuldenkrise in Kontinuität zum Thema der Wettbewerbsfähigkeit und der Strukturanpassung aufzusetzen. Allerdings ist es fraglich, ob sich über diese Maßnahmen ein nachhaltiges europäisches Wachstumsmodell entwickeln lässt.

Wirtschaftspolitische Perspektiven eines europäischen Wachstumsmodells

Die europäischen Austeritätsprogramme sind nicht nur auf die Bewältigung der Finanz-, Fiskal- und Währungskrise gerichtet, vielmehr beziehen sie sich auch auf langfristige Strategievorgaben zur Unterstützung eines nachhaltigen Wachstumsmodells. So vereinbarten die Staats- und Regierungschefs der Eurozone im März 2011 den Euro-Plus-Pakt, der ganz im Geiste der „offenen Methode“ dazu dienen sollte, gemeinsame wirtschafts- und fiskalpolitische Zielvorgaben zu formulieren und umzusetzen – allerdings ohne dass dabei bindendes EU-Recht zur Sprache käme. Neben den Aspekten des Schuldenabbaus und der Finanzmarktstabilisierung wurde auch auf das Motiv der Wettbewerbsfähigkeit verwiesen, ergänzt von Bezügen zur Wachstumsstrategie „Europa 2020“, die auf die soziale und ökologische Nachhaltigkeit eines innovationsgetriebenen Wachstumspfades setzt. Tatsächlich ist diese Ausrichtung auf ein neues Wachstumsmodell symptomatisch für die Krisensituation der europäischen Volkswirtschaften, denn es geht darum, einen wirtschaftspolitisch gangbaren Weg zu finden, der jenseits der gängigen Austeritätsvorgaben zu Einsparungen im öffentlichen Sektor weiterführende Möglichkeiten dafür aufzeigt, Einkommen, Beschäftigung und Wachstum zu schaffen. Innovation und Bildung werden hierbei als Schlüsselvariablen genannt.15

Nun wird von keynesianisch inspirierten Ökonomen darauf hingewiesen, dass der europäische Austeritätskurs kaum dazu geeignet sei, einen tragfähigen Wachstumspfad aufzuspannen, weil einseitige Sparmaßnahmen die notwendige Nachfragestimulierung blockieren würden.16 Allerdings geht die Frage der wirtschaftspolitischen Perspektiven eines nachhaltigen europäischen Wachstumsmodells über diese Aspekte hinaus, denn auch die von der Kommission geforderten Innovations- und Bildungsimpulse können kaum auf der Grundlage von Sparhaushalten gedeihen, die in den besagten Bereichen der Wissenschafts- und Bildungsförderung eingreifen. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Konzept der sozialen Marktwirtschaft wieder an Aktualität. Als sozialökonomischer Integrations- und Koordinationsmodus, der wirtschaftlichen Marktwettbewerb, politische Gestaltungsfähigkeit und soziale Kohäsion kombiniert, ist die soziale Marktwirtschaft in den Verfassungsdebatten der Europäischen Union prominent diskutiert worden.17 Eine auch demokratischen Prinzipen genügende Bewältigung der Finanz- und Fiskalkrise wird sich auf diese Zusammenhänge besinnen müssen.

  • 1 Vgl. W. Wittmann: Von der Finanzkrise zur Schuldenkrise, in: Jahrbuch für Wirtschaftswissenschaften, Bd. 62 (2011), S. 40-55.
  • 2 Vgl. J. Beckert, W. Streeck: Die Fiskalkrise und die Einheit Europas, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 4/2012, S. 7-17.
  • 3 Vgl. A. Ebner: European Governance, Policy Entrepreneurship, and the Discourse of Reform: An Institutionalist Assessment, in: International Journal of Public Policy, 5. Jg. (2010), H. 4, S.314-330.
  • 4 Vgl. A. Ebner: Die europäische Beschäftigungsstrategie in der Reform des Wohlfahrtsstaats – Aktive Arbeitsmarktpolitik, aktivierende Sozialpolitik und das Leitbild der Wettbewerbsfähigkeit, in: H. Peukert (Hrsg.): Keine Arbeit und so viel zu tun, Münster 2007, S. 195-217.
  • 5 Vgl. V. A. Schmidt: Values and Discourse in the Politics of Adjustment, in: F. W. Scharpf, V. A. Schmidt (Hrsg.): Welfare and Work in the Open Economy, Bd. I, Oxford 2000, S. 229-309.
  • 6 Vgl. P. Pierson: The New Politics of the Welfare State, in: World Politics, 48. Jg. (2000), H. 1, S. 143-179.
  • 7 Vgl. I. Dingeldey: Vom klassischen zum aktivierenden Wohlfahrtsstaat, in: K. Groh, C. Weinbach (Hrsg.): Zur Genealogie des politischen Raums. Politische Strukturen im Wandel, Wiesbaden 2005, S. 273-308.
  • 8 Vgl. S. Leibfried, P. Pierson: Halbsouveräne Wohlfahrtsstaaten. Der Sozialstaat in der europäischen Mehrebenen-Politik, in: S. Leibfried, P. Pierson (Hrsg.): Standort Europa: Europäische Sozialpolitik, Frankfurt a.M. 1998, S. 58-99.
  • 9 Vgl. J. Esser: Der kooperative Nationalstaat im Zeitalter der „Globalisierung“, in: D. Döring (Hrsg.): Sozialstaat in der Globalisierung, Frankfurt a.M. 1999, S. 117-144.
  • 10 Vgl. W. Lamping, H. Schridde: Der „Aktivierende Sozialstaat“ – ordnungs- und steuerungstheoretische Aspekte, in: S. Lütz, R. Czada (Hrsg.): Wohlfahrtsstaat – Transformation und Perspektiven, Wiesbaden 2005, S. 39-65.
  • 11 Vgl. A. Ebner: European Governance, Policy Entrepreneurship, and the Discourse of Reform: An Institutionalist Assessment, in: International Journal of Public Policy, 5. Jg. (2010), H. 4, S. 314-330.
  • 12 Vgl. D. Hodson, I. Maher: The Open Method as a New Mode of Governance. The Case of Soft Economic Policy Coordination, in: Journal of Common Market Studies, 39. Jg. (2001), H. 4, S. 719-746.
  • 13 Vgl. F. Scharpf: The European Social Model: Coping with the Challenges of Diversity, in: Journal of Common Market Studies, 40. Jg. (2002), H. 4, S. 645-670.
  • 14 Vgl. Europäischer Rat: Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat: Tagung am 23. bis 24.3.2000 in Lissabon, Pressemitteilung 24.3.2000, Nr. 100/1/00, Luxemburg 2000.
  • 15 Vgl. European Commission: Europe 2020. A Strategy for Smart, Sustainable and Inclusive Growth, Brüssel 2010.
  • 16 Vgl. L. Alderman: Summers Urges Europeans Not To Neglect Growth, New York Times, 9.3.2012.
  • 17 Vgl. A. Ebner: The Intellectual Foundations of the Social Market Economy: Theory, Policy and Implications for European Integration, in: Journal of Economic Studies, Bd. 33, Nr. 3, 2006, S.206-223.

Neoliberale Vereinheitlichung der EU versus Vielfalt und Resilienz, Innovation und Demokratie

Europa ist nach dem Ende des Mittelalters in der historischen Kette säkularer Auf- und Abstiege von Machtsystemen global beherrschend geworden mit einer systemischen Konstellation von Technologien und Kultur, die zum ersten Mal den Aufbau globaler Machtsysteme ermöglichte. Noch im Jahre 1000 u.Z. lag das BIP pro Einwohner Europas nach cliometrischen Schätzungen nicht über denen der indigenen Hochkulturen Nord- und Mittelamerikas und unter denen Afrikas und Asiens. Und wie Aufstiege so kommen auch Abstiege in langen Wellen, wenn die alten systemischen Konstellationen durch bessere anderenorts überflügelt werden. Aber der Abstieg Europas ist in der aktuellen historischen Wendezeit geradezu physisch erfahrbar. Wir können fast täglich wahrnehmen, wie sich die Welt-Macht-Gewichte verschieben.

Diesen Prozess beschleunigt die EU heute selbst aktiv aufgrund der in ihr vorherrschenden antipragmatischen neoliberalen Glaubensbekenntnisse – vor allem des Glaubens daran, dass die vielzitierten „Strukturreformen“ vor allem Deutschlands (relative Lohnsenkung mit schneller Lohnquoten-Senkung, dynamische Umverteilung nach oben, autoritär-bürokratische Regulierung der unteren Arbeitsmarktsegmente, starke Beschränkung von Streikrecht, deutliche Steuerentlastung von Großeinkommen und -vermögen, von Erbschaften, Hedge Fonds und Ähnlichem) für alle gleichzeitig erfolgreich sein und alle nach diesem Vorbild – nach nur hinreichend langem und radikalem Aderlass – gleichermaßen wettbewerbsfähig werden könnten. Eine EU bestünde dann aus vielen kleinen „Deutschlands“, jeder ein Exportweltmeister, der 50% seines Sozialprodukts exportiert, während ihre konsumtiven Binnenmärkte allesamt vor sich hindümpeln. Solche Absurditäten des spät angelernten, aber besonders dogmatischen deutschen Neoliberalismus haben die Eurozone mit in eine fundamentale Krise geführt.

Der konsequente Gleichschritt der Austeritätsprogramme und der Maßnahmen, die die Ungleicheit der Verteilung verstärken, kollidiert auch zunehmend mit nationaler Souveränität und Demokratie – im Zuge eines erschreckend bürokratisch-autoritären EU-Überwachungs- und Bestrafungsmechanismus. Eine weitgehend beseitigte Vielfalt dürfte die systemische Resilienz der Eurozone gegen null tendieren lassen. Deutschland wird noch ein paar Jahre den Free Rider der Wachstumsanstrengungen Chinas und anderer Schwellenländer spielen können, bis die Chinesen auch jedwede Maschinen und Instrumente endgültig besser und billiger herstellen können. Dann wird auch in Deutschland das Exportmodell scheitern und die jahrelange Schwindsucht des deutschen Binnenmarktes nicht mehr zu kompensieren sein.

Und den aktuellen Spekulationswettlauf der Eurozone gegen die Finanzmärkte und ihre nervös-vagabundierende Mega-Finanzkraft kann der europäische Steuerzahler (einschließlich der Steuerzahler der nächsten ein bis zwei Generationen) schon rein quantitativ nicht gewinnen. Selbst wenn man den ESM auf zwei Billionen Euro aufstocken könnte. Die EZB, auf beiden Seiten (auf Staaten- wie Bankenseite) des Spekulationswettlaufs agierend, hat die Bankenseite nun allein innerhalb von drei Monaten mit über 1 Billion Euro neu versorgt. Ihr „quantative easing“ übersteigt längst das der Fed.

Vier Jahrzehnte neoliberaler staatlicher Organisation von Umverteilung nach oben

Seit fast 40 Jahren verteilen die neoliberalen Regierungen aller Couleur systematisch weg von vielen, hin zu wenigen. Die Instrumente dazu sind zum einen die Lohnentwicklung. Hier ist vor allem Deutschland, mit seinem „Exportweltmeister“-Paradigma nicht zufällig seit mehr als zehn Jahren der Weltmeister unter den Industrieländern der OECD. Vor allem die Hartz-Gesetze haben im internationalen Vergleich eine der größten bekannten Abstürze der Lohnquote verursacht. Diese sank allein von 2000 bis 2007 um 9 Prozentpunkte; das repräsentierte allein 2007 ein Umverteilungsvolumen von ca. 150 Mrd. Euro.

Die Einnahmeseite des Staates wird dabei auch durch eine sozial einseitige Reduzierung der Besteuerung von Unternehmertätigkeit und Vermögen systematisch geschwächt. Degressiv wirkende und damit soziale Ungerechtigkeit verstärkende Konsumsteuern haben die Steuererleichterung bzw. -befreiung der großen Einkommen und Vermögen ersetzt, sollen dies aber auch nur zum Teil kompensieren, denn staatliches „Sparen-Müssen“ wurde zugleich als neues säkulares ideologisches Paradigma etabliert: für Deutschland ein Paradigmenwechsel von einem Sozialstaat im internationalen Qualitätswettbewerb zu einem nur lohnkosten- und preisbasierten Exportland und damit zum EU-weit armuts- und krisengenerierenden Entwicklungstyp.

Und nachdem nach 2008 weitere Hunderte von Milliarden Euro in überspekulierte und zum Teil dramatisch gefährdete Bankbilanzen gepumpt wurden, ohne die privaten Bankengläubiger und -aktionäre auch nur einen Cent beitragen zu lassen, bildet die internationale Festschreibung des so arm und fast handlungsunfähig gemachten Staates in den Verfassungen qua „Schuldenbremsen“ und Fiskalpakt den vorläufigen Höhepunkt der Umverteilung von unten nach oben. Dass die fiskalischen Belastungen für die nächsten Generationen von Steuerzahlern (und über die absehbare säkulare Inflation auch von Lohneinkommensbeziehern, Konsumenten und Versicherten) aufgrund der Flutungen der Banken mit Frischgeld und der staatlichen und parafiskalischen Risikoübernahmen aller Art bereits allein in Deutschland bei mehr als 1,5 Billionen Euro liegen, ist dabei kein Thema, das im Kontext von „Sparzwang“ und „Schuldenbremse“ eine Rolle spielt.

Renditedruck und eine globale Gläubiger-Schuldner-Ökonomie

Seitdem es statistische Zeitreihen über Einkommens- und Vermögensverteilungen gibt, hat es eine Ungleichheit wie heute, sowohl in räumlicher als auch sozialer Hinsicht, noch nicht gegeben. Einige hundert Reiche besitzen heute mehr als die unteren 50% der Weltbevölkerung, also 3,5 Mrd. Menschen. Im Ergebnis haben wir heute private nominale „flüssige“ Vermögenswerte, die reale Einkommensansprüche repräsentieren und die mithin intensiv renditeträchtige Anlagen suchen müssen, im Umfang eines vielleicht 30-Fachen des Weltsozialprodukts (etwa 35 Billionen US-$). Wir reden hier also vermutlich von einem insgesamt vierstelligen Billionenbetrag, darunter z.B. ca. 700 Billionen US-$ Derivate, ca. 60 Billionen US-$ Credit Default Swaps (überwiegend Wettpapiere), dreistellige Billionen-Beträge an überspekulierten Aktien und 120 Billionen US-$ an sonstigem Geldvermögen.

Und wenn das Geld- und Kapitalvermögen – auch wenn es als Nominalvermögen startet und als solches inzwischen mit weitem Abstand die dominante Form des Vermögens ist –, nun in die genannten absurden Größenordnungen hineinwächst, muss es Anlagemöglichkeiten mit entsprechend hohen Gewinnmengen finden, die auf einem begrenzten Planeten, also bei ressourcenseitigen, aber auch bei organisations- und verteilungsseitigen Restriktionen des realen Produktionswachstums immer schwerer zu finden sind. Und dabei muss es sich immer noch rechtzeitig vor dem Platzen der nächsten Blase von nominalem in reales Kapital und seinen Gewinn von nominalem in realen Gewinn umwandeln, was bei den Größenrelationen Nominal/Real logischerweise nicht allen gleichzeitig gelingen kann. Das erklärt die Nervosität der Finanzmärkte, die kein kollektives oder irgendwie geartetes höheres Wissen (außer dem „Wissen“ der Herde) oder gar eine Rationalität über den Augenblick von High-Frequency-Aktionen hinaus besitzen. Deren „Vertrauen“ herzustellen, ist absurd, da strukturell unmöglich.

Die Superreichen und die Spekulationsindustrien sind im Ergebnis einer Studie der ETH Zürich vom Oktober 2011 über die tatsächliche globale Markt- und Machtstruktur geschätzt einige 100 Top-Entscheider in etwa 40 führenden Finanzkonglomeraten sowie ihre weltweit wenigen 1000 megareichen Aktionäre und Gläubiger. Was einmal (Real-)Ökonomie war, ist vor diesem Hintergrund zu einem Arme-Reiche-System, einem globalen Gläubiger-Schuldner-System degeneriert. Und zu den „systemischen“ Schuldnern gehören nicht zuletzt die Staaten. Denn will man dabei den unangenehmen Seiten einer funktionierenden Marktwirtschaft – einer echten Preiskonkurrenz bis hin zur klassischen kapitalistischen Krise und zum möglichen Exitus vieler Einzelkapitale zum Zweck der gesamtwirtschaftlich erforderlichen Entwertung des überakkumulierten Vermögensstocks – weiterhin entgehen, so muss der Staat in massivem, bisher ungekanntem Ausmaß zuschießen und Risiken übernehmen.

Staaten und Nationen in festgeschriebener Schuldner-Position

Die Zentralbanken versorgen dabei den Spekulationssektor noch mit bisher ungekannten Beträgen an frischem Geld, das die Banken zu negativen realen Zinsen erhalten, das sie statt ihres Eigenkapitals verwenden können (dreijährige Laufzeiten!), für das sie überspekulierte „toxische“ Derivate und riskant gewordene Staatsbonds eintauschen können und das sie dann unter anderem postwendend teuer und relativ sicher zu 3% oder 5% wieder an Regierungen verleihen können. Die Notenpresse zur direkten Finanzierung von staatlichen Zukunftsinvestitionen und industrie- und sozialpolitischen Wachstumsbeiträgen anzuwerfen, wäre demnach des Teufels, die Notenpresse zur Flutung überspekulierter Bankbilanzen anzuwerfen, dagegen ist „marktkonform“.

Würde eine „Marktwirtschaft“ existieren …

Die Nominalexplosion der Vermögenswerte führt schließlich zu einem verheerenden systemischen Backlash: Mit der individuellen Sicherung jeder einzelnen Bank verhindern die Regierungen auch noch jeglichen Anpassungsdruck und jeglichen Strukturwandel, weil all die Finanzkonglomerate eben „systemisch“ geworden sind, also von den Regierungen schon längst „too big to fail“ gemacht worden sind. Hätten wir Marktwirtschaft, würde aber vermutlich keine einzige der bekannten Banken mehr existieren.

Die Fähigkeit zu Strukturwandel, Anpassung, und Innovation wurde klassisch über die zyklische Entwertungskrise wiederhergestellt. Diese müsste aber heute so groß sein, dass wohl nichts mehr bliebe. So verhindert der neoliberale Staatskapitalismus – im kurzfristigen Sicherungsinteresse und entgegen dem längerfristigen kollektiven Interesse aller Kapitalisten – nicht nur fast jeglichen individuellen Bankrott, sondern damit zugleich Strukturwandel, dynamischen Neuanfang und Zukunftsdynamik. Es werden am Ende nur noch das kurzfristige Interesse der „Systemrelevanten“ und der „Too-big-to-fails“ bedient. Der Staat kann dann aber kein allgemeines, längerfristiges Systeminteresse mehr verfolgen.

Das Grundgeschäft der EU und seine Unhaltbarkeit in der abstrakten Währungsunion

Das Grundgeschäft der EWG/EG/EU bestand seit den Römischen Verträgen 1957 in dem unausgesprochenen Deal einer zunehmenden stufenweisen Handels- und Wirtschaftsintegration – mit dem strukturellen Gewinner der damals aufsteigenden Exportnation Deutschland – gegen eine fiskalische Kompensation der strukturellen Verlierer über den EU-Haushalt und die EU-Strukturfonds, in die Deutschland als weitaus größter Nettozahler einen Teil seines strukturellen Gewinns einzuzahlen hatte. Dieses Grundgeschäft hat einige Jahrzehnte alle Spannungen aushalten können. Der Deal wurde zunehmend offen in den verschiedenen Erweiterungsrunden der EU thematisiert, insbesondere bei der Süderweiterung, in der es um die Milliardenbeträge an Kompensation der Beitrittsländer aus den Strukturfonds für die Aufgabe ihrer Handlungskompetenz und entsprechend höhere deutsche Beitragszahlungen ging. Dies ließ an Klarheit nichts zu wünschen übrig.

Die ideologische Bedeutung der Forderung nach „Strukturreformen“ durch den neoliberalen deutschen Vordenker gegenüber den anderen nahm aber immer mehr zu. Der Neoliberalismus wiederum hatte sich zwischenzeitlich auch in der monetaristischen Obsession einer disziplinierenden Führungsrolle von Geld und Geldpolitik realisiert, hier also einer abstrakten Währungsunion ohne hinreichende vorlaufende Sozial- und Fiskalunion, und damit ohne die in einer Föderation erforderlichen Faktoren: einheitlicher Arbeitsmarkt, Ausgleich durch einheitliche Sozialversicherungssysteme, regionale und Länderfinanzausgleiche usw. Die Kombination der alten Exportvorsprünge Deutschlands mit seiner neuen neoliberalen Lohn-, Kosten- und Preisstrategie ließ die deutschen Exporte in die schwächeren Mitgliedsländer in den 2000er Jahren in der Währungsunion dann vollends explodieren, ohne dass dort noch irgendwelche nationalen Schutzmechanismen verblieben wären.

Der entscheidende Fehler der Griechen bestand vor diesem Hintergrund in den 2000er Jahren weniger darin, dass sie einen korrupten Staat hatten und ein Land mit einer der ungleichsten Einkommens- und Vermögensverteilungen in der OECD waren. Das wusste man schließlich vorher; ebenso, wie es auch öffentlich diskutiert wurde, dass einige Beitrittsländer ihre Statistiken für die formalen Aufnahmebedingungen manipuliert hatten. Zu groß war einfach der geostrategische Druck zur EU-Erweiterung in der Zeit nach dem Niedergang und Zusammenbruch des staatssozialistischen Systems.

Der eigentliche Fehler der Griechen bestand vielmehr darin, dass sie die Förderung der EU und die anfänglichen Kapitalimporte für eine einzigartige fast zehnjährige Erhöhung von Produktivität, Löhnen und Sozialprodukt in einem Ausmaß genutzt haben, von dem man in Deutschland nur träumen kann (bei einer durchschnittlichen Arbeitszeit, die p.a. 150 Stunden mehr als in Deutschland beträgt). Dass Griechenland aber bei gestärkter, wachsender und eben auch konsumbasierter Binnenökonomie gegenüber den deutschen Exporten nicht wettbewerbsfähig war, aber eben auch seine Staatsstrukturen nicht von Korruption befreit und auf eine effektive Einnahmeseite umgestellt hatte, wurde dem Land dann schnell zum Verhängnis. Unter anderem haben deutsche Rüstungsunternehmen Griechenland mit zum in der OECD am höchsten aufgerüsteten Staat pro Kopf gemacht. Dass deutsche Konzerne und deutsche Banken hier vorfinanziert haben, hat sie zunehmend nervös gemacht. Das autoritäre Schrumpfungsregime, das die EU nun nach deutschem Blueprint eingeführt hat, ist quasi die Bestrafung auch für ein Jahrzehnt verteilungspolitisch relativ ausgeglichenen Wohlstandswachstums – und, darüber hinaus, das rigide Zurückholen der Lieferkredite. Dabei lässt sich Deutschland die Aufrechterhaltung des alten Grundgeschäfts im modernen Gewand der Währungsunion nach wie vor Erhebliches kosten, und zwar jenseits von EFSF/ESM auch in Form der explodierenden Target-Kredite. Aber wer seine Abnehmer soweit einbrechen lässt, dass sie zum Opfer allfälliger, stets unter Hochdruck wartender Spekulationswellen werden, hat mit dem Teufel gespielt.

Und die Demokratie?

Dass das Herausstampfen von Billionen Euro – also großer Teile des realökonomischen Ergebnisses in Gegenwart und Zukunft – durch Fiski und Zentralbanken aus dem ökonomischen Kreislauf und dem Staatshaushalt heraus zugunsten von Bankbilanzen und Renditemassen der Spekulationsindustrien und Reichen, deren Vermögen damit weiter drastisch wachsen, sowie die damit verbundene fast vollständige staatliche wachstums- und gesellschaftspolitische Handlungsunfähigkeit mit Demokratie immer weniger vereinbar ist, erscheint unmittelbar plausibel und ist auch immer deutlicher erfahrbar geworden. In der Quintessenz zahlreicher miteinander verwobener komplexer Prozesse implodiert damit auch die politische Legitimationsbasis. Vor dem Hintergrund der erkennbaren politisch-moralischen Krise kommen in den meisten Ländern der EU aber auch bereits die klassischen „letzten politischen Aufgebote“ zum Zuge – informelle und formelle Große Koalitionen, deren Parteien sich gegenüber der EU-Bürokratie bereits schriftlich verpflichtet haben, bei Regierungswechseln die gleiche Politik fortzuführen.

Verabschiedung der Eurozone von der Weltbühne?

Die EU wird – ohne tiefgreifende Strukturreformen gegen die Spekulationsindustrien – den begonnenen Spekulationswettlauf „Staaten gegen Private“ schon aus Gründen der quantitativen Relationen verlieren und danach nur noch mit sich selbst, der hilflosen Rettung oder eben der Abwicklung eines neoliberal verkorksten Integrationsprojektes zu tun haben. Ohne eine Zerlegung der Spekulationsindustrien in ein strikt selbstverantwortliches (und sich damit automatisch selbst reduzierendes) Spekulationssegment einerseits und einen regulierten, seriösen, profitarmen, der Realökonomie und der Gesellschaft dienenden und kollektiv abgesicherten Kreditsektor („Trennbankensystem“) sowie ohne die drastische Reduzierung der „finanziellen Massenvernichtungswaffen“ (W. Buffett) in den Händen der Megareichen, also ohne eine langanhaltende, systematische Rückverteilung (die ansonsten der Markt über die zyklische Krise vorgenommen hätte) und damit wieder möglich werdender gesunder Selbstfinanzierung der Staaten, werden zunehmende Turbulenzen und die Dauerkrise nicht einzudämmen sein. Realistischerweise bräuchte die Zukunftsfähigkeit der Eurozone dann auch einen umfassenden realökonomischen und gesellschaftspolitischen Marshallplan. Ein neues Thema.

Beitrag als PDF

DOI: 10.1007/s10273-012-1367-2

Fachinformationen über EconBiz

EconBiz unterstützt Sie bei der Recherche wirtschaftswissenschaftlicher Fachinformationen.