Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Die chinesische Wirtschaft – in den vergangenen Jahren der wichtigste Wachstumsmotor der Weltwirtschaft – hat deutlich an Dynamik verloren. Wachstumsraten von mehr als 10% gehören bereits seit der globalen Finanzkrise 2008 der Vergangenheit an. Mit Hilfe einer expansiven Geldpolitik und umfangreichen staatlichen Ausgabenprogrammen gelang es der Regierung zwar zunächst, die Expansionsraten hoch zu halten. Dies führte allerdings zu einer enormen Zunahme der Verschuldung, Überkapazitäten in der Industrie und einer Überhitzung am Immobilienmarkt, die eine Konsolidierung erforderlich machen. Die Frage, ob dieser Anpassungsprozess graduell vonstatten geht („weiche Landung“) oder zu größeren Verwerfungen führt („harte Landung“) wird seit Längerem diskutiert und kann noch nicht endgültig beantwortet werden. Vieles spricht jedoch dafür, dass das Trendwachstum in den vergangenen Jahren nachgelassen hat. Die jüngsten Kursverluste an Chinas Börsen haben zudem die Sorge gemehrt, dass es sogar zu einem konjunkturellen Einbruch kommt. Die aktuellen Indikatoren senden allerdings gemischte Signale.

Im ersten Quartal 2015 hatte das chinesische Bruttoinlandsprodukt (BIP) lediglich um 1,4% zugenommen. Dies ist die niedrigste Rate seit Ende 2008, als die internationale Finanzkrise auf ihrem Höhepunkt war. Die chinesische Regierung reagierte, indem sie abermals die Leitzinsen senkte sowie den Mindestreservesatz lockerte. Wohl auch als Folge der wirtschaftspolitischen Stimuli der vorangegangenen Monate legte das BIP im zweiten Quartal mit 1,7% wieder etwas stärker zu. Die Vorjahresrate blieb unverändert bei 7%. Auch einige der monatlich verfügbaren Indikatoren deuteten zuletzt auf eine leichte Belebung hin: Die Industrieproduktion zog an, die Umsätze im Einzelhandel legten im Vergleich zum Vorjahr ebenfalls wieder etwas stärker zu, und die von dem schwächelnden Immobiliensektor stark in Mitleidenschaft gezogenen Anlageinvestitionen haben sich offenbar stabilisiert. Gegen eine starke Belebung spricht allerdings, dass der Caixin-Einkaufsmanagerindex (vorher: HSBC-Einkaufsmanagerindex) im August 2015 auf ein Zweijahrestief gefallen ist.

Andere Aktivitätsindikatoren nähren darüber hinaus den Verdacht, dass das Ausmaß der konjunkturellen Abkühlung durch die offiziellen Produktionszahlen unterschätzt wird. So zeigt der „Keqiang“-Index, der die wirtschaftliche Aktivität anhand der Variablen Energieverbrauch, Kreditvergabe und Eisenbahnfrachttonnen misst,1 derzeit eine ausgeprägte Abkühlung an (vgl. Abbildung 1). Dem Index zufolge bilden die offiziellen Produktionszahlen zwar den Trend korrekt ab, den Konjunkturzyklus stellen sie jedoch zu glatt dar. Gleichwohl dürfte dieser Indikator die Volatilität der gesamtwirtschaftlichen Aktivität aufgrund seines Fokus auf die Schwerindustrie überzeichnen.

Abbildung 1
China: Bruttoinlandsprodukt und „Keqiang“-Index
30621.png

BIP: Quartalsdaten, Vorjahresrate. „Keqiang“-Index: arithmetisches Mittel monatlicher Indikatoren zu Kreditvergabe, Eisenbahnfrachtverkehr und Stromverbrauch, Vorjahresrate.

Quelle: Nationales Statistikbüro, Datastream; eigene Berechnungen.

Zweifel, inwieweit die offiziellen Zahlen die wirtschaftliche Expansion am aktuellen Rand korrekt wiedergeben, ergeben sich auch aus der im internationalen Vergleich ungewöhnlichen Entwicklung des Verhältnisses zwischen implizitem BIP-Deflator und Verbraucherpreisindex.2 Die Differenz zwischen Verbraucherpreisinflation und der Veränderungsrate des BIP-Deflators verändert sich in Ländern, die per Saldo in großem Umfang Rohstoffe importieren, in der Regel im Einklang mit den Rohstoffpreisen: Bei sinkenden Rohstoffpreisen, wie sie zuletzt zu verzeichnen waren, weist der BIP-Deflator eine höhere Inflation aus als der Verbraucherpreisindex, da ersterer lediglich die Preisentwicklung der heimischen Produktion abbildet, wohingegen letzterer auch die relativ billiger gewordenen importierten Güter berücksichtigt. Diese Entwicklung ist in Deutschland und auch in den USA derzeit zu beobachten, nicht aber in China, obwohl auch dort – ungeachtet der bedeutenden heimischen Rohstoffproduktion – netto in großem Umfang Rohstoffe importiert werden. Insofern als die Statistikbehörden die Effekte niedriger Importpreise in der Berechnung des BIP-Deflators nicht adäquat berücksichtigen, wird die reale Zuwachsrate des BIP pari passu überschätzt.

Schließlich spricht auch die anhaltende Schwäche der chinesischen Importe dafür, dass die Binnenkonjunktur langsamer expandiert als offizielle Statistiken suggerieren. Zwar dürften die von den chinesischen Zollbehörden erfassten nominalen Zahlen, die seit Jahresbeginn durchgehend negative Jahresraten im zweistelligen Bereich aufweisen, zumindest teilweise mit dem drastischen Rückgang der Rohstoffpreise zu erklären sein. Dass hinter den schwachen Importen jedoch mehr als nur reine Preiseffekte stecken, zeigen die preisbereinigten Zahlen des vom niederländischen Centraal Planbureau (CPB) bereitgestellten World Trade Monitor: Demnach sind die realen Importe der asiatischen Schwellenländer insgesamt,3 die von der Entwicklung in China dominiert werden, seit Jahresbeginn in der Tendenz rückläufig und waren in den ersten fünf Monaten 2015 rund 2% niedriger als im selben Vorjahreszeitraum. Der Eindruck einer schwachen Binnenkonjunktur wird durch rückläufige Absatzzahlen der Automobilhersteller in China bestätigt, die zuletzt im Jahresvergleich sogar negative Zuwachsraten verbuchten.

Besorgnis über die konjunkturellen Aussichten löste zuletzt auch die Entwicklung an Chinas Aktienmärkten aus. Mitte Juni 2015 brachen die Kurse an allen großen chinesischen Börsen massiv ein. Auch eine erneute Zinssenkung der Zentralbank, staatlich verordnete Aktienkäufe durch die China Securities Finance Corporation und ein Verbot von Leerverkäufen konnten den Kursverfall nicht stoppen, so dass kurz darauf annähernd die Hälfte aller Aktien komplett vom Handel ausgesetzt wurde. Zwar entspannte sich die Lage zunächst und die meisten Aktien wurden wieder zum Handel freigeben, die Regierung setzte ihre Stützkäufe jedoch fort und die Kurse erholten sich leicht. Ende Juli kam es jedoch zu erneuten Einbrüchen, als der Shanghai Composite Index an einem Tag über 8% nachgab – der stärkste Rückgang in sieben Jahren. Insgesamt liegen die Notierungen damit um mehr als 30% unter den Mitte Juni erreichten Höchstwerten.

Abbildung 2
China: Aktienmärkte
Index: 1.1.2015 = 100, wöchentliche Daten
30710.png

Quelle: Datastream.

Die Auswirkungen auf die Konjunktur dürften indes begrenzt sein. Dem Rückgang der Kurse ging ein kräftiger Anstieg voraus, so dass der Preisverfall bisher eher den Charakter einer kurzfristigen Korrektur hat. Auch nach dieser Korrektur liegen die Kurse noch spürbar über ihren Werten zu Jahresbeginn (vgl. Abbildung 2). Zudem dürfte der Rückgang der Aktienkurse das Konsumklima kaum belasten. Zwar ist die Anzahl der neueröffneten Aktiendepots im Zuge des Booms deutlich gestiegen, was ein Indiz für eine größere Zahl an Kleinanlegern an den Märkten ist. Haushaltsumfragen zufolge waren im ersten Quartal 2015 jedoch nicht mehr als 6% der chinesischen Haushalte überhaupt im Besitz von Aktien.

Alles in allem wird die konjunkturelle Dynamik in China wohl verhalten bleiben und die Produktion dürfte vorerst in einem ähnlichen Tempo zulegen wie es durchschnittlich in der ersten Jahreshälfte zu verzeichnen war. Trotz der deutlichen Kursverluste an den Aktienmärkten spricht derzeit wenig für einen massiven Einbruch der Konjunktur. Gleichwohl haben die jüngsten Entwicklungen an den Aktienmärkten die Grenzen der Regierung, stabilisierend auf die Finanzmärkte einzuwirken, offenbart. Dies lässt das Szenario einer harten Landung zumindest etwas wahrscheinlicher werden.

  • 1 Der Index ist benannt nach dem derzeitigen Premierminister Chinas, Li Keqiang, der in einem Gespräch mit US-Diplomaten die offiziellen Statistiken Chinas als „menschengemacht und unzuverlässig“ bezeichnete und stattdessen die angesprochenen Indikatoren bevorzugte, um sich ein Bild der wirtschaftlichen Lage zu machen; vgl. The Economist vom 9.12.2010: „Keqiang ker-ching“, http://www.economist.com/node/17681868.
  • 2 Siehe Financial Times vom 8.6.2015: China growth data ‚overstated‘ due to data error, http://www.ft.com/intl/cms/s/3/3c6337b8-0b79-11e5-8937-00144feabdc0.html#axzz3gFxMCqBD.
  • 3 Zahlen für China werden nicht getrennt ausgewiesen. Siehe http://www.cpb.nl/en/number/cpb-world-trade-monitor-may-2015.

Beitrag als PDF

DOI: 10.1007/s10273-015-1870-3