Im Rahmen eines „klassischen keynesianischen Modells“ kommt Hans-Werner Sinn zu dem Ergebnis, dass kreditfinanzierte Staatsausgaben den induzierten Steuermehrertrag immer übertreffen. Permanente Restdefizite ließen daher die Schulden sowohl absolut als auch im Verhältnis zum Sozialprodukt ins Unendliche wachsen. Der Autor hält den Ansatz für kausalanalytisch fraglich sowie den Multiplikator für kreislauftheoretisch unzureichend spezifiziert. Nach seiner Modellvariante beschert ein Steuersatz ab einer Mindestmarke dem Fiskus Einnahmen, die größer als das Defizit ausfallen.
In der Auseinandersetzung um die zielführende wirtschaftspolitische Strategie zum Abbau der Arbeitslosigkeit werden immer wieder Stimmen laut, die betonen, mit Konjunkturprogrammen auf Pump könne so viel Wachstum geschaffen werden, dass die Staatsschulden letzten Endes überhaupt nicht zunehmen. Gandenberger hat für dieses scheinbar widersinnige Phänomen den Begriff „Konsolidierungsparadox“ geprägt: Unter bestimmten Bedingungen führt eine kreditfinanzierte Mehrnachfrage des Fiskus „infolge ihres expansiven Effekts über ihre Beschäftigungswirkungen zu Haushaltsverbesserungen in ihrer eigenen Größenordnung: die Defizite konsolidieren sich selbst.“1 Oberhauser nennt den gleichen Sachverhalt „Schuldenparadox“2. Die Zusatzeinnahmen oder die Minderausgaben etwa aufgrund geringerer Transferleistungen müssen dabei freilich nicht unbedingt zur Tilgung der aufgelaufenen Verbindlichkeiten eingesetzt werden.3
Hans-Werner Sinn hat kürzlich das umrissene Selbstfinanzierungspotenzial fiskalischer Impulse bestritten: Im Rahmen eines „klassischen keynesianischen Modells“ möchte er demonstrieren, dass steigende Staatsausgaben auf Darlehensbasis (ΔG) zwar einen Sozialproduktzuwachs (ΔY) und damit bei einem positiven marginalen Steuersatz (t) auch vermehrte Steuereinnahmen (ΔT) hervorrufen, „doch sind die zusätzlichen Steuereinnahmen stets kleiner als die Erhöhung der Staatsausgaben.“ 4
Die Konsequenzen der von Sinn unterstellten bloßen Teildeckung der Konjunkturspritze erscheinen auf den ersten Blick in der Tat gravierend: „Es verbleibt also ein festes Defizit der Größe ΔG - ΔT > 0 für jede Periode, während Y auf dem neuen, um ΔY höheren Niveau verbleibt. Da die Schulden pro Periode um das Defizit steigen, wächst die Schuldenquote im Zeitablauf grenzenlos an.“5 Die Selbstfinanzierung einer expansiven Fiskalpolitik erweise sich folglich als Schimäre; man könne sich so wenig wie der Lügenbaron Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. „Deficit Spending“ à la Keynes beschwöre langfristig den Untergang im Meer roter Zahlen herauf.
Wegen der außerordentlich hohen wirtschaftspolitischen Bedeutung der behaupteten Dauerhaftigkeit von Deckungslücken im Etat präsentiert Sinn seine Kritik zu Recht in einer Form, die ein Nachrechnen erlaubt. Die Steuereinnahmen steigen in Sinns Modell gemäß der Formel:
Wendet man einen Multiplikator (m) auf die schuldenfinanzierte öffentliche Mehrausgabe ΔG an, wird daraus:
Sinn präsentiert eine Multiplikatorformel, in der neben dem Steuersatz t die Konsumquote c (0 < c, t < 1) auftaucht:
Mit diesem Term glaubt Sinn, seine These belegen zu können. Wegen Gleichung (2) erfordert ΔT < ΔG:
Die Berücksichtigung von Gleichung (3) bringt:
Daraus resultiert zunächst:
Die Umformung führt zu:
Die Ungleichung (7) wird stets erfüllt, da der Steuersatz annahmegemäß unter 100% liegt (t < 1). Ein bekräftigendes „qed“ rundet die Sinnsche Argumentation ab. Allerdings widmet sich der Autor im Unterschied zu der detaillierten Wiedergabe der Vereinfachung von Gleichung (5) nur am Rande der Ermittlung des Multiplikators (3). Die Herleitung delegiert Sinn in eine Fußnote. Das dort zu findende Räsonnement läuft auf die angenommene Gültigkeit der folgenden Gleichung hinaus:
Sortieren und Dividieren liefert einen „Staatsausgabenmultiplikator“, der sich in Wahrheit aber nur auf eine Defizitvariation bezieht:
Jedoch ist zweifelhaft, ob die obigen formalen Ausdrücke wirklich keynesianische Überlegungen widerspiegeln. Tatsächlich kennzeichnet sich die Botschaft der „General Theory“6 (unter anderem) dadurch, dass der Abbau monetärer Aktiva (in den Lehrbüchern oft in Höhe der autonomen Unternehmensinvestitionen) das Sparvolumen im Sinne einer Geldvermögensbildung determiniert.7 In Sinns Modell übt allein der Staat die autonome Nachfrage aus, die sich in die betragsgleiche private Ersparnis verwandelt. Deswegen muss in diesem Rahmen mangels anderer Akteure ein Fehlbetrag im Etat ΔG vorliegen, damit die Bürger überhaupt Kaufkraft zur Seite legen können. Da das Gesamteinkommen immer das Produkt eines positiv mit der Konsumquote und dem Steuersatz korrelierten Multiplikators einerseits und einer fixen, diskretionär bestimmten Ausgabensumme andererseits ist, bricht im vorliegenden Fall die Wirtschaft zusammen, wenn der Staat kein Haushaltsloch in Kauf nimmt.8 So gesehen ist der Modellrahmen von Sinn zu eng, um die Selbstfinanzierungsthese zu prüfen. Ferner überzeugt der analytische Ansatz nicht, mit dem der durchaus interessanten Frage nachgegangen wird, wie das Größenverhältnis zwischen den induzierten Steuerzuwächsen und dem Defizit ausfällt.
Saldenmechanik und Schuldendynamik
In der geschlossenen Kreditgeldwirtschaft beträgt die Summe des Geldvermögens null; Forderungen und Verbindlichkeiten müssen sich decken. In der folgenden Gleichung kommt dies durch die Übereinstimmung des links verzeichneten Abbaus monetärer Aktiva mit dem rechts auftretenden Sparen aus dem zusätzlich verfügbaren Einkommen zum Ausdruck:
Daraus gewinnt man sofort den gleichgewichtskompatiblen Defizitmultiplikator (m*):
Offenkundig ist m* größer als m.9 Die Umformung der Gleichung (11) zeigt zudem, dass im Unterschied zu Gleichung (8) nun die induzierten Steuereinnahmen (tΔY) wieder in den Kreislauf zurückgeführt werden:
Die einkommenswirksame Ausgabe der dem Fiskus in die Kasse gespülten Mittel ist jedoch nicht nur kreislauftheoretisch korrekt, sondern auch konjunkturpolitisch opportun, wenn es gilt, die wirtschaftliche Aktivität nach Kräften anzuregen. Eine Schuldentilgung in der Krise erweist sich hingegen in Theorie und Praxis als kontraproduktiv.
Mit dem Multiplikator m* gilt jedoch die in Ungleichung (4) genannte Bedingung für die Sinnsche Behauptung nicht mehr ausnahmslos. Vielmehr übersteigt der Steuermehrertrag die Kreditaufnahme für:
Dies mündet in:
Daraus ergibt sich als weiterer Zwischenschritt:
Schließlich erhält man als Bedingung, die ΔT > ΔG gewährleistet:
Ein Steuersatz, der die konsumquotenabhängige Untergrenze überschreitet, beschert dem Fiskus in der betrachteten Periode einen Ertragszuwachs, der größer als die Neuverschuldung ist. Dies kann man im Sinne der eingangs erwähnten Haushaltsverbesserung interpretieren, da die Einnahmestruktur sich zugunsten des regulären Steueraufkommens verändert. Davon profitiert die Bonität des Staates als Kreditnehmer.
Die Differenz ΔT - ΔG > 0 sollte freilich nicht in die Tilgung aufgelaufener Verbindlichkeiten fließen, solange der Zweck der Übung aussteht: ein durch Akzelerator- und Multiplikatorprozesse geprägter selbsttragender Aufschwung, in dem die (hier nicht modellierten) privaten inländischen autonomen Ausgaben (oder der Export) Budgetdefizite ersetzen.10 Allerdings ist mit einem kontraktiv wirkenden Abbau der Staatsschuld nolens volens oft ein geringeres Volumen von typischerweise risikoarmen Wertpapieren verknüpft, die manche Anleger durchaus halten wollen.
Indes stellt „Deficit Spending“ nicht bloß eine kurzfristig zu verabreichende Medizin gegen Konjunkturdepressionen dar. Grundsätzlich profitiert die Bevölkerung zyklusübergreifend von sogenannten Primärdefiziten im Etat, denn die Bürger erhalten dann pauschal betrachtet mehr an öffentlichen Gütern als ihnen per Zwangsabgabe genommen wird. Schon deshalb dürfen systematische Deckungslücken im Haushalt kein Tabu sein.11 Fremdfinanzierte öffentliche Ausgaben sind geeignet, Nutzen zu stiften und sie erfüllen aus kreislauftheoretischer Sicht die gleiche wichtige Funktion wie die autonome Nachfrage der anderen Sektoren: Das Ausmaß des Geldvermögensabbaus determiniert bei gegebenem Defizitmultiplikator das Niveau der ökonomischen Aktivität. Der Kapitalismus ist und bleibt ein schuldengetriebenes System. Und wenn die Privaten zu wenig rote Zahlen schreiben, muss es der Staat tun, um Schlimmeres zu verhüten.
Selbst bei absolut zunehmenden Verbindlichkeiten des Fiskus droht keineswegs zwangsläufig das Verderben: Domar hat gezeigt, dass die Schuldenquote stagniert oder fällt, sofern die nominale Wachstumsrate des Sozialprodukts nicht unter dem Zinssatz liegt, den die öffentliche Hand für Kredite zahlt.12 Es kommt demnach entscheidend darauf an, für eine solche Relation zu sorgen, um trotz eines kontinuierlichen Anstiegs der aufgenommenen Darlehenssumme die Schuldenquote und die Zinslast im Zaum zu halten. Eine entsprechend agierende Notenbank trägt zum Gelingen bei.13
Ein richtig betriebenes Schuldenmanagement fördert die Wohlfahrt selbstverständlich nur in dem Maße, wie der Fiskus das ihm von den Gläubigern freiwillig anvertraute Geld bedarfsgerecht verwendet. Der Kredit, den der Staat genießt, sollte nicht in Anspruch genommen werden, um ihn zu verspielen. Doch das ist kaum strittig, Sonstiges wohl.
- 1 O. Gandenberger: Thesen zur Staatsverschuldung, in: K.-H. Hansmeyer (Hrsg.): Staatsfinanzierung im Wandel, Berlin 1983, S. 848.
- 2 A. Oberhauser: Das Schuldenparadox, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 200, 1985, S. 333-348.
- 3 Vgl. W. Scherf: Das Schuldenparadox, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium (WiSt), 15. Jg. (1986), S. 621.
- 4 H.-W. Sinn: Eine Anmerkung zur Selbstfinanzierungsthese und zum keynesianischen Modell, in: ifo-Schnelldienst, 67. Jg. (2014), H. 23/2014, S. 3.
- 5 Ebenda.
- 6 J. M. Keynes: The General Theory of Employment, Interest and Money, London 1936.
- 7 Vgl. F. Helmedag: Die Beschäftigungstheorie von Keynes: Dichtung und Wahrheit, in: Jenseits der Orthodoxie, Ansätze für einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftstheorie, zusammengestellt von U. Busch, in: Berliner Debatte Initial, 23. Jg. (2012), H. 3, S. 63-76. Die Neoklassik sieht die Kausalität genau umgekehrt. Vgl. F. Helmedag: Wohlfahrtsmehrung durch Konsumverzicht: Leere Versprechungen und falsche Ratschläge, in: A. Wagner, U. Heilemann (Hrsg.): Empirische Makroökonomie und mehr, Festschrift zum 80. Geburtstag von Karl Heinrich Oppenländer, Stuttgart 2013, S. 55-70.
- 8 Die Variation eines voll steuerfinanzierten Etats hat zwar einen Multiplikatorwert von eins (vgl. T. Haavelmo: Multiplier Effects of a Balanced Budget, in: Econometrica, 13. Jg. (1945), S. 311-318), kann aber einen fehlenden einkommensunabhängigen Ausgabenblock nicht ersetzen.
- 9 Überdies hängt wegen der uniformen Konsumquote aller Einkommensbezieher das Sozialprodukt nicht von der funktionellen Verteilung ab. Es liegt damit ein völlig unrealistischer Spezialfall vor, der gleichwohl in der makroökonomischen Literatur dominant ist. Tiefere Einsichten in die Zusammenhänge vermittelt F. Helmedag: Möglichkeiten und Grenzen einer beschäftigungsfördernden Lohnpolitik, in: J. Kromphardt (Hrsg.): Die Finanz- und Wirtschaftskrise und ihre Überwindung, Schriften der Keynes-Gesellschaft, Bd. 6, Marburg 2013, S. 145-158.
- 10 Vgl. hierzu Scherf, der den von Sinn benutzten Multiplikator m erweitert. W. Scherf: Selbstfinanzierungseffekte antizyklischer Finanzpolitik, in: Ökonomenstimme, 2015, http://oekonomenstimme.org/a/780/.
- 11 Vgl. F. Helmedag: Staatsschulden als permanente Einnahmequelle, in: Wirtschaftsdienst, 90. Jg. (2010), H. 9, S. 611-615. Im Übrigen entsteht in einer Welt, die nur Lohnempfänger und Profitbezieher kennt, ebenfalls in jeder Periode ein Zahlungsmittelbedarf der Unternehmen im Umfang des jeweiligen Arbeitersparens. Obwohl sich dadurch das Geldvermögen der Kapitalisten verringert, erhöht sich bei hinreichend hohen Investitionen ihr Reinvermögen. Vgl. F. Helmedag: Effektive Nachfrage, Löhne und Beschäftigung, in: J. Kromphardt (Hrsg.): Keynes‘ General Theory nach 75 Jahren, Schriften der Keynes-Gesellschaft, Bd. 5, Marburg 2012, S. 93-106.
- 12 E. D. Domar: The „Burden of the Debt“ and the National Income, in: The American Economic Review, 34. Jg. (1944), S. 798-827. Vgl. im Einzelnen F. Helmedag: Mit der Schuldenbremse zum Systemcrash, in: D. Gesmann-Nuissl, R. Hartz, M. Dittrich (Hrsg.): Perspektiven der Wirtschaftswissenschaften, Wiesbaden 2014, S. 123-137.
- 13 Vgl. F. Helmedag: Monetäre (Un-)Ordnung als Ursache von Finanzmarktkrisen, in: U. Busch, G. Krause (Hrsg.): Theorieentwicklung im Kontext der Krise, Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Bd. 35, Berlin 2013, S. 179-193.