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Bei der Wahl zum Europäischen Parlament am 25. Mai 2014 treten die Parteien zum ersten Mal mit Spitzenkandidaten an, die – vorausgesetzt ihre Parteien erhalten eine Mehrheit – vom Europäischen Rat als Kommissionspräsidenten vorgeschlagen werden sollen. Diese Neuerung, die auf den Lissabon-Vertrag zurückgeht, soll die Legitimität der europäischen Institutionen verbessern und zugleich die EU-Bürger zu zahlreicher Stimmabgabe motivieren. Ob dies wirklich gelingen kann und welche unterschiedlichen Wege beschritten werden können, diskutieren die Autoren dieses Zeitgesprächs.

Wir haben die Wahl: Überlegungen zu einem demokratischen „Europa der Bürger“

„Wählt Europa!“ Mit emphatischem Ausrufungszeichen versieht die Zeit vom 27. Februar 20141 ihren Abdruck eines Europawahlaufrufs des Soziologen Ulrich Beck, der zahlreiche prominente Unterstützer gefunden hat. Zu ihnen gehört auch die ungarische Philosophin Ágnes Heller, die von 1986 bis zu ihrer Emeritierung die Nachfolgerin Hannah Arendts an der New York School of Social Research war. Sie benennt klar ein gefährliches Unbehagen, das die Bürger Europas nicht nur ihren mitgliedstaatlichen Demokratien, sondern viel mehr noch der Europäischen Union mit ihrem supranationalen demokratischen Legitimationsanspruch zu entfremden droht: „Die Demokratien der EU werden gut verwaltet, aber Verwaltung eignet sich nicht für den Umgang mit etwas, das man nach Hegel den 'Geist' der Demokratie nennen könnte. Ohne lebendigen demokratischen Geist wird die Massendemokratie vielleicht unter wachsendem Druck von Nationalismus, Rassismus, Fundamentalismus, rechtem und linken Radikalismus untergehen.“2

In der Vorstellungswelt vieler Unionsbürger steht die EU tatsächlich für kaum mehr als eine komplexe, mitunter schwerfällige, mitunter anmaßende Bürokratie. Ob sie von Brüssel aus am besten regiert werden, erscheint ihnen angesichts eines – jedenfalls so empfundenen – Übergewichts der Exekutiven und, damit verbunden, defizitärer demokratischer Teilhabemöglichkeiten zweifelhaft. Verlust­ängste nähren die Zweifel. Wer die Aufgabe der nationalen Souveränität und Identität fürchtet, will die heimatlich vertraute Form nationalstaatlicher politischer Einheit nicht gegen das nüchterne rechtliche Konstrukt „Europäische Union“ eintauschen.3

Gerade junge Menschen kennen Europas Trümmerfeld nach 1945 nicht mehr aus eigenem Erleben. Die leidvollen Erfahrungen und das leidenschaftliche Europawerben der Gründerjahre sind ihnen – wenn überhaupt – nur aus dem Geschichtsunterricht geläufig, bleiben allenfalls historische Reminiszenzen. Die Integrationsleistungen von Frieden und Freiheit, von Wohlstand und Sicherheit haben eine gewisse Selbstverständlichkeit erlangt. Die Kehrseite: Das integrierte Europa heutiger Entwicklungsstufe bleibt ein mehr oder weniger selbstverständliches „Faktum ohne besonderen Charme“4. Die eben genannten Integrationserfolge werden ihm lange nicht so selbstverständlich zugerechnet wie sie vielen Europäern selbstverständlich – jedenfalls selbstverständliche Erwartungen – sind. Wie wenig selbstverständlich sein „Einig-Sein“ für Europa ist und wie unwahrscheinlich es (entwicklungs-)geschichtlich war, sollte im Erinnerungsjahr 1914-2014 indes deutliche Erwähnung finden.

Das politisch integrierte Europa als die bessere Alternative

Ein Weiteres ist dem von Ágnes Heller beschworenen „lebendigen demokratischen Geist“ höchst abträglich: die vor allem in den letzten Krisenjahren so beliebte politische Rhetorik der „Alternativlosigkeit“. Wo eine bestimmte politische Option als „alternativlos“ apostrophiert wird, erscheint Teilhabe am Entscheidungsprozess von vornherein sinnlos. Demokratisches Entscheiden lebt aber gerade von einem „Möglichkeitsdenken“ als Denken „der Alternativen“ und „in Alternativen“.5 Nur so kann der kritische Diskurs um die bestmöglichen Handlungs- bzw. Gestaltungsoptionen gelingen, kann sich die rationalisierende Kraft der Deliberation entfalten, nur so wird der Blick auf neue Wirklichkeiten und Reformnotwendigkeiten frei. Wer das politisch integrierte Europa „alternativlos“ machen will, muss es als die bessere, ja die bestmögliche Alternative politischer Ordnungsbildung in Frieden und Freiheit, in Wohlstand und Sicherheit erklären. Er muss vermitteln, dass eine konstitutionelle Europäische Union kein Konkurrenzmodell zu mitgliedstaatlicher Verfasstheit ist, sondern die komplementäre Einbindung der Mitgliedstaaten in einen europäischen Verfassungsverbund6 will. Er muss vor allem wissen, dass die Erklärung und Vermittlung Europas nicht en passant im politischen Alltagsgeschäft gelingen können, sondern eine anspruchsvolle Aufgabe sind. Europa kennt keinen „Gründungsmythos“7. Es verdankt seine Einheit schrittweiser Evolution, nicht einmaliger Revolution. Diese evolutionären Entwicklungsprozesse gilt es in ihrer Dynamik immer wieder erklärend nachzuvollziehen. Dazu notwendig wird eine differenzierte Gedächtnisleistung, die sich nicht an dem einen einheitsstiftenden Ereignis nach dem Muster des 4. oder 14. Julis festmachen lässt, sondern die den originär europäischen politischen Gestaltungsauftrag, der aus leidvollen historischen Erfahrungen resultiert, (all-)täglich neu aktualisiert.8 Geschieht das nicht, fühlen sich die Bürger von der Politik zu spät „mitgenommen“ und einbezogen, gravierender noch, sie fühlen sich in ihrem bürgerschaftlichen demokratischem Mitgestaltungspotenzial nicht ernst genommen und reagieren mit Distanzierung, Abwendung, Trotz.

Demokratische Herrschaftsorganisation hat demgegenüber eine werbende Komponente zur Funktionsbedingung. Sie muss Verfahren zur politischen Teilhabe und Teilnahme nicht nur eröffnen, sondern immer neu zu Teilhabe und Teilnahme auch einladen. Sie muss Partizipation attraktiv machen, sie sollte zum Erlernen effizienter Partizipationsstrategien Anstoß geben,9 sie sollte schließlich einen chancengleichen Wettbewerb um politische Durchsetzungs- und Entscheidungsmacht eröffnen. Die „In Vielfalt geeinte“ Europäische Union, deren Arbeitsweise auf der repräsentativen Demokratie beruht (Art. 10 Abs. 1 EUV), die ihren Bürgern ein Recht auf Teilnahme am demokratischen Leben zusagt (Art. 10 Abs. 3 EUV, Art. 11 EUV) und die Rolle politischer Parteien auf der europäischen Ebene hervorhebt (Art. 10 Abs. 4 EUV), nimmt dieses Müssen und Sollen sehr ernst. Spätestens mit der Direktwahl der Europaabgeordneten seit 1979 versteht sie nicht mehr allein die Staaten und Völker, sondern auch die Bürger Europas als ihre Legitimationssubjekte (Art. 14 Abs. 2 EUV). Die Unionsbürgerschaft ist nur konsequente Weiterentwicklung und rechtliche Verstetigung zu einem echten, normativ belastbaren Bürgerstatus (Art. 20 ff. AEUV).

Gewiss, „In Vielfalt geeint“ lässt sich leichter zum Leitmotto ausbuchstabieren als dann alltäglich leben bzw. mit politischem Leben füllen. Gewiss, mit dem Bürgerstatus sind Erwartungen und Verantwortungszuschreibungen an den idealen Unionsbürger verbunden, denen der reale Unionsbürger nicht immer gerecht wird (respektive gerecht werden kann). Gewiss, visionäre sind realitätsbezogenen Europabildern gewichen, und im Zeitalter globalisierungsbedingter Entgrenzungen, die den einzelnen zutiefst verunsichern, vielleicht sogar entwurzeln, mag es leichter sein, Europa von seinen Grenzen als von seinen Chancen her zu denken.10 Und doch schreibt das europäische Primärrecht nach Lissabon die Fortschrittserzählung eines gesteigerten Legitimationsniveaus und intensivierter Partizipationsmöglichkeiten bis hin zum europäischen Bürgerbegehren (Art. 11 Abs. 4 EUV). Auch aus den Vertragstexten heraus wird Europa als die bessere – und demokratisch verbesserte – Alternative zum geschlossenen Nationalstaat (be-)greifbar. Politik, Wissenschaften und Medien trifft eine besondere Verantwortung, diese Texte bürgerverständlich zu machen und auf ihrer Grundlage Europa als die bessere Alternative zu deuten. Populismen jedweder Provenienz sind dafür in höchstem Maße abträglich. Sie werden aber am ehesten als solche entlarvt, wenn die Unionsbürger in „ihrem“ Europa heimisch werden, weil es sich auch von seinen (rechtlich verankerten) demokratischen Legitimationsgrundlagen und demokratischen Teilhabechancen her glaubhaft verständlich machen kann.

Wahlen zu einem demokratisch legitimierten, politisch gestaltungsmächtigen Parlament

Demokratische Legitimationsgrundlagen und demokratische Teilhabechancen werden vor allem dann relevant, wenn es um die Wahlen zum Europäischen Parlament geht. Wer dem Aufruf „Wählt Europa!“ Folge leisten soll, muss wissen, welche Gestaltungsmacht das von ihm gewählte Parlament innehat. Das Europäische Parlament heutigen Zuschnitts ist noch immer ein Parlament eigener Art und unterscheidet sich in vielen Facetten von den mitgliedstaatlichen Parlamenten. Einen der wichtigsten Unterschiede, das fehlende Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition, haben schon die Beschwerdeführer im Verfahren gegen den Vertrag von Lissabon vorgetragen: „Der Vertrag von Lissabon verletze schließlich das demokratische Prinzip wechselnder Mehrheiten. Zum demokratischen Prinzip gehöre der Wettbewerb um politische Macht, also das Wechselspiel von Minderheit und Mehrheit. Dieser Wettbewerb finde jedoch auf europäischer Ebene nicht statt. Die europäischen Institutionen seien nicht um die Zentralität des politischen Konflikts geordnet. Die Unerkennbarkeit politischer Konfliktlinien führe zu politischer Apathie in Form von Enthaltungen bei den Wahlen zum Europäischen Parlament.“11 Dem institutionellen Gefüge der Union geschuldet, formt die Kommission gerade keine Exekutive, die in engerem Sinne von einer sie tragenden Mehrheit abhängig wäre. Eine weitere Differenz betrifft die Wahlrechtsgleichheit. Das zählwertgleiche „one man one vote“ ist auf europäischer Ebene zwar realisiert, die Erfolgswertgleichheit aber nicht. Hier fordern das völkerrechtliche Prinzip der souveränen Staatengleichheit und die verfassungsstaatliche Maßgabe demokratischer Gleichheit praktische, mit Blick auf die Arbeitsfähigkeit des Europäischen Parlaments auch pragmatische Konkordanz.12

Ungeachtet dieser Unterschiede ist die Geschichte der Parlamentarisierung auf Unionsebene eine Erfolgsgeschichte. Hatte die ursprüngliche Versammlung nur limitierte Beratungs- und Kontrollbefugnisse, ist das Parlament – spätestens mit dem „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ (Art. 294 AEUV) – nach Lissabon zu einem echten Mitgesetzgeber und zur wirkungsmächtigen Haushaltsbehörde erstarkt. Mit seinem jüngsten 5:3-Urteil in Sachen 3%-Sperrklausel bei den Europawahlen13 hat das Bundesverfassungsgericht der Demokratie in Europa denn auch einen Bärendienst erwiesen. Was auf den ersten Blick nach einer Stärkung der demokratischen Partizipationschancen (Erfolgswertgleichheit aller Stimmen, Chancengleichheit aller Parteien) aussieht, zeigt auf den zweiten Blick, dass Karlsruhe demokratische Bedeutung und Gewicht des Europäischen Parlaments noch immer unterschätzt. Der von der Mehrheitsmeinung abweichende Richter Peter Müller hat das in seinem Sondervotum14 luzide dargelegt. Er erkennt zu Recht eine hinreichend gewichtige Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments, die einen Eingriff in die Grundsätze der Erfolgswertgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien rechtfertigen kann. Müller verweist (Rn. 26) auf die Kreations- und Legislativfunktionen, die dem Europäischen Parlament in hohem Maße zugewachsen sind (etwa Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 Satz 2, UAbs. 3 EUV; Art. 289, Art. 294, Art. 314 AEUV). Auch wenn es für das Zustandekommen eines Rechtsakts im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und bei der Erstellung des Jahreshaushaltsplans nicht zwingend einer mehrheitsgetragenen Zustimmung des Parlaments bedürfe (Art. 294 Abs. 7 Buchstabe a Alternative 2; Art. 314 Abs. 4 Buchstabe b AEUV), setze die Wahrnehmung der dem Parlament übertragenen Funktionen die Fähigkeit zur Bildung handlungsfähiger Mehrheiten voraus.

Das entscheidende Argument arbeitet Müller präzise heraus (wiederum Rn. 26): Die Wahl ist der entscheidende Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung der Unionsbürger. Die gelingende Integrationsleistung setzt ein funktionsfähiges Parlament gerade deshalb voraus, weil das Parlament als Kreations-, Legislativ- und Kontrollorgan mit dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie auf unionaler Ebene wirkungsmächtig ernst macht und demokratische Herrschaft als Herrschaft der Freien und Gleichen realisiert. Als Mitgesetzgeber setzt das Parlament Recht, das die Bürger der Union unmittelbar (Verordnungen) oder die Mitgliedstaaten hinsichtlich seiner Zielkonkretisierung (Richtlinien) binden kann. In Petitionen kann sich jeder Unionsbürger an das Europäische Parlament wenden (Art. 24, Art. 227 AEUV). Die Europaabgeordneten sollten ihm genauso nah, genauso zugänglich sein wie die nationalen Abgeordneten. Dass die Distanz zwischen dem Bürger und dem Europäischen Parlament aufgrund der Entscheidungsferne oder einer fehlenden politischen Öffentlichkeit Europas notwendig größer sein müsse als die zum mitgliedstaatlichen Parlament „zu Hause“, überzeugt nicht. Die Distanz ist keine tatsächliche – die Verordnung der EU wirkt wie das nationale Parlamentsgesetz –, sie ist eine Wahrnehmungsdistanz.

Gemeinsame Legitimationsleistung von EU und Mitgliedstaaten

Diese Distanz in der Wahrnehmung wird umso geringer, je deutlicher das wechselseitige Verbundsein und Sich-Verbinden zwischen Union und Mitgliedstaaten zu Tage tritt. Die Stärke dieses „hierarchiefreien“ Verbundmodells hat der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, pointiert beschrieben: Der Verbundbegriff helfe, die teils schon spezifischen, teils noch recht unspezifischen Funktionsweisen komplexer Mehrebenenverflechtungen zu umschreiben, ohne schon vorab die genauen Techniken des Zusammenspiels festzulegen.15 Dem Verbunddenken fehlt unbestritten die Eindeutigkeit, die Hierarchien ermöglichen. Ist es aber deswegen theoretisch defizitär? Im Gegenteil, das Verbunddenken trägt theoriebewusst dem schlichten Wirklichkeitsbefund Rechnung, dass traditionell-hierarchische Zuordnungs- respektive Abgrenzungsmuster dem Integrationsstand (oder Verflechtungsgrad) des heutigen Europa nicht mehr gerecht werden. Angesichts dieses Befundes sind die analytischen Unschärfen des Verbunddenkens nicht nur hinzunehmen, weil seine deskriptive Stärke kompensierend wirkt, sondern weil es auf eine rechtspluralistisch-dynamische Ordnungsidee abzielt und stärker auf ein immer neues Sich-Verbinden, ein Zusammenwachsen hindeutet.

Warum ist die Verbundidee aber gerade auch für demokratische Legitimationsfragen so maßgeblich? Weder das „World Wide Web“ noch all die anderen faktischen oder regulativen Globalisierungsphänomene führen automatisch zu einer Weltgesellschaft oder gar zu globaler Demokratie. Weil sie den Nationalstaat aber entgrenzen und ihm zugleich die Grenzen seiner Selbststeuerungsfähigkeit aufzeigen, weil deshalb maßgebliche politische Entscheidungen, oft von hoher Grundrechtsrelevanz, jenseits des Staates getroffen werden müssen, bleiben Einbußen in seiner demokratischen Substanz nicht aus.16 Hier gilt es, wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert, ein hinreichendes demokratisches Legitimationsniveau zu sichern.17 Die demokratischen Legitimations- und Partizipationsdefizite auf Unionsebene per se seien dabei nicht in Abrede gestellt, im Gegenteil, sie wurden hier schon explizit beim Namen genannt, was das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition oder den ungleichen Erfolgswert der Stimmabgabe zum Europaparlament angeht. Erinnert sei auch an das Fehlen originär europäischer politischer Parteien. Wer allerdings bei einer Mängelliste stehen bleibt, übersieht nicht nur die zahlreichen auf Unionsebene greifbaren demokratischen Legitimationsbausteine, sondern verkennt überdies die unionsrechtlich bedingte, ebenso aktivierend wie legitimationssichernd wirkende Ebenenverschränkung demokratischen Wettbewerbs. Wenn der Reformvertrag von Lissabon die Subsidiaritätskontrolle stärkt, den mitgliedstaatlichen Parlamenten im Rahmen des „Frühwarnsystems“ eine „orange Karte“ zugestanden ist und etwa das deutsche Begleitgesetz die Mitwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten nachhaltig ausweitet, dann erfährt die europäische Demokratiearena mitgliedstaatliche Erweiterung und die mitgliedstaatlichen Volksvertretungen werden auf spezifische Weise zu europäischen Parlamenten. Die Wahl sowohl der nationalen Parlamente als auch des europäischen Parlaments hat damit einen ganz entscheidenden europäischen Impuls und führt zu einer letztlich gemeineuropäischen Legitimationsleistung.

Bei alldem sei nicht vergessen, dass die Europäische Union zu Recht mit hohen Integrationserwartungen konfrontiert ist. Als Rechtsgemeinschaft soll sie aus dem technisch-verklammernden Instrument des Rechts echte und erlebbare Zugehörigkeit stiften, sie soll nicht weniger als ein europäisches „Wir-Gefühl“ schaffen. Dabei hat sie ihre Bürger so zu nehmen, wie sie sind. Sie muss mit Desinteresse und Politikverdrossenheit leben. Sie sollte partizipationsfreudige Zustimmung dankbar als Ermutigung erleben. Und sie sollte Kritik – auch harsche, überzogene Kritik – sehr ernst nehmen. Wer die Legitimationsgrundlagen der Europäischen Union bestreitet – die Hamburger Politologin Antje Wiener18 spricht in diesen Kontexten von „contestation“ – leistet einen letztlich zentralen Beitrag für diskursive Legitimationsfortschritte. Ernest Renan hat vor mehr als einem Jahrhundert auf die Frage „Was ist eine Nation?“ wie folgt geantwortet: „Das Dasein einer Nation ist – erlauben Sie mir dieses Bild – ein Plebiszit Tag für Tag, wie das Dasein des einzelnen eine dauernde Behauptung des Lebens ist.“19 Könnte Renan auf die Frage, was ist Europa, heute antworten: „Das Dasein Europas ist – erlauben Sie mir dieses Bild – ein Plebiszit Tag für Tag, wie das Dasein des einzelnen eine dauernde Behauptung des Lebens ist“? Hoffentlich! Wählt Europa!

  • 1 Die Zeit vom 27.2.2014, S. 10.
  • 2 Ebenda.
  • 3 Schon der erste Kommissionspräsident W. Hallstein: Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl., 1979, S. 53, hatte die seinerzeitige EWG als „zuvörderst ein Geschöpf des Rechts“ bezeichnet.
  • 4 U. Sarcinelli, M. C. Herrmann: Europa in der Wahrnehmung junger Menschen – Bedingungen und Konsequenzen für Politikvermittlung und politische Bildungsarbeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 25-26/98 (12.6.1998), S. 11.
  • 5 So grundlegend P. Häberle: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl., Berlin 1998, S. 560 ff.
  • 6 I. Pernice: Die dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, in: Europarecht (EuR), 1996, S. 33; ders.: Der Europäische Verfassungsverbund auf dem Wege der Konsolidierung, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Neue Folge, Bd. 48 (2000), S. 205 ff.; ders.: Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer (VVDStRL), Bd. 60 (2001), S. 148 ff.
  • 7 Für diesen Denkansatz U. Haltern: Europarecht und das Politische, Tübingen 2005.
  • 8 Vgl. U. Sarcinelli, M. C. Herrmann, a.a.O., S. 10.
  • 9 U. K. Preuß: Die Bedeutung kognitiver und moralischer Lernfähigkeit für die Demokratie, in: C. Offe (Hrsg.): Demokratisierung der Demokratietheorie, Frankfurt a.M., New York 2003, S. 259 ff.
  • 10 J. Schwarze (Hrsg.): Das schwierige Geschäft mit Europa und seinem Recht, in: Europarecht. Strukturen, Dimensionen und Wandlungen des Rechts der Europäischen Union, Ausgewählte Beiträge, Baden-Baden 2012, S. 89 ff.
  • 11 Bundesverfassungsgericht: BvE 2/08, Rn. 107.
  • 12 Zum Begriff der pragmatischen Konkordanz vgl. K. Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Neudruck der 20. Aufl., Heidelberg 1999, Rn. 72.
  • 13 Bundesverfassungsgericht: 2 BvE 2/13 vom 26.2.2014.
  • 14 Ebenda, Abweichende Meinung, Rn. 24 ff.
  • 15 So A. Voßkuhle: Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), 2010, S. 3.
  • 16 G. Lübbe-Wolff: Globalisierung und Demokratie. Überlegungen am Beispiel der Wasserwirtschaft, in: Recht und Politik (RuP), 40. Jg. (2004), H. 3, S. 136.
  • 17 BVerfGE 83, 60 (72).
  • 18 A. Wiener: The invisible constitution of politics: contested norms and international encounters, Camebridge 2008.
  • 19 E. Renan: Was ist eine Nation?, Rede am 11.3.1882 an der Sorbonne, Neudruck Hamburg 1996, S. 34 f.

Das „funktionale Demokratiedefizit“ der EU als Defizitpolitischer Gestaltung

Wahlen sind für die repräsentative Demokratie von grundlegender Bedeutung. Sie sind nicht nur der deutlichste, sondern auch der symbolisch bedeutsamste Ausdruck für die Legitimation politischer Herrschaft. Vor diesem Hintergrund ist die von jeher geringe und stetig gesunkene Wahlbeteiligung bei den Europawahlen1 zumindest bedenklich und kann als Indikator für eine unzureichende demokratische Legitimation der Europäischen Union gesehen werden.2

Zugleich sind es nicht nur die Europawahlen, die Fragen nach der demokratischen Legitimation in der EU aufwerfen. Viel eher sieht sich eine Gemeinschaft von Staaten, die eine immer engere Union der Völker Europas (Art. 1 EUV) erstrebt und heute beträchtliche Bereiche unseres täglichen Lebens regelt, ganz generell mit der Frage nach ihrer demokratischen Konstitution konfrontiert. Hinlänglich bekannt ist in diesem Zusammenhang die Einschätzung des ehemaligen EU-Kommissars, Günter Verheugen, nach der die EU mit Blick auf die demokratische Verfasstheit ihren eigenen Beitrittskriterien nicht entsprechen würde.

In der Politikwissenschaft ist die Frage, ob die EU tatsächlich unter einem Demokratiedefizit leidet und worin dies überhaupt bestehen könnte, sehr unterschiedlich beantwortet worden und deutlich durch, zum einen, föderalistische und, zum anderen, intergouvernementalistische Positionen vorgeprägt. So heben die föderalistischen Kritiker eines Demokratiedefizits vor allem die institutionelle Schwäche des Parlaments, aber auch die der übrigen genuin europäischen Institutionen hervor, die es zu beheben gelte.3 Auch die mangelnde Effektivität und Effizienz der Meinungs- und Entscheidungsfindungsverfahren in der EU werden in den Diskussionen regelmäßig beanstandet. Von Anderen wird überdies auch das Fehlen einer genuin europäischen Öffentlichkeit, zumindest aber die unzureichende Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten, kritisch gesehen, zumal dies für das Funktionieren einer deliberativen Demokratie unabdingbar ist.4

Aus intergouvernementalistischer bzw. staatszentrierter Sicht wird hingegen generell bezweifelt, dass es so etwas wie ein Demokratie- und Öffentlichkeitsdefizit überhaupt gibt, da die EU ohnehin nicht entlang der Kategorien des demokratischen Nationalstaats gedacht werden dürfe.5 Europa sei eben ganz einfach „keine Mehrheitsdemokratie“6 und vor allem kein „Staat im Werden“, sondern eben doch eher als eine internationale Organisation zu verstehen, die durch Aushandlungsprozesse von demokratischen Staaten bestimmt werde. Die Frage nach einem starken und demokratisch legitimierten Parlament und auch nach einer europäischen Öffentlichkeit erübrige sich somit, da beides zwar für den Nationalstaat und seine demokratische Kontrolle unabdingbar sei, aber eben nicht für die Europäische Union.

Das Demokratiedefizit als funktionales Defizit

Was hier deutlich wird, ist vor allem die Tatsache, dass sich die Diskussion um das Demokratiedefizit der EU deutlich entlang theoriebedingter Vormeinungen entfaltet hat. Dieser Zugriff lässt jedoch einen viel bedenklicheren und grundsätzlicheren Punkt unberücksichtigt, der sich der Staat-EU-Dichotomie entzieht; nämlich dass die bestehenden Verfahren demokratischer Steuerung und Kontrolle – also auch die Parlamentswahlen – auf Ebene der EU zunehmend ins Leere laufen, und zwar durch eine doppelte funktionale Abhängigkeit der europäischen Politik:

  • Erstens, wird die Politik auf der Ebene der EU noch immer von wirtschaftlichen Realitäten und Rationalitäten dominiert, die auf die Gründungsentscheidung der Anfangsjahre der Gemeinschaft zurückzuführen sind. In Zeiten der ökonomischen Krise wird die Politik durch diese Verengung auf die Marktintegration immer handlungsunfähiger.
  • Zweitens, lagert die Politik auf der Ebene der EU aber auch systematisch wesentliche Entscheidungen auf das Recht – genauer: die Rechtsanwendung – aus. Dies hat längst zu einer Überlastung des Rechts geführt.

Aus demokratietheoretischer Sicht problematisch ist diese funktionale Schwäche der Politik auf Ebene der EU nicht nur, weil hierdurch wichtige Handlungsspielräume abhandenkommen, sondern auch und vor allem weil sowohl Ökonomie als auch Recht einer direkten demokratischen Kontrolle entzogen sind bzw. weil diese indirekt über die Politik und ihre Legitimationsverfahren hergestellt werden muss. Das Demokratiedefizit stellt sich vor diesem Hintergrund zunächst einmal als ein funktionales Defizit dar und erwächst also nicht in erster Linie aus institutionellen oder strukturellen Gegebenheiten, sondern aus einer mangelnden politischen Autonomie und Gestaltung in der EU.

Die europäische Integration: ein ökonomisches Projekt?

Die zentrale Bedeutung ökonomischer Rationalitäten für die europäische Integration ist spätestens mit der Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise spürbar geworden. Zugleich lässt sich aber auch zunehmend erkennen, welche Tendenzen zur Des-Integration diese freisetzen können.7 Die Rolle einer funktionierenden Wirtschaft geht allerdings weit über die Krisen der Gegenwart, aber auch die wirtschaftspolitischen Entscheidungen der 1980er Jahre und das Binnenmarktprogramm hinaus. Viel eher ist sie auf die bewusste Gründungsentscheidung der 1950er Jahre zurückzuführen, die Einigung Europas, beginnend mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), nicht primär als politisches Projekt zu gestalten. So entschied man sich, die Integration als einen inkrementellen Prozess aufzufassen, der über Schritte der zunehmenden wirtschaftlichen Integration und Erweiterung zu einer immer engeren politischen Gemeinschaft führen sollte.

Die Entscheidung für diese sogenannte Monnet-Methode8 – die in der Politikwissenschaft ihre theoretische Entsprechung im Neofunktionalismus gefunden hat – und dafür, die Integration auf die Schultern der Wirtschaft zu legen, stellte zugleich die Weichen für die kommenden Jahre und zeigt nun zunehmend Spätfolgen. Denn der Erfolg der Integration wurde auf diesem Weg in eine direkte Abhängigkeit zum wirtschaftlichen Erfolg gesetzt; mit der Konsequenz, dass wirtschaftliche Krisen nicht nur als solche gesehen werden können, sondern auf die Integration als Ganzes durchschlagen und diese infrage zu stellen drohen. Vor diesem Hintergrund können dann auch die wenig solidarische Verhandlungsführung und das reflexhaft nationalstaatliche Gehabe – insbesondere zwischen den „großen Drei“ Deutschland, Frankreich und Großbritannien – in den Verhandlungen um Hilfs- und Rettungsmaßnamen nicht verwundern.

Dass die Konstruktionsdefizite, die zu einer Dominanz marktwirtschaftlicher Beweggründe geführt haben, bislang nicht beseitigt worden sind, lässt sich nicht zuletzt auch auf den weiterhin selektiven Transfer politisch-ökonomischer Gestaltungsmacht vom Nationalstaat auf die europäische Ebene zurückführen, der das eklatante Ungleichgewicht von wirtschaftlichen Freiheiten einerseits und sozialen Standards wie auch im Bereich des Grundrechtsschutzes andererseits fortbestehen lässt.9 Es ist zudem zu erwarten, dass das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA diese Kluft – etwa im Bereich der gerichtlichen Kontrolle oder auch auf dem Gebiet gewerkschaftlicher Organisation – weiter vergrößern wird.

Man muss sicherlich nicht soweit gehen und konstatieren, dass das „soziale Europa“ nicht stattfinde.10 Unstrittig ist jedoch die Tatsache, dass das Primat des Marktes für die EU-Politik noch immer bestimmend ist. Die Gründe hierfür sind freilich vielfältig und zu einem beträchtlichen Teil auf eine Pfadabhängigkeit der über lange Jahre einseitigen und an wirtschaftlich messbaren Gewinnen orientierten Politik seitens der Mitgliedstaaten zurückzuführen. Vor allem aber ließen sich Schritte „negativer Integration“ (im Sinne der Beseitigung von Hemmnissen eines gemeinsamen Binnenmarktes), ganz im Gegensatz zu solchen „positiver Integration“ (im Sinne von Regulierungen, die den Effekten der Marktliberalisierung und -deregulierung entgegenwirken), von jeher einfacher im Rahmen der bestehenden Entscheidungsverfahren und im Spannungsfeld nationaler Interessen verwirklichen. Aber auch der Versuch der Mitgliedstaaten durch einen Transfer von Kompetenzen auf die Ebene der EU, mit dem Ziel verloren gegangene Gestaltungsräume wiederzuerlangen, ohne dabei jedoch entsprechende Rechte des Einzelnen auf Ebene der EU zu installieren, hat zu einem Ungleichgewicht geführt, das die Politik bislang nicht beheben konnte und das unlängst auch zu einem Problem der Rechtsanwendung geworden ist.

Die Überlastung des Rechts

Ein eindrückliches Beispiel hierfür geben die Erweiterungsrunden der EU in den Jahren 2004 und 2007 ab, die die Gemeinschaft mit Blick auf den Schutz der Sozialstandards weitgehend unvorbereitet traf. Nicht, dass die Politik nicht um die Probleme wusste, die im Zuge der Öffnung des gemeinsamen Marktes für Staaten mit wesentlich niedrigerem Lohnniveau, Arbeits- und Sozialstandard erwuchsen – jedenfalls solange es zugleich keine ausreichenden Regeln zum Schutz ebendieser Standards auf Ebene der EU gab.11 Wohl aber zeigte sich die Politik unwillig oder -fähig, im Rahmen der Gesetzgebung entgegenzuwirken und wichtige Regeln gegen „Sozial­dumping“ zu verabschieden, die erforderlich gewesen wären, um ein „race to the bottom“12 zu verhindern. Für eine Vielzahl europäischer Unternehmen, die von der Niederlassungsfreiheit, dem Zugang zu günstiger Arbeitskraft und neuen Absatzmärkten profitieren, war diese Entwicklung sicherlich kein Unglück. Für die Arbeitnehmer und die eher national als europäisch organisierten Gewerkschaften bedeutete diese Entwicklung jedoch eine enorme Schwächung.

Interessant ist hierbei nun, dass die entstandenen Lücken im Rechtsschutz des Einzelnen – als Resultat politischer Versäumnisse – nicht etwa durch gesetzgeberische Nachbesserungen gefüllt wurden. Viel eher war es der Europäische Gerichtshof (EuGH), der sich mit immer weiteren Fällen im Zuge der nun konkret werdenden rechtlichen Konflikte, im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichen Freiheitsrechten und sozialen Grundrechten, konfrontiert sah. Die viel diskutierte Rechtsprechung in den Fällen Viking (2007), Laval (2007) und Rüffert (2008) oder auch Santos Palhota (2010) stellt hier nur einen kleinen Ausschnitt dar. Bei aller Kritik an der Rechtsprechung des EuGH in diesen Fällen muss man sich jedoch vor Augen führen, dass bislang die Grundfreiheiten und nicht die Grundrechte „das konstituierende Element“13 der Gemeinschaft gewesen sind. Vor diesem Hintergrund kann es dann auch kaum verwundern, dass ein Gericht, dem gemäß Art. 19 EUV die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge obliegt, die „Grundfreiheiten an den ersten Platz“14 setzt und andere grundrechtlich relevante Positionen nur weniger stark gewichten kann.15

Der Unmut über die unzureichende rechtliche Klärung, die den EuGH im Nachgang seiner Urteile in den oben genannten Rechtssachen getroffen hat, ist im Kern also durchaus berechtigt, nur traf er den falschen Adressaten. Denn in der Europäischen Union werden dem EuGH systematisch Entscheidungen aufgebürdet, die zu weitreichend und ganz einfach zu fundamental sind, als diese von einem Gericht auf der Basis von aufkommenden Einzelfällen und damit außerhalb der Mechanismen einer demokratischen Deliberation entschieden werden sollten. Dass dies so ist und immer mehr Fälle beim EuGH landen, liegt aber vor allem daran, dass die politischen Institutionen und Entscheidungsträger sich inzwischen darauf eingestellt haben, dass die Rechtsprechung im Rahmen von aufkommenden Fällen das klären wird, was sie im Unklaren lassen.16

Die Notwendigkeit einer gestaltungsfähigen Politik

Kurz, die negativen Nebeneffekte von Marktliberalisierung und -deregulierung, mit dem Ziel einen gemeinsamen Binnenmarkt zu schaffen und zu erweitern, werden also nicht nur unzureichend von der Politik bearbeitet, sie werden immer häufiger an die Rechtsanwendung durchgereicht. Da diese aber – aus guten Gründen – weder zu einer umfassenden politischen Gestaltung legitimiert ist, noch regelmäßig über einen Rechtsbestand verfügt, der eine problemangemessene Rechtsauslegung und -fortbildung erlauben würde, kann die Konsequenz nur eine Überlastung des Rechts sein.

Um Missverständnissen vorzubeugen, das Argument ist hier ausdrücklich nicht, dass mehr Kompetenzen auf die Ebene der EU übertragen werden sollten. Ziel muss es sein, die bereits bestehenden Handlungsspielräume zu nutzen. Bereiche, die von der Gemeinschaft ohnehin schon bearbeitet werden und sich daher auch in weiten Teilen der Kontrolle auf Ebene der Mitgliedstaaten entziehen, sind umfänglich politisch zu gestalten, so dass auch schwierige oder kontroverse Fragen dem demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess nicht länger entzogen sind. Dies bedeutet aber auch vermehrt Politikbereiche auf Ebene der EU zu bearbeiten, die von den Staaten als besonders sensibel aufgefasst werden, weil sie die EU als „Staat im Werden“ erscheinen lassen könnten. Denn ein Aussparen dieser im Zuge der voranschreitenden Integration aufkommenden Fragen und Probleme bringt diese nicht zum Verschwinden, sondern verlagert sie nur.

Eine politische Gestaltung, die sich nicht primär an Fragen der Marktliberalisierung abarbeitet, sondern auch die damit notwendigerweise verbundenen sozialen und grundrechtlichen Aspekte in den Blick nimmt, ist insofern als die Grundlage der demokratischen Legitimation in der EU zu sehen. Andernfalls werden selbst die bestehenden Verfahren demokratischer Steuerung und Kontrolle zunehmend ins Leere laufen. Sie werden sich zwar noch auf die Politik richten, doch werden wesentliche politische Entscheidungen an anderer Stelle getroffen.

  • 1 Die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen ist seit 1979 um 20% zurückgegangen und erreichte 2009 mit nur 43% seinen vorläufigen Tiefpunkt.
  • 2 So äußerte sich etwa der Europaabgeordnete und frühere Premierminister Belgiens, Guy Verhofstadt, kürzlich in einem Interview (Nobody wants a European super-state, in: The European, 17.3.2014, http://www.theeuropean-magazine.com/guy-verhofstadt--3/8222-guy-verhofstadt-on-the-upcoming-ep-elections). Fraglich ist in diesem Zusammenhang allerdings, ob das geringe Interesse an den europäischen Parlamentswahlen zu einem Mangel an demokratischer Legitimation führt; oder aber, ob dies nicht eher Ausdruck für ein entsprechendes Defizit ist, das eben in einem Desinteresse der Bürger an den Wahlen nur seinen Ausdruck findet.
  • 3 Vgl. A. Follesdal, S. Hix: Why There is a Democratic Deficit in the EU: A Response to Majone and Moravcsik, in: Journal of Common Market Studies, 44. Jg. (2006), Nr. 3, S. 533-562.
  • 4 Vgl. etwa J. Gerhards: Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont normativer Öffentlichkeitstheorien, in: H. Kaelble, M. Kirsch, A. Schmidt-Gernig (Hrsg.): Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt, New York 2002, S. 135-158.
  • 5 Vgl. A. Moravcsik: In Defence of the „Democratic Deficit“: Reassessing the Legitimacy of the European Union, in: Journal of Common Market Studies, 39. Jg. (2002), Nr. 2, S. 603-634.
  • 6 Vgl. F. W. Scharpf: Regieren im europäischen Mehrebenensystem – Ansätze zu einer Theorie, in: Leviathan, 30. Jg. (2002), Nr. 1, S. 84.
  • 7 Vgl. hierzu auch A. Eppler, H. Scheller (Hrsg.): Zur Konzeptionalisierung europäischer Desintegration – Zug- und Gegenkräfte im europäischen Integrationsprozess, Baden-Baden 2013.
  • 8 Der Begriff geht auf den damaligen Leiter des französischen Planungsamtes Jean Monnet (1888-1979) zurück.
  • 9 Anders ist auch die Tatsache nicht verständlich, dass die EU als eine Rechtsgemeinschaft bis zum Vertrag von Lissabon (2009) über keinen geschriebenen Grundrechtskatalog verfügte.
  • 10 M. Höpner: Das soziale Europa findet nicht statt, in: Mitbestimmung, Nr. 5, (2008), S. 46-49.
  • 11 Die EG-Richtlinie 96/71 (sogenannte Arbeitnehmerentsenderichtlinie) war hierfür keinesfalls ausreichend.
  • 12 N. Lindstrom: Service Liberalization in the Enlarged EU. A Race to the Bottom or the Emergence of Transnational Political Conflict?, in: Journal of Common Market Studies, 48. Jg. (2010), Nr. 5, S. 1307.
  • 13 H. Wißmann: Zwischenruf – Viking und Laval. EG-Grundfreiheiten über alles?, in: Arbeit und Recht, 2009, Nr. 5, S. 150.
  • 14 R. Rebhahn: Grundfreiheit vor Arbeitskampf. Der Fall Viking, in: Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht, 7. Jg. (2008), Nr. 3, S. 115.
  • 15 Vgl. auch T. Novitz: A Human Rights Analysis of the Viking and Laval Judgments, in: Cambridge Yearbook of European Legal Studies 2007-2008, 10. Jg. (2008), S. 561.
  • 16 Vgl. hierzu eingehend A. Grimmel: Europäische Integration im Kontext des Rechts, Wiesbaden 2013; ders.: Der Kontext als Schlüssel für ein angemessenes Verständnis der Integration durch Recht in Europa – am Beispiel der aktuellen Grundrechtsrechtsprechung des EuGH, in: Europarecht (EuR), 48. Jg. (2013), Nr. 2, S. 146-169.

Mit Spitzenkandidaten der europäischen Parteien für das Amt des Kommissionspräsidenten zu mehr demokratischer Legitimität?

Die im Mai 2014 stattfindenden achten Direktwahlen zum Europäischen Parlament warten mit einer Novität auf, die – so die Begründung ihrer Befürworter – die demokratische Legitimität der EU verbessern soll. Einige der Parteien auf europäischer Ebene1 haben, im Übrigen mit ganz unterschiedlichen Verfahren,2 Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten aufgestellt. Mit Blick auf eine neue Bestimmung im Vertrag von Lissabon3 erheben die Parteien den Anspruch, dass der Kandidat der bei den Wahlen siegreichen Partei vom Europäischen Rat dem Europäischen Parlament als offizieller Kandidat zur Wahl vorgeschlagen wird. Sie suggerieren damit der Wählerschaft, mit der Stimmabgabe diese Ämterbesetzung sowie – damit verknüpft – auch den künftigen politischen Kurs der EU maßgeblich beeinflussen zu können, denn die miteinander konkurrierenden Kandidaten würden für unterschiedliche politische Konzepte stehen.

In diesem Beitrag soll geprüft werden, ob die Erwartungen, dass die eben beschriebene Novität sich positiv auf die demokratische Legitimität der EU auswirkt, zutreffend und realistisch sind. Oder ob nicht vielmehr unerwünschte oder gar kontraproduktive Nebenwirkungen, die von den Befürwortern dieser Novität nicht ausreichend bedacht worden sind, zu erwarten sind. Und vor allem soll untersucht werden, ob diese Novität zu den Spezifika des politisch-institutionellen Systems der EU, wie sie in den Verträgen normiert sind und in der politischen Praxis Beachtung und Anwendung finden, passt. Zunächst soll aber, erstens, kurz in Erinnerung gerufen werden, was mit dem Befund eines gravierenden und sich gerade in den letzten Jahren zuspitzenden Demokratiedefizits der EU gemeint ist;4 auf Elemente einer solchen Mängelliste müsste die oben genannte, auf Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten bauende Strategie bezogen sein und zu antworten versuchen. Zweitens soll kurz auf neuere Ansätze zur Reduzierung des Demokratiedefizits hingewiesen und gefragt werden, was sie langfristig – wie es den Erfahrungen mit dem Rhythmus des Integrationsprozesses entspricht – für das Wirksamwerden der von der neuen Strategie erwarteten Ergebnisse bedeuten könnten.

Facetten des Demokratiedefizits der EU

Das Demokratie-Prinzip verlangt, dass die Ausübung von Herrschaft als legitim angesehen wird, also mit überzeugenden und weithin anerkannten Gründen als gerechtfertigt und anerkennungswürdig gilt. Mit der stetigen Ausweitung des Aufgabenbereichs der EG/EU erstrecken sich die „in Brüssel“ getroffenen Entscheidungen auf immer mehr Politikbereiche und haben unmittelbare Auswirkungen auf die Bürger der Mitgliedstaaten; auch für diese Herrschaftsausübung gilt demzufolge das Demokratiegebot, dessen Befolgung allerdings in vielfacher Hinsicht defizitär ist. Dazu wird angeführt:

  • Das Verhältnis der Hauptorgane Kommission, Rat/Europäischer Rat und Europäisches Parlament sei, was Funktionszuordnung und gegenseitige Kontrolle betrifft, unausgewogen. Die Exekutiven dominierten zulasten der parlamentarischen Komponente.
  • Demokratische Verfahren in den Mitgliedstaaten würden als Folge ihrer Einbindung in die EU ausgehöhlt, ohne dass auf EU-Ebene äquivalente Strukturen und Mechanismen zur Kompensation existierten. Parlamente der Mitgliedstaaten, einschließlich solcher auf regionaler Ebene, spielten bei der Behandlung von Angelegenheiten der EU nur eine marginale bzw. wenig wirkungsvolle Rolle.
  • Den Entscheidungsprozessen fehle es an Transparenz; das gelte insbesondere auch für die Rolle von Interessenverbänden. Die Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger seien gänzlich unzureichend; ihre Mitwirkung an den Wahlen zum Europäischen Parlament habe weder für Personal- noch für Sachentscheidungen eine Bedeutung. Europapolitische Themen spielten nicht nur bei nationalen Wahlen so gut wie keine Rolle; auch bei Wahlen zum Europäischen Parlament dominierten jeweils nationale Themen. Nicht zuletzt sei auch die Wahlbeteiligung bei Wahlen zum Europäischen Parlament kontinuierlich gesunken. Die input-bezogene Legitimation bleibe deshalb mangelhaft.
  • Aber auch die output-bezogene Legitimation lasse – und zwar in wachsendem Maß – zu wünschen übrig, was sich in vielfältiger Kritik an der Leistungsbilanz der EU zeige. Das Anwachsen euroskeptischer Stimmen und Tendenzen in einer Vielzahl von EU-Mitgliedstaaten bestätige diesen Befund.
  • Die Bürger in den Mitgliedstaaten – also die „Unionsbürger“ – hätten noch kein Gemeinschaftsgefühl ausgebildet. Es fehle der für eine belastbare europäische Identität erforderliche Grundkonsens; es fehle auch eine europäische Öffentlichkeit, also ein gemeinsamer öffentlicher Raum für unionsweite Kommunikation. Es existiere also noch kein europäischer Demos, gegründet auf gemeinsame Erinnerung, Erfahrung und lebendige transnationale Kommunikation. Der für eine Integrationsgemeinschaft wie die EU unerlässliche „federal spirit“ sei allenfalls in Ansätzen – und hier im Wesentlichen nur bei bestimmten Funktionseliten – vorhanden.5

Es ist unverkennbar, dass die These eines Demokratiedefizits der EU – mindestens in wesentlichen Teilen – von einem am Staat orientierten und auf wichtige Merkmale von Staatlichkeit (einschließlich des Modells parlamentarischer Regierungsweise) bezogenen Verständnis bestimmt wird. Dieser Maßstab wird der „Eigenartigkeit der EU“ – nämlich „als dynamisch angelegtes, in der Finalität nach wie vor unbestimmtes System …, dessen demokratische Legitimation über mehrere aufeinander bezogene Stränge erfolgt“6 – nicht gerecht; das ist ein Punkt, auf den bei der abschließenden Erörterung der Hauptfrage zurückzukommen sein wird, dessen Beachtung aber auch für die jetzt folgenden kurzen Hinweise auf einige neuere Ansätze zur Verbesserung der demokratischen Legitimität wichtig ist.

Neuere Ansätze zur Verbesserung der demokratischen Legitimität der EU

Solche Ansätze ergeben sich aus einer Reihe von Neuerungen im Vertrag von Lissabon. Die entsprechenden Bestimmungen bewirken keine gleichsam automatische Verbesserung der demokratischen Legitimität der EU. Sie geben aber den in der weiten Arena des EU-Systems tätigen Akteuren Anregungen und eröffnen ihnen Handlungsoptionen, die auf eine solche Verbesserung ausgerichtet sind und diese im weiteren Integrationsprozess schrittweise erreichen können. Dazu zählen die folgenden Bestimmungen:

  • Das Europäische Parlament wird signifikant gestärkt: sein Recht auf Mitentscheidung, zusammen mit dem Rat, erstreckt sich auf immer mehr Politikbereiche und weist ihm hier die Rolle eines gleichberechtigten Gesetzgebers zu. Gleiches gilt für das Haushaltsrecht. Mit dem Recht, den Kommissionspräsidenten zu wählen und das Kommissionskollegium zu bestätigen, erhält das Europäische Parlament zusätzliche Attribute eines Kreationsorgans.
  • Nationale Parlamente werden gemäß Art. 12 EUV als neue und zusätzliche institutionelle Akteure installiert.7 Die Rückbindung an die nationale Ebene kann ebenso Legitimität steigernd wirken wie mehr Kooperation zwischen dem Europäischen Parlament und nationalen Parlamenten sowie der nationalen Parlamente untereinander.8
  • Die Bestimmungen zum Subsidiaritätsprinzip in Art. 5, Abs. 3 EUV gelten jetzt nicht nur für das Verhältnis von Union zu den Mitgliedstaaten, sondern sehen explizit die Einbeziehung auch der regionalen und lokalen Ebene vor. Die sehr detaillierten Bestimmungen in Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit enthalten manches Potenzial für Legitimitätssteigerungen. Dies findet seinen Niederschlag in der Auflage an die Kommission, bei der Ausarbeitung von Rechtsetzungsvorschlägen umfangreiche Anhörungen durchzuführen, oder auch im mehrstufigen Frühwarnsystem zur Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips mit maßgeblicher Beteiligung nationaler Parlamente, die gute Kommunikationsbeziehungen unterhalten müssen, um sich erfolgreich einzuschalten.
  • Den Unionsorganen wird aufgegeben, Bürger, repräsentative Verbände und die Zivilgesellschaft bei der Behandlung von EU-Angelegenheiten im Sinne von Good Governance9 angemessen einzubeziehen. Speziell die Kommission wird verpflichtet, Anhörungen mit Betroffenen durchzuführen.
  • Die in Art. 11, Abs. 4 EUV neu eingeführte Europäische Bürgerinitiative als ein Instrument direkt-demokratischer Beteiligung enthält – trotz überaus komplizierter Verfahrensvorschriften – Innovationspotenzial für die Intensivierung transnationaler Kommunikationsprozesse.10

Die aufgeführten Ansätze können, ganz im Sinn des oben zitierten Plädoyers von Andreas Maurer, als aufeinander bezogene Stränge, über die demokratische Legitimation erfolgen kann, verstanden werden. Andere, teils schon länger bestehende und wirkende Stränge treten hinzu, wie etwa die große Zahl intermediärer EU-weiter Organisationen, die im EU-System Funktionen wahrnehmen, die ihnen auch im nationalen staatlichen Kontext zugeschrieben werden, darunter auch Legitimitätsbeschaffung. Oder die Parteien auf europäischer Ebene, die auf der Grundlage des europäischen Parteienstatuts seit 2004 aus Haushaltsmitteln der EU mitfinanziert werden und deren Tätigkeit durch mit ihnen verbundene europäische Stiftungen, die seit 2007 auf der gleichen Grundlage finanziert werden, unterstützt wird. Legitimitätsbeschaffung kann dabei nur schrittweise, in einem auf lange Frist angelegten Prozess, erfolgen. Welchen Beitrag dabei das Konzept, bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten zu präsentieren, leisten kann, soll abschließend diskutiert werden.

Legitimitätsschub für die EU durch Spitzenkandidaten der europäischen Parteien?

Überlegungen, Spitzenkandidaten zu präsentieren, waren bereits für die Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 angestellt, aber nicht realisiert worden. Unabhängig davon, aber in die gleiche Richtung weisend, wurde für eine stärkere (Partei-)Politisierung der Wahlen und des Europäischen Parlaments plädiert. So hatte der britische Politikwissenschaftler Simon Hix die Konsensorientierung des Europäischen Parlaments kritisiert und sich für mehr Konfrontation ausgesprochen (das Europäische Parlament brauche „mehr erkennbare Gewinner und Verlierer“).11 Dann würden auch die Wähler mehr Interesse an der Wahl haben. Bereits damals konnte bezweifelt werden, ob diese Art von Politisierung und Konfrontation mit der politisch-institutionellen Architektur der EU vereinbar ist. Diese Zweifel sind, wie zu zeigen sein wird, unverändert gültig.12

Die mit europäischen Spitzenkandidaten verbundene Personalisierung und Politisierung – die Kandidaten stehen für die je unterschiedlichen Programme ihrer jeweiligen europäischen Partei und konkurrieren mit ihnen gegeneinander – würden den Wahlkampf bereichern und könnten so die Wahlbeteiligung steigern. Das wirft mehrere Fragen auf: wie deutlich profiliert und dabei unterschiedlich sind die Programme, als wie attraktiv und glaubwürdig werden die Kandidaten und ihre Programme EU-weit wahrgenommen, wird es einen wirklich europäischen Wahlkampf geben, bei dem nicht – wie bisher – primär nationale Themen dominieren? Und was wäre die Folge, wenn programmatische Ankündigungen und Versprechen nicht umgesetzt würden, wenn sich die Wähler später also gleichsam düpiert vorkommen müssten?

Für die Würdigung des neuen auf Spitzenkandidaten setzenden Ansatzes ist sodann ein Blick auf die politisch-institutionelle Architektur der EU erforderlich, also auf Stellung und Funktion der Organe Kommission, Europäisches Parlament und Rat/Europäischer Rat sowie – unter maßgeblicher Berücksichtigung praktischer Erfahrungen – ihres Verhältnisses zueinander.

  • Die Kommission hat vor allem die Aufgabe, Initiativen zur europäischen Gesetzgebung vorzubereiten (sie berücksichtigt dabei die Realisierungschancen in Rat und Europäischem Parlament) und für die Umsetzung des Unionsrechts zu sorgen und sie zu überwachen. Neuerdings sind zusätzliche Kontroll- und Monitoring-Aufgaben gegenüber Mitgliedstaaten hinzugekommen: bezüglich der Haushaltsdisziplin in der Eurozone, (als Mitglied der Troika) was die Einhaltung der Auflagen für Schuldnerländer angeht und hinsichtlich von mit Grundprinzipien der EU (wie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Gewaltenteilung) unvereinbaren Praktiken, einschließlich von Korruption. Die Verträge definieren die Kommission als unabhängig, d.h. Vertrauen in ihren Sachverstand und ihre Unabhängigkeit gelten als Voraussetzung für ihre Funktionsfähigkeit.
  • Die Kommission ist ein Kollegialorgan, das mit Mehrheit – gegenwärtig also 15 Mitglieder – entscheidet. Sie unterscheidet sich von der Regierung in einem parlamentarischen Regierungssystem, indem sie sich nicht dauerhaft und verlässlich auf eine politische Gefolgschaft im Europäischen Parlament stützen kann; es gibt dort weder (Regierungs-)Mehrheit noch Opposition.
  • Der Kommissionspräsident hat zwar im Kollegium eine herausgehobene Stellung, entspricht aber weder einem Regierungschef (ausgestattet mit politischer Richtlinienkompetenz) noch einem Parteiführer. Er kann die Mitglieder seines Kollegiums nicht frei berufen (die Regierung jedes Mitgliedstaats nominiert, im Einvernehmen mit dem Kommissionspräsidenten, ein Kommissionsmitglied) und bleibt hier weitestgehend von den Regierungen der Mitgliedstaaten abhängig. Er ist auch nicht der Anführer eines (festen) Koalitionsbündnisses, bei dessen Bildung er die führende Rolle gespielt hat und dessen Programm seine politische Handschrift trägt.
  • Das Europäische Parlament ist primär auf den Rat – und eben nicht auf die Kommission – ausgerichtet, denn beide müssen bei der Rechtsetzung und der Entscheidung über den Haushalt zusammenwirken. Vorrangiges Ziel des Europäischen Parlaments ist es, sich gegenüber dem Rat zu behaupten. Dazu müssen im Europäischen Parlament Mehrheiten gebildet werden, was bei der starken Fragmentierung (gegenwärtig gibt es sieben Fraktionen, zusätzlich etwa 4% nicht-gebundene Abgeordnete) in der Regel das Zusammengehen der beiden größten Fraktionen zur Folge hat. In dieser Konstellation ist die Konsensorientierung funktional und zwingend; bei Konfrontation würde dem Europäischen Parlament, das dem Rat als Ganzes gegenübersteht, ein Bedeutungsverlust drohen. Es gibt keine festen Fronten im Europäischen Parlament; vielmehr werden von Fall zu Fall Absprachen getroffen, die sich auf die (vielfach proportionale) Besetzung von Ämtern und auf Sachfragen beziehen.
  • An der Fragmentierung wird sich auch im neuen Europäischen Parlament (2014 bis 2019) nichts ändern.13 Damit wird es auch bei der Konsensorientierung und dem Zwang zum Zusammengehen der beiden großen Fraktionen (EVP und Sozialdemokraten) bleiben. Wenn, was sich politisch abzeichnet und in den Prognosen bestätigt wird, der Anteil euroskeptischer Abgeordneter und Parteien steigt – ohne dass schon klar ist, zu welchen Fraktionsbildungen es bei ihnen kommen wird –, kann das zentripetale Tendenzen, also das Zusammengehen der beiden großen Fraktionen, nur noch mehr fördern.
  • Was den Rat und vor allem den Europäischen Rat angeht, so hat sich seine Stellung und damit das Gewicht der intergouvernementalen Komponente im Entscheidungsgefüge der Union, in den letzten Jahren erkennbar verstärkt. Das ging auch zulasten des Initiativrechts der Kommission. Auch ein noch so ehrgeiziger Kommissionspräsident wird es nicht vermögen, die Unionsentwicklung in eine Richtung zu lenken, die die in vielfacher Hinsicht heterogenen Interessen und Präferenzen der Mitgliedstaaten ignoriert und deutlich von ihnen abweicht. Dafür müsste er zunächst eine Mehrheit seines Kollegiums gewinnen und sich der Unterstützung einer stabilen Mehrheit im Europäischen Parlament sicher sein. Beides erscheint angesichts der Konstellation des Parteienspektrums ganz und gar unrealistisch.
  • Zunächst wird es aber, unmittelbar im Anschluss an die Wahlen Ende Mai 2014, um die Bestimmung des neuen Kommissionspräsidenten gehen. Das Vorschlagsrecht hierfür liegt beim Europäischen Rat, der das Wahlergebnis berücksichtigen soll. In den ebenfalls vorgesehenen Konsultationen muss eruiert werden, ob einer der vorab bestimmten Kandidaten – realistischerweise kommt dafür nur ein Kandidat einer der beiden stärksten Gruppen in Frage – von einer Mehrheit im Europäischen Parlament, also durch Absprache zwischen den Fraktionen, unterstützt wird und Chancen hat, gewählt zu werden. Zeichnet sich kein Einvernehmen ab, sind verschiedene Szenarien denkbar: Einvernehmen über einen alternativen Kandidaten, der dann mit ausreichender (absoluter) Mehrheit gewählt wird; Verfehlen der Mehrheit für den vorgeschlagenen Kandidaten, mit der Folge, dass der Europäische Rat einen neuen Vorschlag unterbreiten muss; eine länger dauernde gegenseitige Blockade von Europäischem Rat und Europäischem Parlament.

Für die Beantwortung der Frage, ob durch konkurrierende europäische Spitzenkandidaten ein Legitimitätsschub für die EU bewirkt werden kann, ergibt sich aus dem Gesagten ein negatives Ergebnis. Auf Politisierung und eine konfrontative Strategie zu setzen, ist nur auf den ersten Blick ein Erfolg versprechender Ansatz. Selbst wenn die Wahlbeteiligung, nach einem intensiv geführten europäischen Wahlkampf, ansteigen sollte, würde sich schon bald Ernüchterung und Enttäuschung einstellen. Die Wähler würden unverändert zu Zeugen von intransparenten Aushandlungsprozessen (mit dem wahrscheinlichen Ziel und Ergebnis einer Paketlösung bei der Entscheidung über mehrere neu zu besetzende höchste Ämter) und sie würden rasch erfahren, dass die von den Kandidaten gemachten politisch-programmatischen Verheißungen nicht umgesetzt werden könnten. Eine Verbesserung der demokratischen Legitimität würde nicht erreicht. Der Hauptgrund dafür ist, dass der neue Ansatz nicht zur politisch-institutionellen Architektur der EU passt und – wider besseres Wissen – den Charakter eines auf Ausgleich, Konsens und Kompromiss ausgerichteten politischen Systems negiert. Als Alternative, eine Verbesserung der demokratischen Legitimität der EU zu erreichen, bietet sich an, die vielfältigen vorhandenen Ansätze zielstrebig und geduldig zu verfolgen und weiterzuentwickeln.

  • 1 Das ist die im Vertrag von Maastricht eingeführte Bezeichnung für die europaweiten Zusammenschlüsse von Partei-„Familien“, die im Vorfeld der ersten Direktwahlen 1979 begründet wurden und deren Zahl mittlerweile auf 13 gestiegen ist. Der Vertrag von Lissabon formuliert dazu in Art. 10(4) EUV: „Politische Parteien auf europäischer Ebene tragen zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union bei.“
  • 2 Bei den Sozialdemokraten/Sozialisten (PES) gab es nur einen Kandidaten (den Präsidenten des Europaparlaments Martin Schulz), für den 91% der Delegierten votierten. Bei der EVP setzte sich in einer Kampfabstimmung Jean-Claude Juncker (ehemaliger Ministerpräsident Luxemburgs) gegen den Franzosen Michel Barnier (Binnenmarkt-Kommissar) durch (382 zu 245 Stimmen). Die Liberalen nominierten Guy Verhofstadt (ehemaliger belgischer Ministerpräsident) und zogen ihn dem Finnen Olli Rehn (Vizepräsident der Kommission), ihrem zweiten Kandidaten, der – zunächst – für ein anderes von einem liberalen Politiker zu besetzendes Spitzenamt vorgesehen ist, vor. Die Grünen führten eine offene Online-Auswahl, mit enttäuschend geringer Beteiligung (nur 22 676 Personen), unter insgesamt vier Kandidaten durch und bestimmten als Doppelspitze zwei Abgeordnete des Europäischen Parlaments: die Deutsche Ska Keller (11 791 Stimmen) und den Franzosen José Bové (11 726 Stimmen), während die Fraktionsvorsitzende im Europäischen Parlament, Rebecca Harms, 8170 und die Italienerin Monica Frassoni (sie ist Ko-Vorsitzende der Europäischen Grünen Partei und Mitglied im Europäischen Parlament) 5851 Stimmen erhielten. Als Spitzenkandidat der Linken wurde der Grieche Alexis Tsipras bestimmt.
  • 3 In Art. 17(7) EUV heißt es: „Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder.“
  • 4 Spätestens seit den 1980er Jahren, verstärkt seit dem Übergang der EG in die EU – mit dem Vertrag von Maastricht – nimmt die These eines Demokratiedefizits der Integrationsgemeinschaft einen prominenten Platz als Thema der wissenschaftlichen und politischen Diskussion um die EG/EU ein. Einen guten Überblick dazu geben beispielsweise I. Tömmel: Das politische System der EU, München, Wien 2003, S. 244-270; B. Kohler-Koch, T. Conzelmann, M. Knodt: Europäische Integration – Europäisches Regieren, Wiesbaden 2004, S. 193-226; G. Abels, A. Eppler, J. Träsch: Zum „Demokratiedefizit“ der EU – und wie es sich (nicht) abbauen lässt, in: Der Bürger im Staat 3-2010 (Europa Konkret – Wie die EU funktioiniert), S. 256-266.
  • 5 Auf die Bedeutung dieses Faktors hat bereits in der Frühzeit des Integrationsprozesses C. J. Friedrich („Europe: An Emergent Nation?“, New York, Evanston 1969, insbesondere Kap. 2 „European Consensus and Community Structure: A Federal Potential?“, S. 24-46; 1972 erschien die deutsche Fassung unter dem Titel „Europa – Nation im Werden?“) hingewiesen, kam dabei aber bereits damals zu sehr viel positiveren Einschätzungen und Schlussfolgerungen. M. Burgess („In Search of the Federal Spirit. New Theoretical and Empirical Perspectives in Comparative Federalism“, Oxford 2012) hat sich jüngst wieder – und nicht in erster Linie auf die EU bezogen – mit diesem Faktor beschäftigt und kommt, was die EU in ihrer heutigen Verfassung und Gestalt betrifft, zu einem gleichfalls positiven Ergebnis. Er unterstreicht, dass wir es hier mit langfristig angelegten Sozialisations- und Lernprozessen zu tun haben.
  • 6 A. Maurer: Der Preis der Stärke, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung („Die Gegenwart“) vom 21.10.2013, S. 7. Maurer stellt seine Ausführungen unter die beiden folgenden Fragen: „Sollte sich die institutionell-politische Ordnung der Europäischen Union stärker in Analogie zur Verfassungswirklichkeit der Mitgliedstaaten entwickeln? Oder wäre es nicht sinnvoller und aufrichtiger, die Maßstäbe zur Bewertung und Reform der EU entlang ihrer Verfassung als mehrstufig geordnetes System zu definieren?“ Seine Präferenz wird in der zweiten, von ihm rhetorisch gemeinten Frage ausgedrückt.
  • 7 Protokoll Nr. 1 über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union enthält Details zur Unterrichtung der nationalen Parlamente (Art. 1-8) und zur Zusammenarbeit zwischen den Parlamenten (Art. 9 und 10).
  • 8 Das erfolgt insbesondere im Rahmen von COSAC, der 1989 gegründeten Konferenz der EU-Ausschüsse in den nationalen Parlamenten.
  • 9 Das war bereits im Governance-Weißbuch der Kommission von 2001 im Einzelnen ausgeführt worden.
  • 10 Vgl. dazu R. Hrbek: Die Europäische Bürgerinitiative: Möglichkeiten und Grenzen eines neuen Elements im EU-Entscheidungssystem, in: integration, Nr. 1/2012, S. 35-50.
  • 11 Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8.6.2009. Der stärksten Partei, also Fraktion, sollte mehr Macht zugebilligt werden, etwa die Anwartschaft auf die ersten fünf oder gar zehn Ausschussvorsitzenden.
  • 12 H. Grabbe und S. Lehne geben einem im britischen Think Tank „Centre for European Reform“ im Oktober 2013 erschienenen Beitrag zu den Wahlen des Europäischen Parlaments 2014 den Titel „Why a partisan Commission president would be bad for the EU“.
  • 13 Darin stimmen im Wesentlichen alle Prognosen – beispielsweise PollWatch 2014 – überein.

EU-Wahl: mit Spitzenkandidaten zu Spitzenergebnissen?

Es ist paradox: das Europäische Parlament wird immer bedeutsamer als Ko-Gesetzgeber; gleichzeitig verlieren die Bürger das Interesse: Seit der ersten Wahl 1979 sank die Wahlbeteiligung kontinuierlich von 63% auf 43% im Jahr 2009. Das soll sich dieses Jahr ändern: die meisten Parteigruppen im Europäischen Parlament treten erstmals mit „Spitzenkandidaten“ an, die der Wahl ein gesamteuropäisches Gesicht geben sollen. Vor allem soll die seit dem Lissabon-Vertrag gesteigerte Bedeutung des Parlaments dadurch zum Ausdruck kommen, dass der siegreiche Spitzenkandidat dann auch EU-Kommissionspräsident werden sollte – oder könnte. In Art. 17 Abs. 7 EU-Vertrag heißt es: „Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament“.

Wird der erfolgreiche Spitzenkandidat Kommissionspräsident?

Das Ergebnis der EU-Wahlen bringt also keineswegs direkt und automatisch den neuen EU-Kommissionspräsidenten hervor; der Vorschlag kommt nach wie vor vom Rat der Staats- und Regierungschefs. Das Ergebnis der EU-Wahlen dürfte auch nicht so eindeutig sein, dass sich ein Spitzenkandidat geradezu aufdrängt. Laut gesamteuropäischen Umfragen1 liegt momentan die Gruppe der „European Socialists“ (S&D, bestehend aus 53 sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien der Mitgliedstaaten) gleichauf mit der Europäischen Volkspartei (EVP: 74 Parteien aus dem mitte-rechts gelagerten Spektrum ihrer Länder). Alle anderen Parteien mit Spitzenkandidaten sind deutlich kleiner.

Damit gibt es zwei aussichtsreiche „Spitzenkandidaten“ für den Posten als Kommissionspräsident: der jetzige Parlamentspräsident Martin Schulz für die Sozialdemokraten und der am 7. März 2014 von der EVP gekürte Jean-Claude Juncker, der in Luxemburg als Spitzenkandidat und Premierminister im Dezember 2013 gescheitert ist – obwohl seine Partei die meisten Sitze bekam. Ähnlich kann es auch im Europaparlament kommen. Weder die Sozialdemokraten hinter Schulz noch die Volkspartei hinter Juncker können mit viel mehr als 30% der Stimmen rechnen. Dennoch haben auch kleine Parteigruppen wie die Grünen und die Liberalen ihre „Spitzenkandidaten“ benannt – zur Sicherheit sogar gleich zwei (für die Liberalen der ehemalige belgische Premierminister Guy Verhofstadt und der Vizepräsident der EU-Kommission Olli Rehn; für die Grünen die Europaabgeordneten Ska Keller und José Bové). Die europäische Linke tritt mit dem charismatischen Troika-Gegner Alexis Tsipras an.

Sollten am Ende die Liberalen und einige andere mitte-rechts Abgeordnete Juncker unterstützen und die Grünen sowie einige andere mitte-links Abgeordnete Schulz, reichte auch dies jeweils nur für etwas über 40% der Stimmen. Dies vor allem deshalb, weil die EU-skeptischen Parteien, die weder Schulz noch Juncker unterstützen dürften, mit 20% bis 30% der Sitze rechnen können. Am Ende könnte es deshalb dazu kommen, dass sich die Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer (und eine große Koalition im Europäischen Parlament) auf einen Dritten einigen müssten – und die „Spitzenkandidaten“ mit jeweils zweitbesten Posten zu versorgen wären: Martin Schulz etwa als „Hohen Vertreter“ für EU-Außenpolitik und Jean-Claude Juncker als EU-Ratspräsident. Ohne Geschacher und eine mögliche Diskreditierung der Idee eines „Spitzenkandidaten“ und damit der Vorspiegelung einer „normalen“ Parlamentswahl, die mit ihrer Mehrheit eine Regierung stellen könnte, wird es nach der Wahl deshalb kaum ausgehen. Es gibt aber noch weitere Gründe, weshalb man die sicher gut gemeinte Idee, die Europawahl mit Spitzenkandidaten interessanter und relevanter zu machen, durchaus kritisch betrachten kann.

Wer steht wofür?

Wahrscheinlich werden die jeweiligen „Spitzenkandidaten“ fast nur in ihren Heimatländern plakatiert werden, wo sie einigermaßen bekannt sind und von ihrer Heimatpartei auch unterstützt werden. Martin Schulz wird sicher nicht von Plakaten der britischen Labour Partei lächeln (Labour unterstützt seine Kandidatur auch explizit nicht). Zudem wird wohl auch die konservative Partei Griechenlands den ehemaligen Euro-Gruppenchef Jean-Claude Juncker als ihren Spitzenkandidaten nicht sonderlich herausstellen.

Es ist weder Zufall noch anti-europäischer Wille, wenn nahezu alle 162 im Europäischen Parlament vertretenen Parteien ihr jeweiliges nationales Europawahlprogramm verabschiedet haben und oft zusätzlich mit nationalen Spitzenkandidaten in die Wahl gehen. Das kann auch kaum anders sein. Nehmen wir das Beispiel Eurobonds oder Schuldentilgungsfonds – sicher ein wichtiges Thema in Deutschland, aber auch in allen anderen Ländern der Eurozone und der EU. Wie steht dazu die EVP? Das kommt darauf an. CDU und erst recht CSU sind dagegen; viele ihrer südlichen Schwesterparteien sind freilich dafür; selbst die liberale Fraktion im Europäischen Parlament war mehrheitlich eher dafür – während die FDP damit Werbung macht, in Deutschland Eurobonds verhindert zu haben. Die europäischen Sozialisten sind noch klarer dafür; die SPD dagegen ist es nicht (mehr). Die EU-Spitzenkandidaten dieser Parteien werden sich also, wenn sie durch verschiedene Länder reisen, entweder ins Unverbindliche („mehr Europa“) flüchten oder jeweils deutlich andere Reden halten müssen – sonst gibt es Ärger mit ihren nationalen Parteifreunden und deren Wählerschaft.

Skurrile Elefantenrunde

Gespannt sein darf man auch auf die erste europaweit ausgestrahlte TV-Debatte der Spitzenkandidaten. Werden alle sieben Parteigruppierungen eingeladen? Auch die, die bewusst auf einen Spitzenkandidaten verzichtet haben (wie etwa die konservative ECR-Gruppe)? Und: In welcher Sprache soll debattiert werden? Schulz, Juncker, Verhofstadt und Keller könnten sich gut auf Deutsch unterhalten – das käme aber in Frankreich gar nicht gut an. Also entweder alle in angelerntem Englisch oder jeder in seiner Sprache – dann gerät aber die Debatte zu einem Kampf der Dolmetscher und wäre kaum wirklich spannender als eine Ausschusssitzung im EU-Parlament.

Eine Elefantenrunde zwischen Schulz, Juncker, Verhofstadt und Bové könnte auch ungewollte Nebenwirkungen entfalten – etwa in Großbritannien. Bei so viel geballtem EU-Föderalismus der Spitzenkandidaten wäre am Ende wahrscheinlich Nigel Farage der unbeteiligte Gewinner. Reichlich sarkastisch kommentierte kürzlich der Parteiführer der EU-feindlichen UKIP einen Auftritt der EU-Kommissarin Viviane Reding, er würde ihr gerne eine ganze Vortragstour in Großbritannien bezahlen, weil es keine bessere Wahlhilfe geben könne.

Elitendiskurs und EU-Skepsis

Auch in Deutschland wird der Wahlkampf wohl eine harzige Angelegenheit werden. Worüber wollen sich Schulz und Juncker vor deutschem Publikum streiten? Sie schätzen sich gegenseitig und denken auch recht ähnlich.2 Beide werden auch von Angela Merkel und Sigmar Gabriel nahezu gleichermaßen geschätzt, die zudem wiederum gemeinsam regieren und schon im Bundestagswahlkampf, als sie sich noch offen streiten durften, europapolitische Themen weitreichend gemieden haben. Das spricht schon in Deutschland für eine geringe Wahlbeteiligung mangels Mobilisierung der Anhänger der großen Parteien und für ein überdurchschnittliches Abschneiden der EU-kritischen Opposition von Die Linke und AfD.

In anderen Ländern sieht es ähnlich aus, wie eine aktuelle Studie von DB Research zeigt.3 Die EU-skeptischen Parteien am rechten und am linken Rand des politischen Spektrums dürften dieses Jahr so stark abschneiden wie nie zuvor. Das hat sicher vielerlei Gründe, nicht zuletzt die Wirtschaftskrisen, für die viele den Euro oder die Aktionen zur Eurorettung verantwortlich machen. Jedenfalls sind die Zustimmung zur EU und das Vertrauen in Institutionen der EU nach allen Umfragen deutlich zurückgegangen.4 Das gilt zumindest für die EU-Bürger. Dass gleichzeitig zur EU-Parlamentswahl auch die Ukraine am 25. Mai 2014 wählt, ist vielleicht kein Zufall; es zeigt aber, dass die EU auch viel bieten und starke Hoffnungen wecken kann (was genau dies für die Ukraine sein wird, ist eine ganz andere Frage).

Die Diskrepanz der Meinungen der europäischen Politik­elite und der EU-Bürger bleibt ein Problem. Fast alle Spitzenkandidaten gehören zur Elite der „Brussels Bubble“. Fast alle werden dafür werben, das Europäische Parlament zu stärken, der EU mehr Kompetenzen zu geben und das EU-Budget zu erhöhen. Genau das ist aber nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Frankreich und in Teilen inzwischen selbst in Deutschland keine Mehrheitsmeinung, wie etwa auch eine aktuelle YouGov-Umfrage zeigt.5 Der Auftritt der Spitzenkandidaten kann diese Diskrepanz eher noch deutlicher machen und damit, entgegen der ursprünglichen Absicht, entweder zu noch größerer Wahlenthaltung oder zur Wahl EU-skeptischer Parteien führen.

Was bewirken die EU-Skeptiker?

Die zu erwartenden 20% bis 30% der Stimmen für EU-skeptische Parteien im rechten wie auch linken Spektrum werden die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments nicht sonderlich beeinträchtigen. Linke werden nicht mit rechten EU-Skeptikern und Nationalisten kaum mit anderen Nationalisten effektiv zusammenarbeiten können. Eine wirksame „Skeptiker-Fraktion“ wird so im Europäischen Parlament (und damit vor allem in seinen Ausschüssen) kaum entstehen.

Die Auswirkung der verstärkten Präsenz EU-skeptischer Parteien ist eine zweifache:

  1. Sie wird die beiden großen Fraktionen im Europäischen Parlament (EVP und S&D) dazu zwingen, noch mehr als „große Koalition“ zusammenzuwirken. Dies geschah schon jetzt in der ablaufenden Legislaturperiode des Europäischen Parlaments in etwa 70% der Fälle. Nur bei etwa jeweils 15% der Abstimmungen wurde eine linke (rot-grüne) oder rechte (schwarz-gelbe) Mehrheit organisiert. Das Europäische Parlament wird damit in vielen wichtigen Fragen zwar mit großen Mehrheiten, aber basierend auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner sprechen.
  2. Sie wird in einigen EU-Mitgliedstaaten (und damit über den Ministerrat) zu stärker nationalen und EU-skeptischen Positionen der Regierungen führen. Dies dürfte für Frankreich und Großbritannien gelten, aber auch für Griechenland, Österreich, Finnland oder Dänemark, wo EU-skeptische Parteien große Wahlerfolge erzielen dürften.

Parteipolitisierung der EU-Kommission?

Auch hinsichtlich möglicher Konsequenzen im Governance-Gefüge der EU könnte sich die Europawahl mit Spitzenkandidaten der Parteigruppierungen im Europäischen Parlament als heikel, vielleicht sogar schädlich erweisen.6 Vor allem drei Gründe sprechen dafür:

  1. Ein EU-Kommissionspräsident, der seinen Posten dem Erfolg seiner Parteiengruppe zu verdanken hätte, wäre dieser und seinen eigenen Wahlversprechen auch verpflichtet; sonst machte er sich unglaubwürdig. Die Aufgabe der Kommission ist aber nicht die Ausführung parteipolitischer Programme, sondern europäischer Verträge. Die Kommission wurde bewusst als „Hüterin der Verträge“ und als neutrale Schiedsrichterin der Einhaltung von Verpflichtungen der Mitgliedstaaten „entpolitisiert“. Diese Position oberhalb der Parteien und Nationen ist gerade jetzt entscheidend, da die Kommission als Teil der Troika, als Überwacher von Staatshaushalten und Leistungsbilanzüberschüssen, als Verteiler von Fonds, als Genehmigungsinstanz für Fusionen und Subventionen, gravierende und kontroverse politische Entscheidungen zu treffen hat. Je mehr sie (oder ihr Präsident) dabei als Parteivertreter angesehen wird, desto schlechter kann sie dieser Aufgabe nachkommen, ohne in Verdacht zu geraten, parteipolitische Versprechen einzulösen, anstatt allgemeines Recht zu entwickeln und durchzusetzen.
  2. Überhaupt muss man im Auge behalten, dass die EU-Kommission keine „normale Regierung“ ist. Der Kommissionspräsident stellt weder einen Koalitionsvertrag noch ein eigenes Regierungsprogramm auf; er leitet und repräsentiert die Verwaltung. Sein „Kabinett“ stellt er auch nicht selbst zusammen; jedes Mitgliedsland bestellt einen der (viel zu vielen) 28 Kommissare. Schon deshalb entspricht auch die politische Tendenz der Kommission eher den politischen Mehrheiten in den jeweiligen Mitgliedstaaten und nicht der Mehrheit des Europäischen Parlaments.
  3. Die Aufstellung von Spitzenkandidaten kann dazu führen, dass sich die Auswahl geeigneter(er) Kandidaten reduziert. Bisher einigten sich die Staats- und Regierungschefs auf einen Vorschlag für den Kommissionspräsidenten, der über Landes- und Parteigrenzen hinweg akzeptabel war und über langjährige Regierungserfahrung verfügte. Das Verhandeln hinter den Kulissen entspricht sicher nicht den Ansprüchen an ein demokratisches und transparentes Verfahren; auch war es wohl nicht immer ein Garant für Qualität. Nun aber verringert sich die Auswahl (wenn das Verfahren so ernst genommen wird, wie vom Europäischen Parlament verlangt) fast notwendig auf zwei aus den beiden großen Parteigruppen. Die beiden liberalen Kandidaten, Verhofstadt und Rehn, wären vielleicht gute Kandidaten gewesen – zumal als Lösung in der Mitte, wenn Sozialisten und Volkspartei in etwa gleich abschneiden. Würde jetzt aber ein liberaler „Spitzenkandidat“ gekürt, würde dies „das Ergebnis der Wahl“ genau nicht „berücksichtigen“. Hinzu kommt, dass geeignete Kandidaten aus dem Kreis erfolgreicher und amtierender Regierungschefs kaum mehr zu finden wären. Sie würden riskieren, sich im Wahlkampf zu verbrauchen, auf der europäischen Bühne zu verlieren und damit ihre nationale Karriere aufs Spiel zu setzen.

Mit all dem ist nichts über die Qualitäten von Martin Schulz oder Jean-Claude Juncker gesagt. Beide könnten gute EU-Kommissionspräsidenten werden; sie kennen das Geschäft – vielleicht zu gut. Auch ist die Idee, die Europawahlen bedeutsamer zu machen, nicht an sich falsch. Man muss jedoch sehen: Das Ganze kann leicht in die falsche Richtung gehen. Es kann zu absurden Verkrampfungen im Wahlkampf führen, die die Diskrepanzen zwischen der Brüsseler Elite und EU-Bürgern noch deutlicher werden lassen und damit sogar zu einer geringeren Wahlbeteiligung und einem stärkeren Anteil der auch populistischen EU-Skeptiker führen. Und: Es kann zu einer Parteipolitisierung der Kommission führen, die ihrer eigentlichen Rolle als Hüterin der Verträge nicht gerecht wird. Überspitzt gesagt: Die Kommission braucht keine Parteisoldaten als Spitzenkandidaten, sondern kompetente Langweiler als Spitzenbeamte.

Das Problem liegt woanders

Das Problem mit dem Problem fängt bereits damit an, dass die Kritiker der EU sich überhaupt nicht einig darüber sind, was eigentlich das sogenannte „Demokratiedefizit“ der EU genau ausmacht. Am einfachsten erscheinen dabei noch die Klagen darüber, dass das Europäische Parlament nicht über die üblichen Rechte der Parlamente der Mitgliedstaaten verfüge, also insbesondere das Recht zur Gesetzesinitiative oder zur Wahl der Regierung. Schon grundlegender ist die Kritik unter anderem auch des Bundesverfassungsgerichts, der EU fehle es an demokratischer Legitimation, weil die Gewichtung der Stimmen bei Wahlen zum Europäischen Parlament von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausfalle und so insbesondere die kleinsten Mitgliedstaaten wesentlich bevorzuge. So benötige man für die Wahl eines Abgeordneten in Luxemburg rund 30 000 Stimmen, während es in Deutschland rund 300 000 sind. Fundamental aber wird die Kritik mit der Behauptung, die Europäische Union könne nie ein richtiges demokratisches Fundament erhalten, weil ihr der „Demos“, das Wir-Gefühl, die gemeinsame Identität fehle. Europa verfüge weder über eine gemeinsame Sprache, Kultur, Tradition oder Geschichte, noch sei es in der Lage, (je) diese Voraussetzungen selbst zu schaffen (Wirklich? Siehe Krim). Die fundamentalste Kritik schließlich geht noch einen Schritt weiter: Nicht nur sei die Europäische Union unfähig, sich ein demokratisches Fundament zu schaffen; sie untergrabe auch noch die nationalen Demokratien, indem sie den Mitgliedstaaten Zuständigkeiten entreiße und so die nationale Politik aushöhle.

Entsprechend vielfältig sind auch die aus dem letzten Vorwurf erwachsenden Schlussfolgerungen. Mittlerweile kann man auf einer Zeitungsseite gleichzeitig den Vorwurf lesen, die EU sei – etwa in der Energie- oder Umweltpolitik – zu schwach, die Probleme zu lösen, und den, sie mische sich viel zu stark in die nationale Politik ein, Stichwort etwa das Rauchverbot in Restaurants und Kneipen. Entsprechend garstig reagiert die Bevölkerung denn auch inzwischen auf Umfragen zur EU und zu ihrer Politik. Trotz aller nationalen Unterschiede sind zwar nach wie vor satte Mehrheiten davon überzeugt, dass die Europäische Einigung dem Kontinent Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht habe. Je konkreter aber die Fragen nach der Politik der EU ausfallen, desto weniger Zustimmung erhält sie. Und seit der Wirtschaftskrise 2007/08 ff. geraten sogar die Kernbereiche der Einigung – neben der gemeinsamen Währung nicht zuletzt die Freizügigkeit der Bürger im Binnenmarkt – wieder massiv unter Druck.

Aus „Defizit“ wird auf diese Weise „Krise“ und in dieser „neuen Unübersichtlichkeit“ nimmt es nicht Wunder, dass die Zahl jener zunimmt, die sich heim ins Paradies des klassischen Nationalstaates wünschen. So ist guter Rat teuer. Man kann natürlich versuchen, die kritisierten Fragen und Probleme anzugehen. So kann man dem Europäischen Parlament ein Gesetzesinitiativrecht geben oder die Kommission oder doch wenigstens ihren Präsidenten aus der Mitte des Parlaments wählen lassen. Auch mag man versuchen, die Stimmgewichtung anzugleichen, auch wenn das in der Tendenz dazu führt, die (vielen) Kleinstaaten zu marginalisieren und das Parlament zu vergrößern. Diese Reformen würden sicherlich die demokratische Qualität der europäischen Politik verbessern, sie veränderten aber am Grundproblem – an Defizit und Krise – kaum etwas.

Abbildung 1
The Choice for Europe
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Adaption von Reijn Dirksens (1924-1999) bekanntem holländischem Poster. Es gewann 1950 den europäischen Marshall Plan Poster Wettbewerb über „Intra-European Co-operation for a Better Standard of Living“ (vgl. http://nation-building.jeremisuri.net/germany.htm) und dient der EU als Europasymbol. Die Schiffsflaggen wurden 1998 auf dem Buchumschlag an die der EU 15 von Maastricht angepasst und der Merkur am Bug beseitigt, da er mit dem US Adler verwechselt wurde.

Quelle: Cover von Andrew Moravcsik: The Choice for Europe, Ithaca, NY 1998. Wir danken Cornell University Press für die Gestattung des Nachdrucks.

Warum ist das so? Ganz einfach: Das Problem liegt woanders. Der klassische demokratische Rechts- und Interventionsstaat etwa der 1960er und 1970er Jahre hat üblicherweise die Herstellung wichtiger öffentlicher Güter wie etwa Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit oder Wohlfahrt monopolisiert. Das hieß, drei wesentliche Verantwortungen wurden in den vielfältigen nationalen Verwaltungen der Daseinsvorsorge gebündelt. Die seinerzeitige Deutsche Bundespost stellte z.B. dem Bürger einen Telefonanschluss aus einer Hand zur Verfügung. Das umfasste erstens die Organisationsverantwortung, also die Her- und Bereitstellung der Dienstleistung von der Verlegung des Kabels über die Vermittlung der Gespräche bis hin zur Abrechnung der Gebühren. Zweitens besaß die Bundespost die Entscheidungsverantwortung darüber, wie die Dienstleistung nach Maßgabe des entsprechenden Bundesgesetzes auszugestalten war. Die Bundespost wurde nicht reguliert, sondern war selbst die zuständige Verwaltung. Drittens wurde ihr von der Bevölkerung die Letztverantwortung für eine angemessene Versorgung mit Kommunikationsdiensten zugeschrieben. Brach das Telefonnetz zusammen, war klar, wer dafür die Verantwortung zu tragen hatte: der Bundespostminister in Bonn. Und der trat öfter zurück.

Das hat sich in den letzten drei Jahrzehnten – unter dem Druck diverser Großtrends wie Globalisierung, Individualisierung oder demografischem Wandel – geändert. Die Organisationsverantwortung liegt heutzutage häufig genug bei privaten Akteuren. Gleichzeitig entwickelte sich in diesen Bereichen eine neue Regulierungsbürokratie – so etwa die Bundesnetzagentur oder das Bundeseisenbahnamt –, deren Zuständigkeiten nicht selten in erheblichem Umfang auf supra- oder internationale Institutionen übertragen worden sind, die Entscheidungsverantwortung wurde also auf mehrere Schultern verteilt. Man denke nur an die europäische Telekommunikationsregulierung im Binnenmarktprogramm. Die Letztverantwortung aber verblieb immer beim Nationalstaat. Als Siemens sich jahrelang nicht in der Lage sah, eine funktionierende Technik für die Umsetzung der LKW-Maut auf deutschen Autobahnen bereitzustellen, musste seinerzeit Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee zurücktreten, nicht etwa Peter Löscher, der Vorstandsvorsitzende von Siemens.

Diese Aufspaltung der Verantwortungsbereiche und ihre Verlagerung auf unterschiedliche Akteure und Einrichtungen hat enorme Konsequenzen. Zunächst wird deutlich, dass sich bei Problemen und Krisen der Blick der Bevölkerung immer auf die nationale Hauptstadt richtet. Sowohl bei der Weltwirtschaftskrise 2007/2008 ff. als auch bei der sogenannten Eurokrise 2010 galten die Hoffnungen der Bevölkerung auf Rettung nicht dem Internationalen Währungsfonds oder der Europäischen Kommission und schon gar nicht dem Bundesverband deutscher Banken, sondern Nicolas Sarkozy oder Angela Merkel, vielleicht noch Merkozy. Wer auch immer unter normalen Umständen Zuständigkeit besitzt – wenn es zur Krise kommt, gilt nach wie vor der Nationalstaat als (all-)zuständig.

Entsprechend bleiben auch die üblichen nationalstaatlichen „Lösungen“ im Gespräch. Als aus der amerikanischen Hypothekenkrise eine Weltwirtschaftskrise und schließlich eine Eurokrise geworden war, verlangten viele, Griechenland solle „aus dem Euro austreten“, eine neue Drachme einführen, sie um mindestens 30% abwerten und so wieder wettbewerbsfähig werden. Dass Abwertungen in einem gemeinsamen Markt wie Lohndumping wirken, aber nicht mit höheren Zöllen beantwortet werden können, blieb unbeachtet. Genauso die Frage: Warum soll eine abgewertete neue Drachme für Griechenland die Lösung des Problems darstellen, während uns in Bremen mit einer höheren Pro-Kopf-Staatsverschuldung als in Griechenland noch niemand vorgeschlagen hat, den „Roland“ als neue Währung einzuführen, ihn um 30% abzuwerten und das als Problemlösung zu verkaufen? Als in den 1970er und 1980er Jahren in Nordrhein-Westfalen die Kohle- und Stahlindustrie und an der Küste die Werften zu kriseln begannen, hat keiner von einer D-Mark-Krise gesprochen. Eine Krise des politischen Systems Griechenlands, eine Immobilien- und Bankenkrise in Spanien sowie schwaches Wirtschaftswachstum in Portugal gelten heute aber sofort als Eurokrise. Und diese Krisenbehauptungen wird es auch in Zukunft ständig geben. Der Euro ist keine staatliche, „souveräne“ Währung. Dass (West-)Deutschland sich eine Währung gab, galt nicht nur als selbstverständlich, sondern wird bis heute – Stichwort Währungsreform 1948 – als politische Meisterleistung von Ludwig Erhard gefeiert. Dass der Geltungsbereich der D-Mark nie – auch vor 1990 – ein „optimaler Währungsraum“ gewesen ist, interessierte nur wenige Experten. Der Euro aber ist in dieser Hinsicht nicht selbstverständlich und daher ständig Rechenschaft schuldig, solange er aus nationaler Perspektive betrachtet wird. Dass die alten nationalen Rahmenbedingungen aber schon lange nicht mehr vorhanden sind, wird im „nationalen Blick“ geflissentlich übersehen.

Wie problematisch das werden kann, zeigt sich auch am Bundesverfassungsgericht. Seit Jahren wird praktisch jede wichtige Entscheidung zur Europäischen Integration fast routinemäßig Karlsruhe vorgelegt. Das klassische nationalstaatliche Verfassungsverständnis geht davon aus, dass das Grundgesetz klare Maßstäbe vorgibt, an denen Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft werden können. Das Grundgesetz gibt einen Maßstab vor, demgemäß dann das politische System die konkrete Problemlösung erarbeitet. Das mag auf nationaler Ebene noch möglich sein. Die mehr und mehr vorherrschenden Mehrebenen-Governance-Systeme supra- und internationalen Regierens haben aber keine verfestigten Verfassungen, sondern sind erst im Aufbau begriffen. Dort führt Problemlösung erst zu Verfassungsaufbau. Aus nationaler Sicht sieht das alles wie verfassungswidrig oder -kritisch aus. Die Alternative heißt aber, vor diversen Problemen die Augen zu verschließen, den deutschen Michel zu spielen und zu hoffen, diese Probleme möchten uns doch bitte über die Brücke des Zustimmungsgesetzes verlassen, wenn schon das EU-Recht nicht über diese Brücke zu uns kommen darf. Auch hier helfen uns die alten nationalen Rahmenbedingungen nicht mehr weiter. Neue Sichtweisen braucht das Land.

Wie sehr das der Fall ist, zeigt ferner die Entwicklung neuer nationalistischer, rechtspopulistischer oder rechtsextremistischer Parteien. Die traditionellen rechtsextremen Parteien verlangen üblicherweise den Austritt aus internationalen Organisationen und die Rückkehr zur „vollen nationalen Souveränität“. So auch die deutsche NPD. Im Gegensatz dazu verlangen die italienische Lega Nord oder der belgische vlaams blok zwar die Aufspaltung ihrer jeweiligen Staaten. Gleichzeitig möchten sie aber mit ihrem Staatsteil eigenständiges Mitglied der EU – und auch anderer supra- und internationaler Organisationen – bleiben. Das lässt aufhorchen. Hier bricht sich der traditionelle Nationalismus an der Globalisierung und spaltet sich in Globalisierungsgewinner und -verlierer auf. Auf diesem Hintergrund ist dann alles andere als klar, was Erfolge bestimmter Parteien bei den Wahlen zum Europäischen Parlament bedeuten. Die Auseinandersetzungen innerhalb der Alternative für Deutschland (AfD) machen deutlich, wie schwierig mittlerweile eine entsprechende Positionsbestimmung werden kann.

Was schließlich zu der Frage führt: Was signalisieren denn die Wahlen zum Europäischen Parlament letztlich? Die traditionelle Demokratietheorie geht davon aus, dass der Wähler mit seiner Stimmabgabe jene Repräsentanten bestimmt, die ihm die seinen Interessen entsprechenden Politikergebnisse versprochen haben. Die sozialwissenschaftliche Forschung zu den Europawahlen weist jedoch nach, dass der überragende Erklärungsfaktor für die Wahlergebnisse seit 1979 das Abstrafen der jeweiligen nationalen Regierung darstellt. Blitzableiter Europa. Europapolitische Fragen spielten bislang jedenfalls praktisch keine Rolle.

Es hilft nichts. Wir werden noch auf Jahrzehnte die Defizite und Krisen Europas beklagen, ganz einfach deshalb, weil wir die Europäische Union unter einer nationalstaatlich gefärbten Brille betrachten. Aber selbst bei der unwahrscheinlichen Annahme, dass Europa über kurz oder lang als eine Art föderaler Staat gesehen werden wird, gäbe es kein einfaches Zurück mehr zum Daseinsvorsorgemonopolisten Staat. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass eine „europäisierte Deutsche Bundespost“ wieder alle drei Verantwortungen – Organisations-, Entscheidungs- und Letztverantwortung – unter einem gemeinsamen Verwaltungsdach vereinigen könnte? Und dass dies auch noch zu einer besseren Versorgung führen würde?

Es gibt kein Zurück zum autonomen, souveränen Nationalstaat, der es sich leisten kann, innen und außen strikt zu trennen und beide Sphären unterschiedlich zu behandeln. Dazu sind die Reichweiten gesellschaftlicher Tätigkeiten mittlerweile viel zu weit über die nationalen Grenzen hinausgewachsen. Der August 1914 hat gezeigt, dass auch hohe Handelsverflechtung den Nationalismus nicht zu zügeln vermag. Insofern mag es theoretische Zurück-Optionen immer noch geben. Und die funktional definierten Mehrebenen-Governance-Systeme bedeuten eben auch nicht das Ende des Nationalstaats. Jeder Schritt zurück ins nationale Schneckenhaus ist aber gleichbedeutend mit dem Verlust gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit, letzten Endes mit dem Verlust an Wohlfahrt. Demokratische politische Systeme müssen für derlei Einschränkungen gute Gründe finden – die Europäische Einigung ist kein solcher Grund!

Europa fällt uns nicht einfach in den Schoß. Es bleibt nichts anderes übrig, als es jeden Tag von neuem aktiv mitzubauen. Wer anderes behauptet, wähnt sich auf der faulen nationalen Haut ausruhen zu können. Insofern mag sogar ein relativer Wahlerfolg der AfD bei den Wahlen zum Europäischen Parlament das kleinere Übel sein, weil er einen wichtigen Schritt hin zu einer Bedeutungsänderung der Europawahlen markiert: Zum ersten Mal seit 1979 spielt ein europäisches Thema die erste Geige bei der Wahlentscheidung.

Title:On the Eve of the European Parliament Elections: How Can the EU’s Democratic Legitimacy Be Strengthened?

Abstract:The EU suffers from a democratic deficit that arises not first and foremost from a lack of institutional competencies, but rather from the double weakness of politics vis-à-vis economics and law at the European level. This “functional democratic deficit” renders the existing mechanisms of democratic control increasingly ineffective. Especially for its citizens, a politically integrated Europen Union might be difficult to grasp, and it may only be reached gradually through a continuous process of dynamic development; however, “United in Diversity” seems to be the better alternative, and not only for historical reasons. The direct elections for the European Parliament, although not denying deficits of democratic legitimacy and participation at the Union level, should not be underestimated in their legitimising influence for the Union as an associated structure of members without obvious hierarchies.

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DOI: 10.1007/s10273-014-1664-z

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