Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Mitten in der Griechenland-Krise haben die Präsidenten der fünf wichtigsten europäischen Institutionen Vorschläge für eine weitere Integration der Europäischen Währungsunion unterbreitet. Sie beziehen sich dabei auf die Wirtschafts-, Finanzmarkt- und Bankenunion und gehen sogar so weit, eine Fiskalunion zu skizzieren. Die Autoren diskutieren das „Juncker-Papier“ vor dem Hintergrund der Gefahren einer stärkeren Zentralisierung, der Aufgabe nationaler Souveränität, der demokratischen Legitimation und natürlich der schwierigen Durchsetzbarkeit.

Europäische Integration klug vorantreiben

In den vergangenen Monaten hat die Griechenland-Krise die Diskussion um weitere Integrationsschritte zur Vollendung der Europäischen Währungsunion (EWU) angefacht. Der Bericht der fünf Präsidenten stellt einen der wichtigsten Beiträge zu dieser Debatte dar.1 In seinem jüngsten Sondergutachten zeigt sich der Sachverständigenrat für Wirtschaft skeptisch gegenüber diesem und anderen in der Diskussion kursierenden Vorschlägen.2 Diese Skepsis betrifft vor allem Integrationsschritte mit haushaltspolitischen Wirkungen, bei denen die Gefahr besteht, dass Haftung und Kontrolle auseinanderfallen. Wird das Haftungsprinzip verletzt, entstehen Anreize für politische Entscheidungsträger, die Kosten ihrer fiskalpolitischen Entscheidungen auf die Gemeinschaft zu übertragen (Moral Hazard). Dies ist zwar nicht zwingend, aber die europäische Rechtsordnung darf nicht allein auf die bloße Hoffnung altruistischen Verhaltens gebaut sein.

Die Ablehnung voreiliger Integrationsschritte schließt die weitere europäische Integration oder die von vielen gewünschte „Vervollständigung“ der EWU keinesfalls aus. Wenn Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) sich auf einen Fahrplan hin zu einem europäischen Bundesstaat einigen sollten, dann wäre diese Entscheidung aus ökonomischer Sicht nicht zwangsläufig problematisch. Sie wäre es aber immer dann, wenn auf diesem Weg Schieflagen in der Anreizstruktur entstünden, sodass möglicherweise das eigentliche Ziel der europäischen Integration selbst in Gefahr geriete. Weitere Integrationsschritte sollten den Ansprüchen des Haftungsprinzips genügen, damit keine Desintegration an die Stelle des erhofften Integrationsfortschritts tritt.

Was stellen die fünf Präsidenten zur Diskussion?

Der Bericht der fünf Präsidenten skizziert Integrationsschritte für die Währungsunion – wohlgemerkt nicht für die EU insgesamt – in drei Bereichen.3 Auf dem Weg zur Wirtschaftsunion schlagen die Präsidenten erstens weitere Schritte zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik vor, um eine Konvergenz der Wettbewerbsfähigkeit in der EWU zu erreichen. Dabei schließen sie die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die gemäß Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) nicht in die Kompetenz der EU fällt, explizit in das Spektrum der zu koordinierenden Bereiche ein. Im Wesentlichen soll dabei das Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten gestärkt werden.

Zweitens zielen sie auf eine Vervollständigung der Finanz­union ab. Dazu soll im Rahmen der Bankenunion der gemeinsame Abwicklungsmechanismus durch einen glaubwürdigen fiskalischen Backstop, etwa eine Kreditlinie des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), und einen leichter zugänglichen Mechanismus für die direkte Rekapitalisierung von Banken gestärkt werden. Die jetzigen Regelungen mit starker nationaler Verantwortung erscheinen den Präsidenten offenbar als zu wenig glaubwürdig und zu restriktiv, da sie den Banken der Mitgliedstaaten nicht in gleicher Weise zugutekommen. Die Bankenunion soll außerdem durch eine europäische Einlagensicherung als dritte Säule – neben der gemeinsamen Aufsicht und dem gemeinsamen Abwicklungsmechanismus – vervollständigt werden.

Zudem sieht der Bericht verschiedene Maßnahmen zur Einführung einer Kapitalmarktunion vor. Dies sind insbesondere eine stärkere Diversifizierung der Finanzierungsquellen von Unternehmen durch Stärkung der Kapitalmarktfinanzierung, eine vertiefte Integration von Anleihe- und Aktienmärkten und weitgehende Harmonisierungen, beispielsweise im Bereich der Besteuerung und des Insolvenzrechts. Als Fernziel wird eine Zentralisierung von Aufsichtskompetenzen im Bereich der Kapitalmärkte genannt, womit der Bericht über das ursprüngliche Grünbuch zur Kapitalmarktunion hinausgeht.

Drittens wollen die Präsidenten die EWU auf den Weg zur Fiskalunion bringen. Dazu gehört vor allem ein eigener Stabilitätsmechanismus für die EU, also eine weitere Haushaltsposition. Wie diese Fiskalkapazität konkret ausgestaltet sein soll, zeigt der Bericht zwar nicht auf, die Kriterien, denen sie genügen soll, aber schon. Der Mechanismus sollte als eine Versicherung gegen asymmetrische Schocks nur bei schweren makroökonomischen Krisen im Sinne eines automatischen Stabilisators einsetzen und keine dauerhaften und systematischen Transferleistungen bewirken. Vermieden werden soll die Einrichtung einer Transferunion, die eine systematische und dauerhafte Umverteilung im Sinne des deutschen Finanzausgleichs vornimmt.4 Daher soll die Fiskalunion durch ein euroraumweites Schatzamt ergänzt werden, dem ein unabhängiger, beratender Fiskalausschuss zur Seite gestellt wird, um die Steuerung der nationalen Haushaltspolitik im Rahmen der europäischen Fiskalregeln zu verbessern.

Eine europäische Arbeitslosenversicherung als Konkretisierung

Zu den Vorschlägen, die diesen Anforderungen im Prinzip genügen, gehört die Idee einer europäischen Arbeitslosenversicherung, die in verschiedenen Ausgestaltungen diskutiert wird.5 Durch den Rechtsanspruch von Arbeitslosen in den Mitgliedstaaten der Währungsunion gegenüber der europäischen Arbeitslosenversicherung könnte sie als automatischer Stabilisator wirken. Inwiefern dauerhafte Transferleistungen dadurch vermieden würden, ist bislang jedoch umstritten. Zwar können Rückforderungsmechanismen eine dauerhafte Umverteilung verhindern oder wenigstens abschwächen.6 Doch führen diese tendenziell zu prozyklischen Wirkungen und stehen im Zielkonflikt mit der beabsichtigten Versicherungswirkung.

Noch ungünstiger als eine solche mikrobasierte Arbeitslosenversicherung dürfte eine makrobasierte, an geschätzten Produktionslücken anknüpfende, europäische Fiskalkapazität wirken.7 Allerdings ist der Nachteil dauerhafter Transferzahlungen bei beiden Mechanismen gewichtig. Er dürfte noch deutlich stärker ausfallen, wenn – anders als in den einschlägigen Simulationsstudien – berücksichtigt wird, dass Arbeitslosigkeit nicht lediglich aufgrund makroökonomischer Schocks als zyklisches Phänomen auftritt. Vielmehr tendieren inflexible Arbeitsmärkte typischerweise zu höherer Arbeitslosigkeit über den Zyklus hinweg. Im Nachhinein kann man zwar die Entwicklung der Arbeitslosigkeit rechnerisch in eine zyklische und eine strukturelle Komponente aufteilen, in Echtzeit ist diese Unterscheidung aber kaum möglich. Somit werden Mitgliedstaaten mit verkrusteten Arbeitsmärkten tendenziell eher von einer europäischen Arbeitslosenversicherung begünstigt und haben daher geringere Anreize, ihre Arbeitsmärkte zu flexibilisieren.

Der Vorschlag des französischen Sachverständigenrates CAE soll diesem Fehlanreiz entgegenwirken.8 Arbeitnehmer würden nur dann Zahlungen aus der europäischen Arbeitslosenversicherung erhalten, wenn sie zuvor einem Arbeitsvertrag mit einem flexibleren Kündigungsschutz und möglicherweise weiteren Flexibilitätselementen zustimmen. Doch werden dies tendenziell nur solche Arbeitnehmer tun, die eine hohe Wiederbeschäftigungswahrscheinlichkeit aufweisen. Diese Gruppe steht aber nicht im Zentrum der durch verkrustete Arbeitsmärkte verursachten Probleme.

Welche „Vervollständigung“ wird wirklich gebraucht?

Die Diskussion der Frage, welche Ausgestaltung einer Fiskalkapazität den im Bericht der fünf Präsidenten gesetzten Anforderungen genügt, lässt offen, welche weiteren Integrationsschritte überhaupt notwendig sind, um die EWU für zukünftige Krisen besser zu wappnen. Der Begriff „Vervollständigung“ suggeriert jedenfalls das Fehlen bestimmter Elemente einer „echten“ Währungsunion. Wer sich einen europäischen Bundesstaat als Ziel der europäischen Einigung vorstellt, dem erscheinen nach dem Beispiel Deutschlands, der USA, Kanadas oder der Schweiz größere fiskalpolitische Kompetenzen naheliegend. Dies ist jedoch ein naturalistischer Fehlschluss. Das Sein impliziert kein Sollen.

Viel bedeutsamer ist es, in einem ersten Schritt die ordnungspolitische Konsistenz der EWU zu prüfen. Die Währungsunion verfolgt eine gemeinschaftliche Geldpolitik, belässt aber bislang die Fiskal- und Wirtschaftspolitik in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) bietet den Mitgliedstaaten zwar Leitplanken für eine solide Finanzpolitik, stellt jedoch angesichts der Abstimmungsmechanismen im exzessiven Defizitverfahren deren Haushaltsautonomie nicht infrage. Dieses Konzept ist kein fauler Kompromiss, der aus einer fehlenden Integrationsbereitschaft resultierte. Stattdessen wurden mit der Nicht-Beistandsklausel und dem Verbot der monetären Staatsfinanzierung bewusst Regelungselemente in den Maastricht-Vertrag aufgenommen, welche die eigenverantwortliche Haftung der Mitgliedstaaten für ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik sicherstellen sollten.

Dahinter stand die Hoffnung, dass die Mitgliedstaaten nicht zuletzt über die Finanzmärkte diszipliniert und schließlich zu einer soliden Finanz- und Wirtschaftspolitik gezwungen würden.9 In diesem ordnungspolitischen Konzept stellt sich die Konvergenz finanz- und wirtschaftspolitischer Präferenzen im Zeitablauf ein, erzwungen durch die gesetzten Rahmenbedingungen. Diese Hoffnungen wurden bislang aus drei Gründen enttäuscht:

  • Erstens erwiesen sich die Leitplanken des SWP als unzureichend. Einige Mitgliedstaaten erreichten das Ziel solider Finanzpolitik nicht, sodass sie in der Schuldenkrise ins Visier der Finanzmärkte gerieten.
  • Zweitens stand als Konsequenz der eigenverantwortlichen Haftung die ungeordnete staatliche Insolvenz im Raum. Dies erhöhte in der Krise die Unsicherheit der Finanzinvestoren und verstärkte die Zinssteigerungen. Eine Insolvenzordnung für Staaten hätte diese Unsicherheit reduzieren können.
  • Drittens fehlte eine vereinheitlichte Finanzmarktordnung in Europa. Vor dem Hintergrund der schweren Finanzkrise hätten die Finanzinstitutionen eine Insolvenz von Staaten nicht verkraften können. Vor allem der sich selbst verstärkende Risikoverbund zwischen Banken und Staaten hob das Haftungsprinzip auf.

Die bisherigen Schritte zur Erhöhung der Krisenfestigkeit der EWU setzen an diesen Punkten an. Die Verschärfung des SWP sowie der Fiskalpakt schaffen einen enger gefassten Rahmen, ohne jedoch die grundsätzliche Haushaltsautonomie der Mitgliedstaaten infrage zu stellen. Der ESM bietet als Krisenmechanismus Liquiditätshilfen und enthält geringfügige Elemente einer Insolvenzordnung für Staaten. Allerdings sind diese mit den Collective Action Clauses (CAC) sehr schwach ausgestaltet. Den weitestgehenden Integrationsschritt stellt die Bankenunion dar. Die gemeinsame Regulierung des europäischen Bankensystems mit einer gemeinsamen Aufsicht und einem gemeinsamen Abwicklungsmechanismus zielt darauf ab, die Gefahr einer systemischen Bankenkrise zu reduzieren und zu verhindern, dass Staaten mit der Rettung von Finanzinstituten überfordert sind. Dies schwächt den Risikoverbund zwischen Banken und Staaten ab.

Was zu tun bleibt – und was nicht

Ein Vergleich mit dem Konzept „Maastricht 2.0“, das der Sachverständigenrat für Wirtschaft in seinem jüngsten Sondergutachten erneuert, zeigt, welche Elemente dem Euroraum aktuell noch zu einer konsistenten Währungsordnung fehlen. Erforderlich ist vor allem die Weiterentwicklung des ESM zu einer Insolvenzordnung für Staaten und die weitere Lockerung des Risikoverbundes zwischen Banken und Staaten, indem die regulatorische Privilegierung von Staatsanleihen im Bereich der Eigenkapital-, Liquiditäts- und Großkreditregulierung abgeschafft wird.

Eine bessere Integration der Kapitalmärkte würde die Stabilität der Währungsunion erhöhen. Dies belegen nicht zuletzt die Studien zur Schockabsorption in der EWU vor und nach der Finanzkrise10 sowie Studien zur Versicherungswirkung unterschiedlicher Mechanismen für Föderalstaaten.11 Eine sinnvoll ausgestaltete Kapitalmarkt­union kann über den Abbau von Verzerrungen die Unternehmensfinanzierung und die Finanzmarktintegration stärken. Bei weitgehenden Harmonisierungen ist jedoch zwischen den Vorteilen von mehr Integration durch Standardisierung und Harmonisierung und der Wahrung des Subsidiaritätsprinzips abzuwägen.

Eine Weiterentwicklung der Bankenunion entlang der Vorschläge der fünf Präsidenten birgt hingegen enorme Risiken. Ihre Vorschläge dazu basieren auf der Illusion, dass man Banken vollständig isoliert von ihrem institutionellen nationalen Umfeld betrachten kann. Die Krise in Griechenland hat jedoch gezeigt, wie stark die Situation der Banken durch nationale politische Weichenstellungen beeinträchtigt werden kann. In Deutschland besteht über direkte Eigentümerschaft ein beträchtlicher Einfluss der Politik auf einen erheblichen Teil des Bankensystems. Eine Vergemeinschaftung der Risiken lässt Haftung und Kontrolle auseinanderfallen und die dadurch entstehenden Fehlanreize drohen die europäische Solidarität zu überfordern.

Verschärft wird dies durch die zweifelhafte Glaubwürdigkeit der bestehenden Bail-in-Regeln im Rahmen des Abwicklungsmechanismus und die Interessenkonflikte zwischen gemeinsamer Aufsicht und Geldpolitik. Hinzu kommt das ungelöste Problem der gewaltigen Altlasten in den europäischen Bankensystemen. Diese Überlegungen sprechen für die bisherigen Regelungen auf Basis nationaler Verantwortung und für eine Stärkung der gemeinsamen Aufsicht durch eine institutionelle Trennung von der Geldpolitik und des Abwicklungsmechanismus durch eine verbesserte Glaubwürdigkeit der Gläubigerbeteiligung.

Verbindlichere Regeln für das Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten oder eine Fiskalunion sind angesichts der Autonomie der Mitgliedstaaten in der Finanz-, Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik mit erheblichen Anreizproblemen behaftet. Solche weitergehenden Integrationsschritte ließen sich nur mit einem entsprechenden Souveränitätsverzicht der Mitgliedstaaten vornehmen. Doch eine Konvergenz der Präferenzen lässt sich nicht durch politischen Beschluss herbeiführen. Gerade die Griechenland-Krise zeigt, wie in politischen Prozessen auf EU-Ebene herbeigeführte Entscheidungen, die dies ignorieren, zu erheblichen Konflikten zwischen den Mitgliedstaaten führen können. Derartige Konflikte entstehen nicht, wenn es die Finanzmärkte sind, die Strukturreformen und Haushaltskonsolidierungen trotz politischer Opposition privilegierter Gruppen erzwingen.

Die Europäische Währungsunion bleibt somit darauf angewiesen, dass sich eine Konvergenz der Wirtschafts- und Finanzpolitik hin zur Solidität im Zeitablauf durch dezentrale Anpassung der Mitgliedstaaten ergibt. Hinsichtlich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik kann die Kommission kaum auf bestimmte Reformschritte drängen. Daher ist es umso wichtiger, dass sie ihrer Aufgabe zur Durchsetzung der Konsolidierung öffentlicher Haushalte nachkommt. Die Nachlässigkeit, die sie bislang etwa gegenüber Frankreich und Italien gezeigt hat, ist kein gutes Zeichen für die Zukunft der Währungsunion. Möglicherweise hilft die Einrichtung eines unabhängigen Fiskalrats auf EU-Ebene, der nicht lediglich die Arbeit der nationalen Fiskalräte koordiniert, sondern darüber hinaus die Entscheidungen der Kommission im korrektiven und präventiven Arm des SWP prüft und kommentiert. Die Kommission würde somit stärker als bislang in der Öffentlichkeit begründungspflichtig.

  • 1 Vgl. J.-C. Juncker, D. Tusk, J. Dijsselbloem, M. Draghi, M. Schulz: Completing Europe’s economic and monetary union, Brüssel 2015.
  • 2 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Konsequenzen aus der Griechenland-Krise für einen stabileren Euro-Raum, Sondergutachten, Wiesbaden 2015.
  • 3 Vgl. J.-C. Juncker, D. Tusk, J. Dijsselbloem, M. Draghi, M. Schulz, a.a.O.
  • 4 Vgl. C. Keuschnigg: Should Europe become a fiscal union?, in: CESifo Forum, 13. Jg. (2012), Nr. 1, S. 35-43.
  • 5 Vgl. O. Bargain, M. Dolls, C. Fuest, D. Neumann, A. Peichl, N. Pestel, S. Siegloch: Fiscal union in Europe? Redistributive and stabilising effects of a European tax-benefit system and fiscal equalisation mechanism, in: Economic Policy, 28. Jg. (2013), H. 75, S. 375-422; Conseil d’analyse économique (CAE): Completing the Euro, Les notes du CAE, Nr. 3, April, Paris 2013; M. Dolls, C. Fuest, D. Neumann, A. Peichl: An unemployment insurance scheme for the euro area? A comparison of different alternatives using micro data, IZA Discussion Paper, Nr. 8598, Bonn 2014; L. P. Feld, S. Osterloh: Is a fiscal capacity really necessary to complete EMU?, Wiesbaden 2013.
  • 6 Vgl. O. Bargain, M. Dolls, C. Fuest, D. Neumann, A. Peichl, N. Pestel, S. Siegloch, a.a.O.
  • 7 Vgl. L. P. Feld, S. Osterloh, a.a.O.
  • 8 Vgl. Conseil d’analyse économique (CAE), a.a.O.
  • 9 Vgl. O. Sievert: Geld, das man nicht selbst herstellen kann − Ein ordnungspolitisches Plädoyer für die Europäische Währungsunion, in: P. Bofinger, S. Collignon, E. M. Lipp (Hrsg.): Währungsunion oder Währungschaos? Was kommt nach der D-Mark?, Wiesbaden 1993, S. 13-24.
  • 10 Vgl. F. Balli, S. Kalemli-Ozcan, B. E. Sørensen: Risk sharing through capital gains, in: Canadian Journal of Economics, 45. Jg. (2012), H. 2, S. 472-492; S. Kalemli-Ozcan, E. Luttini, B. E. Sørensen: Debt crises and risk sharing: The role of markets versus sovereigns, in: Scandinavian Journal of Economics, 116. Jg. (2014), H. 1, S. 253-276; S. Kalemli-Ozcan, E. Papaioannou, F. Perri: Global banks and crisis transmission, in: Journal of International Economics, 89. Jg. (2013), H. 2, S. 495-510; S. Kalemli-Ozcan, B. E. Sørensen, O. Yosha: Asymmetric shocks and risk-sharing in a monetary union: Updated evidence and policy implications for Europe, in: H. Huizinga, L. Jonung (Hrsg.): The Internationalisation of Asset Ownership in Europe, New York 2005; B. E. Sørensen, Y.-T. Wu, O. Yosha, Y. Zhu: Home bias and international risk sharing: Twin puzzles separated at birth, in: Journal of International Money and Finance, 26. Jg. (2007), H. 4, S. 587-605; M. Hoffmann, B. E. Sørensen: Don’t expect too much from EZ fiscal union – and complete the unfinished integration of European capital markets! VoxEU.org, 9.11.2012, verdeutlichen, dass die Vervollständigung des europäischen Kapitalmarkts und nicht die Schaffung einer Fiskalunion nach der Krise die wichtigste Aufgabe für die Wirtschaftspolitik darstellt.
  • 11 Vgl. grundlegend P. Asdrubali, B. E. Sørensen, O. Yosha: Channels of interstate risk sharing: United States 1963-1990, in: Quarterly Journal of Economics, 111. Jg. (1996), H. 4, S. 1081-1110. Ihre Ergebnisse werden weitgehend für die USA und andere Länder bestätigt: vgl. J. Melitz, F. Zumer: Regional redistribution and stabilization by the center in Canada, France, the UK and the US: A reassessment and new tests, in: Journal of Public Economics, 86. Jg. (2002), H. 2, S. 263-286. Hinzu treten Studien von T. Buettner: Fiscal federalism and interstate risk sharing: Empirical evidence from Germany, in: Economics Letters, 74. Jg. (2002), Nr. 2, S. 195-202; und R. Hepp, J. von Hagen: Interstate risk sharing in Germany: 1970-2006, in: Oxford Economic Papers, 65. Jg. (2013), Nr. 1, S. 1-24, die zu ähnlichen Ergebnissen für Deutschland kommen. In der Studie von F. Balli, S. Basher, R. J. Louis: Channels of risk-sharing among Canadian provinces: 1961-2006, in: Empirical Economics, 43. Jg. (2012), Nr. 2, S. 763-787, für kanadische Provinzen ist die Versicherungswirkung der Fiskalunion höher. Ähnliches gilt für Schweden, vgl. L. Andersson: Fiscal flows and financial markets: To what extent do they provide risk sharing within Sweden?, in: Regional Studies, 42. Jg. (2008), Nr. 7, S. 1003-1011. Allerdings bieten Faktormärkte und Kreditmärkte in diesen Studien den bei Weitem größeren Versicherungseffekt. Für eine differenzierte Übersicht mit weiteren Studien vgl. L. P. Feld, S. Osterloh, a.a.O.

Ein paar gute Ideen ergeben noch keine sinnvolle Strategie

Kommunikationsberater empfehlen gelegentlich, schlech­te Nachrichten gerade dann zu bringen, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit von anderen, drängenderen Ereignissen abgelenkt ist. Dass die neue Reformblaupause für die Eurozone der sogenannten „Fünf Präsidenten“1 am 22. Juni 2015 mitten in der heißen Phase der Griechenland-Verhandlungen in Brüssel vorgelegt wurde, dürfte allerdings kaum einem solchen Kalkül geschuldet gewesen sein, sondern einfach ungünstiger Planung, die sich kurzfristig nicht mehr ändern ließ.

Das Ergebnis war aber das Gleiche: Die Blaupause ging für die breite Öffentlichkeit in der tagesaktuellen Berichterstattung über das Griechenland-Drama unter. Und auch auf dem Gipfel am 25. und 26. Juni 2015, auf dem eigentlich die Staats- und Regierungschefs über diese langfristige Reformstrategie reden sollten, überlagerten die Verhandlungen mit Athen und Debatten über die Flüchtlingsproblematik alle strategischen Überlegungen. Die Schlagzeilen am Montag danach waren dominiert von der Entscheidung des griechischen Premiers Alexis Tsipras, die Gespräche in Brüssel abzubrechen und ein Referendum über die Gläubiger-Vorschläge anzusetzen.

Der Mangel an öffentlicher Aufmerksamkeit für das Papier ist dabei äußerst bedauerlich, denn tatsächlich könnte sich der Umbau der wirtschaftspolitischen Entscheidungsstrukturen der Eurozone langfristig für die Stabilität der Währungsunion als mindestens genauso wichtig erweisen wie der kurzfristige Ausgang des Griechenland-Dramas. Wenn es der Euroraum nicht schafft, aus der derzeitigen Phase niedrigen Wirtschaftswachstums und in vielen Mitgliedstaaten extrem hoher Arbeitslosigkeit in einen nachhaltigen Wachstumsprozess einzuschwenken, wird immer wieder die Frage nach einem möglichen Auseinanderbrechen gestellt werden. Und der frappierende Wachstumsunterschied zwischen Euro-Mitgliedstaaten und anderen EU-Staaten seit dem Krisenausbruch deutet klar darauf hin, dass eine Ursache der Wachstumsschwäche in den Strukturen der Währungsunion zu finden ist.

In ihrem Papier schlagen die fünf Präsidenten einen ambitionierten, dreistufigen Reformprozess vor, der bis 2025 laufen soll. In einer ersten Phase bis 2017 sollen die bestehenden Regeln und Institutionen besser genutzt sowie ein umfangreiches Weißbuch durch eine Expertengruppe erarbeitet werden, in dem die Details der in weiten Teilen nur skizzenhaften Vorschläge ausgearbeitet werden sollen. In der zweiten Übergangsphase soll ausreichend strukturelle Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten erreicht werden, damit in der dritten Stufe (ab 2025) verschiedene institutionelle Neuerungen in Kraft treten können.

Vier Bereiche

Inhaltlich kann man die Vorschläge des Papiers in vier Bereiche unterteilen:2

  • Vorschläge zur Wirtschaftsunion: Hier schlagen die Autoren die Einrichtung eines europaweiten Systems von nationalen Institutionen vor, um die jeweilige nationale Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Zudem sollen die Verfahren zur Vermeidung und Beseitigung makroökonomischer Ungleichgewichte gestärkt werden, wobei unter anderem die Entwicklung der Eurozone als Ganzes stärker als bisher berücksichtigt werden soll. Außerdem sollen künftig über das europäische Semester Strukturreformen in den Mitgliedstaaten durchgesetzt werden.
  • Vorschläge zur Finanzmarkt- und Bankenunion: Hier fordern die Autoren eine Stärkung des gemeinsamen Bankenabwicklungsfonds SRF (Single Resolution Fund), dessen Volumen lange Zeit als unzureichend kritisiert wurde. Konkret fordern sie Zugang zu Krediten des Rettungsschirms ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus). Außerdem wiederholen die fünf Präsidenten die Forderung nach einer gemeinsamen europäischen Einlagensicherung und der Schaffung einer Kapitalmarktunion.
  • Vorschläge zur Fiskalunion: Hier schlagen die fünf Politiker einen neuen „Europäischen Fiskalausschuss“ vor, der die Arbeit der nationalen Räte für Finanzpolitik koordinieren und ergänzen soll. Diese waren in den vergangenen Jahren durch entsprechende EU-Richtlinien geschaffen worden. Außerdem wird ein fiskalischer Transfermechanismus zwischen den Eurostaaten gefordert, der eine makroökonomische Stabilisierungsfunktion übernehmen soll. Dessen Details bleiben aber völlig offen (und seine Ausarbeitung soll an die Expertengruppe delegiert werden).
  • Vorschläge zur politischen Union: Das Europäische Parlament soll stärker in das Europäische Semester und die Koordinierung der nationalen Finanzpolitiken eingebunden werden; es sollen „Vorkehrungen“ getroffen werden, wie das Europäische Parlament „seine Rolle in Angelegenheiten [wahrnehmen kann], die insbesondere das Euro-Währungsgebiet betreffen“;3 zwischenstaatliche Vereinbarungen wie der Fiskalpakt oder der ESM-Vertrag sollen in die EU-Verträge integriert werden; es soll eine einheitliche Vertretung der Eurozone nach außen, etwa beim Internationalen Währungsfonds, geschaffen werden. Außerdem fordern die Präsidenten die Schaffung eines „euroraumweiten Schatzamtes (,Treasury‘)“ – ohne allerdings dessen Aufgaben zu definieren.

Tatsächlich sind viele dieser Vorschläge – wie etwa die Bereitstellung von größeren Finanzmitteln für den SRF – sinnvoll,4 viele andere sind zumindest diskussionswürdig.5 Allerdings bedeutet die Zusammenstellung einzelner sinnvoller Vorschläge noch lange nicht, dass ein Strategiepapier, das die Reformbemühungen der Eurozone für das nächste Jahrzehnt vorgeben soll, auch insgesamt eine sinnvolle Richtung vorgibt. Um das Papier in seiner Gänze zu beurteilen, muss es an den Ambitionen des bisherigen Reformprozesses gemessen werden. Konkret stellen sich dabei folgende Fragen: Lassen sich mit den vorgeschlagenen Reformen die Probleme, die in der Eurozone zur Krise geführt haben und die seit den ersten Finanzproblemen in Griechenland 2010 zu Tage getreten sind, lösen? Und lassen sich neue, absehbare Krisen verhindern, die aus den bisherigen Governance-Strukturen entstehen?

Folgen einer gestärkten Bankenunion

Hier bleiben bei dem Papier von Juncker und Co. ganz zentrale Fragen offen. Ein Ziel der Bankenunion war immer, einheitliche Wettbewerbsbedingungen im Euroraum und eine gleichmäßige Kreditversorgung in den Mitgliedstaaten zu schaffen. Hintergrund war, dass nach Ausbruch der Eurokrise die Finanzierungskosten der Banken in den Mitgliedstaaten massiv auseinandergelaufen waren und „die am besten geführten italienischen oder spanischen Unternehmen deutlich höhere Zinsen zahlen müssen als die am schlechtesten geführten deutschen oder niederländischen Konkurrenten“, wie es der Reuters-Journalist Paul Taylor pointiert formulierte.6 Dieses Aufreißen der Zinsunterschiede und der Kreditversorgung zwischen Peripherie und Zentrum in der Eurozone war einer der Gründe, warum die Wirtschaft in Europas Süden nach 2010 schwächelte, während sie in Deutschland verhältnismäßig robust weiterlief.

Grund für die Zinsunterschiede war die Sorge der Anleger, dass zum einen Banken bei Schwierigkeiten in verschiedenen Eurostaaten unterschiedlich behandelt werden könnten (weil Staaten wie Deutschland oder Frankreich mehr Ressourcen zur Bankenrettung einsetzen könnten als etwa Portugal oder Spanien) und dass zum anderen einzelne Eurostaaten den Währungsraum verlassen könnten und Forderungen gegen die Banken des Landes dann in die neue nationale Währung umgestellt und mithin entwertet würden.

Die Bankenunion sollte dieses Problem angehen, indem einheitliche Regeln zur Bankenabwicklung mit einem gemeinschaftlicher Fonds eingeführt wurde, sodass eine Bankenkrise nicht mehr die Gefahr mit sich bringen würde, einzelne Staaten in die Insolvenz und damit möglicherweise in einen Euro-Austritt zu treiben. Die noch fehlende und jetzt vorgeschlagene Einlagensicherung soll Bankkunden die Sorge nehmen, dass bei Bankpleiten Einleger in einzelnen Ländern weniger Geld zurückerhalten als in anderen.

Angesichts der jüngsten Ereignisse in Griechenland ist aber zu bezweifeln, ob die Regeln selbst nach Erweiterung mit einer gemeinsamen Einlagensicherung ausreichen, um gleiche Wettbewerbsbedingungen der Banken wiederherzustellen: Aus Sorge vor einem möglichen Grexit hatten seit Jahresbeginn die Griechen massiv Geld von ihren Banken abgehoben, obwohl diese noch zum Jahresbeginn robust kapitalisiert waren. Bis zum Abbruch der Verhandlungen in Brüssel Ende Juni 2015 hatte die Europäische Zentralbank der griechischen Notenbank erlaubt, diese Abflüsse mit immer mehr Notkrediten zu kompensieren. Nach der Ankündigung des Referendums begrenzte die EZB allerdings die Höhe der Notkredite und der Regierung in Athen blieb nichts anderes übrig, als den Kapitalverkehr zu beschränken und tägliche Bargeldabhebungen auf 60 Euro pro Person zu begrenzen.

Aus Sicht der Anleger ist nun klar: Ein Euro in den Banken der Peripheriestaaten ist im Zweifel weniger liquide und weniger wert als ein Euro in einer Bank in Frankfurt. Gerade in Zeiten des Internets und der gebührenfreien SEPA-Überweisungen in Europa dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis Portugiesen, Spanier und Italiener deutsche Direktbanken für ihre Kontoführung entdecken. Die Finanzierung der Banken in den Peripheriestaaten über das Einlagengeschäft dürfte damit tendenziell schwieriger werden, die Finanzierungskosten dauerhaft über jenen der deutschen Banken bleiben.

Der Report der fünf Präsidenten drückt sich hier um einen zentralen Punkt: Wie ist mit der möglichen Überschuldung einzelner Länder in der Eurozone umzugehen? Muss ein Land aus dem Euro austreten, um eine Umschuldung zu erreichen, wie es der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble in den Verhandlungen um die Griechenland-Hilfe zu implizieren schien? Und was wäre die Rolle der europäischen Einlagensicherung im Fall eines Ausstiegs?

Bei der aktuellen institutionellen Ausgestaltung der Bankenunion (einschließlich der von den Präsidenten geforderten gemeinsamen Einlagensicherung) führen alle möglichen Antworten auf diese Fragen zu Problemen: Wenn ein Ausstieg aus der Währungsunion Voraussetzung für den Schuldenschnitt ist, was passiert dann mit Bankeinlagen und Krediten? Ein Ausstieg aus der Währungsunion ist ökonomisch nur realistisch, wenn auch die privaten Bankkredite in die neue nationale Währung umgestellt werden, weil sonst Unternehmen und Privathaushalte sofort überschuldet wären. Sollen in diesem Fall aber die Eigentümer der Bankeinlagen diese in Euro behalten dürfen, wären massive Zahlungen aus dem europäischen Einlagensicherungssystem nötig. Ein Ausstieg würde damit einen Großteil des Schreckens verlieren: Die Bevölkerung des betroffenen Landes könnte einerseits die (öffentliche wie private) Schuldenlast senken, gleichzeitig aber die eigenen Ersparnisse sichern und die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen.

Die Auszahlung der Einlagen durch die Einlagensicherung in neuer nationaler Währung wäre aber auch keine Lösung: Eine solche Regel würde bedeuten, dass ein Euro in griechischen, portugiesischen oder spanischen Banken eben doch weniger sicher (und damit weniger wert ist) als ein Euro in deutschen oder französischen Banken. Die ganze Idee der gemeinsamen Einlagensicherung wäre konterkariert.

Auch die Kapitalunion kann dieses Problem nicht lösen: Da im Zweifel bei einem Euro-Austritt auch direkte Anleiheverbindlichkeiten von Unternehmen im Austrittsland entwertet werden, kann die Förderung dieser Finanzierungsquellen die strukturelle Divergenz der Finanzierungskosten nicht beheben.

Solange mit den Euro-Governance-Reformen nicht klar gestellt wird, dass die Eurozone tatsächlich mehr als eine besondere Form eines (wieder auflösbaren) Festkurssystems ist, werden diese Probleme nicht gelöst. Hier hätten die fünf Präsidenten deutlich mutiger sein müssen. Sie hätten Institutionen vorschlagen müssen, die klar machen, dass die monetäre Integration in der Eurozone unumkehrbar ist. Gefragt wäre hier eine Kombination aus gemeinsamen Haftungsregeln für Staatsschulden der Mitgliedstaaten und eines geregelten Mechanismus zur Umschuldung für Eurozonen-Staaten.7

Fiskalpolitische Gestaltung offen

Eng verbunden mit diesem Punkt ist, dass der Report ebenfalls die Frage nach der finalen fiskalpolitischen Gestalt der Eurozone völlig offen lässt: Soll am Ende des Prozesses ein Währungsverbund mit einem Minimum an Solidarität und gemeinsamer Finanzpolitik stehen, aus dem ein Land im Zweifel austreten kann (oder eine „Auszeit“ nehmen kann, wie es vom deutschen Finanzministerium in der Griechenland-Verhandlung ins Spiel gebracht wurde), oder ist das Ziel, ein System föderaler Finanzbeziehungen, wie man es von echten Föderalstaaten, etwa den USA, kennt?

In die Ausführungen der Präsidenten zu dem Transfersystem ebenso wie zu dem euroraumweiten Schatzamt kann man in dieser Beziehung alles oder nichts hineinlesen. Obwohl es zu der Frage der Transfersysteme zur Abfederung makroökonomischer Schocks in den vergangenen Jahren eine breite Diskussion8 und eine Reihe von Papieren der EU-Kommission9 gegeben hat, geben Juncker und seine Kollegen hier keinerlei Richtung vor. Sie definieren einzig, was die Transfersysteme nicht leisten dürfen (insbesondere permanente Transfers zwischen Mitgliedstaaten schaffen).

Zu dem euroraumweiten Schatzamt findet sich in dem Papier einzig die Aussage, dass „eine echte Fiskalunion […] eine stärkere gemeinsame Entscheidungsfindung in fiskalpolitischen Angelegenheiten erforder[t]“. Gleichzeitig wird aber festgestellt, dass die einzelnen Mitgliedstaaten „weiterhin gemäß ihrer nationalen Präferenzen und ihrer politischen Gegebenheiten über Steuern und Ausgaben entscheiden“. Ob das Schatzamt eigene Steuern erheben soll oder über eigene Ausgaben entscheiden darf, und wenn ja, in welchem Umfang, bleibt so völlig nebulös.

Legitimationskrise der Wirtschaftspolitik

Hier kommt die dritte Schwäche des Berichts ins Spiel: Die politische Dimension. Die Eurokrise und der Umgang der EU mit ihr hat die Europäische Union auch in eine politische Krise geführt. Das Vertrauen der Bürger in vielen Mitgliedstaaten sowohl in die Institutionen der EU als auch in ihre nationalen Regierungen ist massiv gesunken.10 In vielen Mitgliedstaaten wenden sich die Wähler von traditionellen Mitte-Rechts oder Mitte-Links-Parteien ab und Populisten zu.

Hinter der Frustration der Wähler dürften zwei Gründe stehen: Zum einen ist in den vergangenen Jahren in der EU das Versprechen wachsenden Wohlstands nicht gehalten worden; vielmehr ist in vielen Ländern für breite Teile der Bevölkerung der Lebensstandard seit Ausbruch der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 gesunken.

Zum anderen wächst in vielen Ländern der Eindruck der Macht- und Einflusslosigkeit über die grundsätzliche Ausrichtung der Wirtschaftspolitik. Die Parteien der Mitte (einschließlich der Sozialdemokraten) haben sich in den meisten Ländern weitgehend dem in den EU-Regeln implizit verankerten makroökonomischen Konsens der Priorität ausgeglichener Staatshaushalte und Preisstabilität vor anderen wirtschaftspolitischen Ziele angeschlossen und regelmäßig das Credo vertreten, es gäbe zu dieser Politik „keine Alternative“. In der Wahrnehmung der Bevölkerung werden Alternativen zur Austeritätspolitik (ob tragfähig oder nicht) inzwischen praktisch nur noch von populistische Parteien wie Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, der Front National in Frankreich oder Sinn Féin in Irland angeboten, die entsprechend in Umfragen und Wahlen zulegen.

Soll die Legitimationskrise der Wirtschaftspolitik in der Eurozone entschärft werden, müssen demokratische Institutionen geschaffen werden, in denen auch über grundsätzliche Fragen der Wirtschaftspolitik diskutiert und entschieden werden kann, einschließlich etwa der ausschließlichen Ausrichtung der Politik der EZB auf Preisstabilität. Hierzu bietet der Bericht keinerlei Anhaltspunkte. Minimale Mitspracherechte des Europäischen Parlaments bei der Durchsetzung der Regeln etwa des Fiskalpakts im europäischen Semester werden das Vertrauen in die Entscheidungsfindung im Euroraum kaum zurückgewinnen können. Die vorgeschlagenen neuen Regeln in bestimmten Bereichen und neue technokratische Expertengremien zur Überwachung der nationalen Wirtschafts- und Tarifpolitik in Hinblick auf die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit bergen vielmehr die Gefahr, das Gefühl der Ohnmacht des demokratischen Prozesses weiter zu stärken.

Fazit

Zusammengefasst kann man also sagen, dass die nun vorgeschlagenen Reformen durchaus sinnvolle Elemente enthalten. Die Krise der Eurozone und damit der Europäischen Union als Ganzes wird sich aber mit den bereits konkretisierten Elementen kaum lösen lassen. Natürlich besteht die Möglichkeit, diese Mängel in dem von den fünf Präsidenten vorgeschlagenen Prozess noch zu beheben. Ob dieses Versprechen aber eingelöst wird, muss sich erst noch zeigen. Es wäre beruhigender gewesen, wenn die fünf Präsidenten zumindest eine Sensibilität für diese drängenden Probleme angedeutet hätten.

  • 1 J.-C. Juncker: Die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden, Brüssel 2015. Das Papier wurde verfasst von EU-Präsident Jean-Claude Juncker in enger Zusammenarbeit mit Ratspräsident Donald Tusk, dem Präsidenten der Eurogruppe, Jeroen Dijsselbloem, dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, und dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz.
  • 2 Siehe hierzu auch: H. Enderlein, J. Haas: A Smart Move: Why the Five Presidents‘ Report is Cautious on Substance and Ambitious on Process, Jacques Delors Institute Policy Paper, 139, Berlin 2015.
  • 3 J.-C. Juncker, a.a.O., S. 19.
  • 4 Siehe für eine ebenfalls positive Einschätzung hierzu I. Begg: What Does The Five Presidents’ Report Mean For The Future Of The Euro?, in: Social Europe, 23.6.2015, http://www.socialeurope.eu/2015/06/what-does-the-five-presidents-report-mean-for-the-future-of-the-euro/ (23.7.2015).
  • 5 Für eine weitergehende Diskussion der einzelnen Details siehe auch C. Odendahl: The eurozone‘s ‚five presidents‘ report‘: An assessment, http://www.cer.org.uk/insights/eurozones-five-presidents-report-assesment (23.7.2015); oder H. Enderlein, J. Haas, a.a.O.
  • 6 P. Taylor: Analysis – Euro zone fragmenting faster than EU can act, Reuters, 9.7.2012, http://uk.mobile.reuters.com/article/topNews/idUKBRE86805Q20120709 (23.7.2015).
  • 7 Für einen solchen Vorschlag siehe S. Dullien, D. Schwarzer: Umgang mit Staatsbankrotten in der Eurozone, Stabilisierungsfonds, Insolvenz­recht für Staaten und Eurobonds, SWP-Studien 2010/S 19, Berlin 2010.
  • 8 Siehe exemplarisch L. Andor, S. Dullien, H. X. Jara, H. Sutherland, D. Gros: Forum: Designing a European Unemployment Insurance Scheme, in: Intereconomics, 49. Jg. (2015), H. 4, S. 184-203, http://www.intereconomics.eu/archive/year/2014/4/designing-a-european-unemployment-insurance-scheme/ (4.9.2015); oder H. Enderlein, L. Guttenberg, J. Spiess: Making One Size Fits All. Designing a Cyclical Adjustment Insurance Fund for the Euro Zone, Notre Europe Policy Paper, 61, Berlin 2013.
  • 9 Siehe exemplarisch Europäische Kommission: Strengthening the Social Dimension of Economic and Monetary Union, Brüssel 2013.
  • 10 Siehe etwa M. Leonard, J. I. Torreblanca: The Eurosceptic surge and how to respond to it, European Council on Foreign Relations Policy Brief, 98, London 2014.

Politische Union: Konzepte, Visionen und Realitäten

Gemeinhin besteht zumindest in Berlin und Brüssel Einigkeit, die Europäische Union und selbst die Währungsunion seien ein „politisches Projekt“ und der größte Fehler der Währungsunion sei die unvollendete „politische Union“. Unter Titeln wie „Fiskalunion“ oder „europäische Wirtschaftsregierung“ wird nur wenig klarer, was „politische Union“ wirklich meint. Das Problem ist: Für wirklich weitgehende konkrete Schritte in dieser Richtung fehlen verfassungsrechtliche und demokratische Grundlagen.

Vertieft und echt: das Konzept der vier EU-Präsidenten

2012 waren es noch vier Präsidenten, die ein „Konzept für eine vertiefte, echte Wirtschafts- und Währungsunion (WWU)“ vorgelegt haben.1 Auf 58 Seiten zeigten die damaligen Präsidenten des Europäischen Rates, der Europäischen Kommission, der Eurogruppe und der Europäischen Zentralbank (EZB) einen Fahrplan auf, nach dem eine vertiefte und echte WWU in den folgenden fünf Jahren „vollendet“ werden sollte. Einige Stationen sind inzwischen fahrplangemäß erreicht worden, vor allem die Bankenaufsicht und -abwicklung unter dem Dach der EZB. Andere wurden großräumig umfahren, vor allem verpflichtende Reformverträge aller Eurostaaten gegenüber der EU-Kommission und eine eigene Fiskalkapazität als eine Art Versicherung gegen länderspezifische Schocks oder als Belohnung für nationale Reformen. Auch Stabilitätsanleihen (Eurobonds) und ein Schuldentilgungsfonds (nach Vorbild des deutschen Sachverständigenrates für Wirtschaft) waren von den vier Präsidenten noch als ultimative Schritte der Vertiefung angedacht.

Eher am Rande wurde auch die Frage der demokratischen Legitimation gestellt: „Diese progressive weitere Integration des Euro-Währungsgebiets zu einer umfassenden Banken-, Fiskal- und Wirtschaftsunion wird parallele Schritte zu einer politischen Union mit verstärkter demokratischer Legitimation und Rechenschaftspflicht erfordern.“2

Vertieft, echt und fair: der Zehnjahresplan der fünf EU-Präsidenten

Diesen Sommer wurde dem Europäischen Rat nunmehr ein „Fünf-Präsidenten-Bericht“ vorgelegt: „Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden“.3 Als fünfter Präsident ist nun auch Martin Schulz für das Europäische Parlament mit dabei. Der Bericht ist deutlich kürzer (26 Seiten, davon einige ganzseitige Fotos). Die WWU soll nun „vertieft, echt und fair“ werden. Wie zuvor geht es um die Vertiefung an vier Fronten: Wirtschaftsunion, Finanzunion, Fiskalunion, Politische Union und dies in drei Stufen bis spätestens 2025.

Wirtschaftsunion: hier wird zu Recht darauf verwiesen, dass der Kern der europäischen Integration – der Binnenmarkt – in zentralen Bereichen (Dienstleistungen, Energie-, Digital- und Kapitalmärkte) noch längst nicht „vollendet“ ist und dass gerade hier Wachstumspotenziale liegen, die zu erschließen die EU-Kommission einen primärrechtlichen Auftrag hat.4 Von Reformverträgen ist nicht mehr die Rede; stattdessen soll jeder Euro-Mitgliedstaat „eine nationale Stelle einrichten, die seine Leistungen und seine Strategien in Sachen Wettbewerbsfähigkeit beobachtet“. Diese Stellen sollen unabhängig sein, und „beurteilen, ob die Löhne sich entsprechend der Produktivität entwickeln“. Sie sollen auch bei den Europäischen Semestern eine Rolle spielen und damit bei der ebenfalls zu stärkenden Koordinierung der Wirtschaftspolitik. Genaueres legen die fünf Präsidenten nicht fest.

Finanzunion: Hier geht es zunächst um die Fortentwicklung der Bankenunion und zwar auch ausdrücklich um die noch fehlende „dritte Säule“, die gemeinsame Einlagensicherung, die vor allem von deutscher Seite bisher abgelehnt wird. Die fünf Präsidenten wollen hierbei zwar ausdrücklich „moralische Risiken“ (Moral Hazard) vermeiden; sie sagen aber nicht, wie. Zudem geht es um den „Startschuss für die Kapitalmarktunion“ mit dem Ziel, privates Risikokapital deutlich besser grenzüberschreitend in Investitionen und Unternehmensbeteiligungen zu lenken und letztlich eine einheitliche europäische Kapitalmarktaufsicht zu etablieren.

Fiskalunion: hier wird es ernst. Am „Ende des Prozesses“ soll „eine Funktion zur fiskalischen Stabilisierung für das gesamte Euro-Währungsgebiet geschaffen werden“.5 Zunächst aber soll für „verantwortungsvolle Haushaltspolitik“ gesorgt werden. Hierfür soll unter anderem auch ein beratender unabhängiger „Europäischer Fiskalausschuss“ eingerichtet werden, der die nationalen „Räte für Finanzpolitik“ koordiniert. Die einstige „Fiskalkapazität“ der vier Präsidenten heißt nun also „Funktion“; von Eurobonds oder Schuldentilgungsfonds ist nicht mehr die Rede, wohl aber vom einem „Pool von Finanzierungsquellen“ als „Option“. Die „Funktion“ soll auch „keine dauerhaften Transferleistungen zwischen Ländern oder in nur eine Richtung bewirken“, sondern nur „schwere makroökonomische Schocks abfedern“.

Politische Union: darunter verstehen die fünf Präsidenten „verbesserte demokratische Rechenschaftspflicht, mehr Legitimität und eine Stärkung der Institutionen“.6 Neues, Substanzielles und Konkretes findet man hierzu nicht. Das europäische Parlament soll stärker in das Europäische Semester integriert werden; nationale Parlamente sollten „in der Regel eng in die Annahme der nationalen Reform- und Stabilitätsprogramme eingebunden werden“. Sehr vage bleibt auch die Andeutung einer ganz neuen europäischen Institution: ein „euroraumweites Schatzamt (Treasury)“; dies soll vielleicht einmal „bestimmte“ gemeinsame fiskalpolitische Entscheidungen treffen.

Vertragsänderung? Pandoras Büchse!

Das ist alles reichlich unbestimmt und insgesamt noch weniger konkret als der Bericht der vier Präsidenten vor drei Jahren. Die Frage, für welche der bereits erfolgten und der künftig geplanten Etappen des Fahrplans eigentlich eine Änderung des Primärrechts (der EU-Verträge) erwünscht oder notwendig ist, wird auch nicht definitiv beantwortet, sondern nur am Rande erwähnt. Diese Frage ist entscheidend: Erst, wenn hierüber klare Aussagen gemacht werden, kann man auch erkennen, welche Schritte nun wirklich erheblich neue Kompetenzen der EU schaffen würden.

Freilich wundert es auch nicht, dass die vier oder fünf Präsidenten das Thema „Vertragsänderung“ nicht wirklich auf die europapolitische Agenda bringen wollen bzw. erst für die Zeit nach 2017 in Erwägung ziehen. Dies hat wohl zwei Gründe: zum einen ist es das erklärte Ziel von David Cameron, noch vor dem Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU (bis spätestens 2017) tiefgreifende Reformen der EU auf den Weg zu bringen, möglichst auf dem Weg einer Vertragsänderung. Diesen „Gefallen“ wollen ihm viele „Vertiefer“ der EU nicht tun. Zudem wissen alle Beteiligten, dass Verhandlungen über eine neue „EU-Verfassung“ bedeutete, die Büchse der Pandora zu öffnen und endlosen Streit zu entfachen. Am Ende ist das Risiko sehr hoch, dass ein neuer Vertrag mit weiterer Abtretung von Souveränität an „Brüssel“ an vielen nationalen Parlamenten und bei so gut wie jeder Volksabstimmung scheitern dürfte.

Politische Fiskalunion: Wirtschaftsregierung oder Wirtschaftsverfassung?

Gleichwohl gilt die Aussage, eine Währungsunion ohne politische Union oder Fiskalunion könne nicht gelingen, zumindest in Berlin und Brüssel als Binsenweisheit. Auch in Paris wurde schon immer von einer „politischen“ Steuerung der Währungsunion gesprochen. Nur: auch wenn man in Berlin und Paris von „Wirtschaftsregierung“, „politischer Union“ oder „Fiskalunion“ redet, benutzt man zwar dieselben Begriffe, meint damit aber grundsätzlich anderes.

Die französische Position7 bedeutet nicht, dass die Souveränität des französischen Staates und gar des Präsidenten der Republik etwa durch einen europäischen „Finanzminister“ oder strengere Regeln für die französische Fiskalpolitik weiter gemindert werden soll. Europäische „Wirtschaftsregierung“ nach französischem Vorbild meint vor allem: Vergemeinschaftung der Schulden der Eurozone, noch mehr fiskalpolitisches Engagement der EZB, gemeinsame Steuern der EU, ein gemeinsames Budget der Eurozone, eine gemeinsame europäische Arbeitslosenversicherung, eine gemeinsame Einlagensicherung und vor allem mehr europäische Industriepolitik, konkret: Subventionen für europäische (französische) Champions, Hilfen und Protektion für „Verlierer“ der Globalisierung.

Anstelle ordnungspolitischer Regeln der Selbstbindung von Regierungen sollen „politische“ Entscheidungen EU-weiter „Planifikation“ stehen, d.h. intergouvernementale Willensakte, durch die Staatschefs – gedeckt oder getrieben von einer Mehrheit in einem Parlament der Eurozone – über ein durch vergemeinschaftete Steuern und Schulden finanziertes Eurozonenbudget entscheiden.8

Die deutsche Idee einer „Fiskalunion“ (zumindest nach den Vorstellungen von Wolfgang Schäuble) ist eine nahezu komplett gegensätzliche. Diese „politische“ Union soll weitgehend „entpolitisiert“ werden; verbindliche Regeln (wie etwa im „Fiskalpakt“) sollen vereinbart und durch möglichst automatische Sanktionen oder mithilfe unabhängiger Entscheider auch durchgesetzt werden: Wirtschaftsverfassung statt Wirtschaftsregierung!9 Dieser Philosophie entspricht auch das vor kurzem durchgesickerte „Schäuble-Papier“10, wonach der deutsche Finanzminister die Rolle der EU-Kommission als „Hüterin der Verträge“ (vor allem bei der Durchsetzung von Wettbewerbsrecht und Binnenmarktregeln) an politisch unabhängige Behörden ausgliedern wollte. Dies ist eine Reaktion auf die anhaltenden Ankündigungen des Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, er wolle eine „politische Kommission“, oder auch „politische Lösungen“ für Griechenland.

Zwar will auch Schäuble einen „Finanzminister der Eurozone“, dies wäre aber wohl keiner, der Gelder aus europäischen Steuern oder Schulden (Eurobonds) unter Eurostaaten nach „politischen“ Prioritäten verteilt. Es wäre vielmehr jemand, der nationale Finanzminister notfalls überstimmt, wenn diese sich nicht an vereinbarte Regeln halten.

Demokratie in Europa: „no taxation without representation“ und „one man one vote“

Beide Vorschläge, der von Hollande, aber auch der von Schäuble, gehen weiter als die der vier oder fünf Präsidenten. Sie entsprechen stärker der Vision eines europäischen Bundesstaats, wenn auch eines jeweils sehr unterschiedlichen: eines eher planwirtschaftlich-interventionistischen oder eines eher marktwirtschaftlich-ordnungspolitischen.

Beide Vorschläge würden indes Vertragsveränderungen erfordern. Eine einstimmige Zustimmung aller 28 Mitgliedstaaten zu dem einen oder anderen Modell einer europäischen Wirtschaftsregierung oder Wirtschaftsverfassung ist nicht zu erwarten, sondern bestenfalls eine typisch „europäische Lösung“ mit unklar definierten Elementen aus beiden „Visionen“. Beide Modelle (und beliebige Kombinationen beider) verlangen zudem eine demokratische Legitimation nicht nur der Vertragsänderung selbst, sondern auch des Vollzugs einer solchen Verlagerung zentraler Elemente bisher nationalstaatlicher Ausübung von Souveränität.

Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt festgestellt, dass die EU kein Bundesstaat werden dürfe, solange das Grundgesetz gelte und das deutsche Volk einem solchen Schritt nicht in einer Volksabstimmung zugestimmt habe.11 Kernbestand staatlicher Souveränität ist das Budget- und Steuerrecht. Im „ESM-Urteil“ ist zu lesen: „Eine notwendige Bedingung für die Sicherung politischer Freiräume im Sinne des Identitätskerns der Verfassung (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG) besteht darin, dass der Haushaltsgesetzgeber seine Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben frei von Fremdbestimmung seitens der Organe und anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union trifft und dauerhaft ‚Herr seiner Entschlüsse‘ bleibt.“12 In seinem „OMT-Urteil“ hat das Bundesverfassungsgericht schon beim unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB eine „rote Linie“ ziehen wollen: „Der Deutsche Bundestag darf … gegenüber einer drohenden Erosion seiner Gestaltungsmacht durch Kompetenzusurpationen von Organen und Stellen der Europäischen Union nicht untätig bleiben.“13

Nun ist das mit den „roten Linien“ aus Karlsruhe so eine Sache; am Ende haben sich diese doch als recht flexibel herausgestellt. Die Pläne der vier und der fünf Präsidenten (Fiskalkapazität oder Funktion; Stabilitätsanleihen oder Schuldentilgungsfonds, euroraumweites Schatzamt) sind noch hinreichend vage; und solange sie in ihrem Umfang begrenzt bleiben und deutsche Budgetbelastungen der ausdrücklichen Zustimmung des Bundestags unterliegen, dürfte auch hier noch etwas in Richtung Fiskalunion möglich sein.

Anders ist es mit bundesstaatlichen Visionen, nach denen EU-Organe eigene Steuerkompetenzen erhalten und Schulden, Arbeitslosenversicherungen oder Spareinlagen „vergemeinschaftet“ werden sollen. Besonders bezüglich des Budgetrechts als „Kronjuwel des Parlaments“, das nicht „verpfändet“ werden darf,14 gilt der Schlachtruf der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung: „no taxation without representation“15. Der Verweis auf das EU-Parlament oder ein neues „Eurozonen-Parlament“, das in einer „echten“ Fiskalunion über eigene Steuern und Aufgaben einer Art europäischen Finanzausgleichs verfügen oder nationale Haushaltspläne korrigieren soll, reicht dann nicht mehr. Denn hier mangelt es an einem weiteren zentralen demokratischen Prinzip: „One man, one vote“. Bekanntlich hat die Stimme eines Maltesers bei Europawahlen über elf Mal mehr Gewicht als die eines Deutschen. In der Legislativen (Unterhaus) eines „echten“ Bundesstaats, der weitreichende verteilungspolitische Kompetenzen und am Ende auch Kompetenz-Kompetenz beanspruchen würde, wäre dies nicht haltbar.

Um in einem „echt“ demokratischen One-man-one-vote-Parlament der EU oder der Eurozone die nationalen Parteiproportionen überhaupt noch einigermaßen abbilden zu können, müsste man die Zahl der Abgeordneten zumindest verzehnfachen. Ob sich die EU-Föderalisten dies schon einmal überlegt haben? Sie mögen auf die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, „Identität“ und „Solidarität“ und damit auch einheitlich auftretende und untereinander konkurrierende pan-europäische Parteien setzen. Das wird aber sehr lange dauern, wenn es überhaupt gelingt. Derzeit zeigen die Trends eher in die umgekehrte Richtung.16

Derweil mit europäischer Wirtschaftsregierung, Fiskalunion und Ähnlichem einfach schon einmal zu beginnen und zu hoffen, dass ein europäischer Demos sich in einem vorauseilenden Quasi-Bundesstaat schon eines Tages einstellen wird, ist freilich ein riskantes Unterfangen. Graf Kielmansegg ist zuzustimmen: „Das Krisenmanagement, bei dem es ja wesentlich um Verteilungsentscheidungen geht, letztlich auf Mehrheitsentscheidungen eines gesamteuropäisch definierten Elektorates gründen zu wollen, wäre eine Strategie, die das Potential hat, das europäische Projekt zu sprengen.“17

  • 1 Europäische Kommission, COM(2012) 777 final vom 28.11.2012.
  • 2 Ebenda, S. 15.
  • 3 Vgl. Europäische Kommission: Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden, http://ec.europa.eu/priorities/economic-monetary-union/docs/5-presidents-report_de.pdf.
  • 4 Vgl. Open Europe Berlin: Wachstum für Europa: den Binnenmarkt für Dienstleistungen vollenden!, 2013, http://www.openeuropeberlin.de/Content/Documents/Dienstleistungsstudie_OEB_8.5.13.pdf.
  • 5 Vgl. Europäische Kommission, a.a.O., S. 16.
  • 6 Ebenda, S. 19.
  • 7 Sehr ähnlich die italienische, vgl. den italienischen Finanzminister Pier Carlo Padoan in der Financial Times vom 26.7.2015.
  • 8 Vgl. François Hollande, in: Le Journal du Dimanche vom 19.7.2015, http://www.lejdd.fr/Politique/Francois-Hollande-Ce-qui-nous-menace-ce-n-est-pas-l-exces-d-Europe-mais-son-insuffisance-742998.
  • 9 „Wirtschaftsverfassung“ ist ein zentrales Konzept der ordo-liberalen „Freiburger Schule“ (Walter Eucken, Franz Böhm) und meint den Primat regelbasierter Ordnungspolitik gegenüber interventionistischer Prozesspolitik (siehe auch Jenaer Allianz zur Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft: „Wirtschaftsverfassung statt Wirtschaftsregierung“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.6.2012, http://www.openeuropeberlin.de/Content/Documents/FAZ_2012.pdf.
  • 10 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.7.2015.
  • 11 Z.B. Lissabon Urteil vom 30.6.2009, 2 BvE 2/08, Rn 279 ff.
  • 12 BVerfGE 132 vom 12.9.2012, 195, Rn 109 f.
  • 13 „OMT-Urteil“ vom 14.1.2014, 2 BvE 13/13, Rn 54.
  • 14 So Udo Di Fabio, vgl. Spiegel vom 5.9.2011.
  • 15 Dieses Prinzip sah Otmar Issing schon durch die Einführung von Eurobonds verletzt, vgl. O. Issing: Mehr Europa? Welches Europa?; Rede anlässlich der Eröffnung von Open Europe Berlin, 2012, http://www.openeuropeberlin.de/Article?id=9544.
  • 16 Vgl. A. Polykova, N. Fligstein: Is European Integration Causing Europe to Become More Nationalist? Evidence from the Recent Financial Crisis, University of California, Berkeley, 2013, http://sociology.berkeley.edu/sites/default/files/faculty/fligstein/European%20Id%203.1.pdf.
  • 17 P. Graf Kielmansegg: Wohin des Wegs, Europa? Beiträge zu einer überfälligen Debatte, Baden-Baden 2015, S. 112.

Das Ende der Vertiefung – oder das Ende der Politik?

Die Kumulation von inneren Krisen und außenpolitischen Konflikten fordert das bestehende Integrationsgebäude Europas heraus. Auf der einen Seite stehen die Bankenkrise (2008 ff.), eine innere Finanzkrise, die Währungskrise (samt Griechenland-Krise) und eine unvollständige, also wirtschaftspolitisch machtlose Wirtschaftsunion. Auf der anderen Seite fordern sowohl eine zunehmende Flüchtlings-Zangenbewegung rund um das Mittelmeer – die Europa weder migrations- und sozialpolitisch kanalisieren kann und der es auch nicht systematisch entwicklungspolitisch vorbeugt – als auch eine neue Ost-West-Spaltung Europa heraus. Die Grenzen, wenn nicht das Ende der Vertiefung oder gar der Integra­tion schei­nen manchen in Sichtweite. Das lässt es sinnvoll erscheinen, noch einmal von Anfang an Antriebs- und Bremskräfte der europä­ischen Inte­gra­tion auszuloten.

Ein föderaler Stempel bzw. Plan B?

Im Gegensatz zur Erweiterung der Europäischen Union (EU) wird ihre Vertiefung meist als föderales Projekt diskutiert. Da setzen sich Vertreter der beteiligten Völker an einen Tisch und dis­kutieren in praktisch freier politischer Auswahl, was für eine Art politisches Mehrebenensystem in der EU wün­schens­wert sei und verhandeln dann auf der Grundlage sogenannter nationaler Interessen darüber, was von diesem Wunsch­kon­zert allgemein akzeptabel erscheint. Üblicherweise – das gilt nicht nur für die EU, sondern auch für die na­tionale Ver­fassungsgebung, so im Parlamentarischen Rat 1948/49 oder in der Gemeinsamen Verfassungskommission 1992/93 – bleibt von den vielen Wünschen und Vorschlägen nur eine begrenzte Zahl einvernehmlich beschlossener Regelungen übrig. Das wird aus der Sicht der Kommentatoren häufig genug noch dadurch disqualifiziert, dass es sich um pragma­ti­sche Konsense, kleine Schritte, „verwässerte“ Regeln oder – um das die Demokraten verleumdende Wort von Carl Schmitt aufzugreifen – um „dilatorische Formelkompromisse“ handele. Spätestens seit mit Thomas Hob­bes endgültig das Zeitalter der Vertragstheorien in der Politik angebrochen ist,1 gibt es für „gute Politik“ normativ kei­nen anderen Weg mehr: Das Volk, oder im Falle von Föderalstaaten die Völker, entscheiden sich aus frei­em Willen für eine bestim­mte Form des politischen Systems.

Die Realität nicht nur in der EU sah und sieht indessen ganz anders aus. Historisch gesehen stand am Anfang der Euro­päischen Integration eben nicht eine Versammlung der Völker Europas, sondern die von den USA mit dem Marshall-Plan erzwungene Organization for European Economic Cooperation (OEEC, heute zur OECD mutiert) von 1948 und die Europäische Gemein­schaft für Kohle und Stahl (EGKS) von 1952. Der 1949 gegründete Europarat hätte eine Platt­form für ein föderales Eu­ropa bilden können, entwickelte sich aber rasch zu einem vornehmlich die Menschenrechte schützenden Gremium, des­sen einschlägige Erfolge man nicht durch andere politische Streitigkeiten in Gefahr bringen wollte. Aber nicht nur das: Zwei wirklich föderale – ja gar zentralistische – Projekte, die Europäische Verteidigungsge­meinschaft (EVG) und die Eu­ropäische Politische Gemeinschaft (EPG), scheiterten 1954 in der französischen National­ver­samm­lung, nachdem die Bundesrepublik ein ganzes Jahr gebraucht hatte, um die wegen der damit verbundenen Wie­der­be­waff­nung (West-)Deutsch­lands höchst umstrittenen Verträge zu ratifizieren. Das gab den mittlerweile in Paris an die Macht gekommenen Gaullisten unter Pierre Mendès-France die Chance, das ungeliebte Kind einer supranationalen Armee zu beerdigen.2 Von Föderalismus war hier jedenfalls keine Spur.

Und das galt auch noch 50 Jahre später, als 2005 der Vertrag über eine Verfassung für Europa in den Volksabstim­mun­gen in Frankreich und den Niederlanden scheiterte. Die Europäische Einigung hat sich zwar in den vergangenen 60 Jah­ren sowohl vertieft als auch erweitert, aber nichts davon trägt einen wirklich föderalen Stempel. Auf einen solchen Plan B können wir somit heute nicht direkt zurückgreifen.

Drei Antriebs- und Bremskräfte der Europäischen Einigung in der Theorie

Schaut man sich die Antriebs- und Bremskräfte genauer an, die die Europäische Einigung über Jahrzehnte hinweg ge­stal­tet haben, dann findet man in den politikwissenschaftlichen Theorien zur europäischen Integration ein hilfreiches Ras­ter. Diese Erklärungen für das Zustandekommen der Europäischen Einigung lassen sich in einer Sechs-Felder-Ma­trix ab­bil­den (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1
Antriebs- und Bremskräfte der europäischen Integration auf zwischenstaatlicher und supranationaler Ebene
Erklärungsebene
Erklärungsmodus
intergouvernemental
zwischen Staaten
supranational
europäisch
strukturell, funktional Macht, Angst vor dem Feind, Hegemonie Interdependenz, „spillover“ von Politikfeld zu Politikfeld
intentional, interessengebunden nationale Interessen, „scapegoating“ und „credit claiming“ der Regierungen Sandwich-These, supranationale Institutionen und transnationale Interessengruppen drängen nationale Regierungen zu mehr Integration
diskursiv, konstruktivistisch Konflikte und Kompromisse zwischen nationalen Identitäten „epistemic communities“, trans- und supranationale Expertendiskurse

Quelle: eigene Darstellung.

Unterscheidet man strukturalistische bzw. funktionalistische von intentionalen und konstruktivistischen Erklärungen und differenziert zudem nach der zwischenstaatlichen und der europäischen Ebene auf denen die Er­klärungsfaktoren jeweils ansetzen, dann lassen sich deutlich sechs Felder unterscheiden, die auf ganz unterschied­liche An­triebs- und Bremskräfte der Europäischen Einigung verweisen.

Die intergouvernementale Ebene

  • Strukturell argumentiert vor allem der Neorealismus, dessen zentrale These auf Macht und Machtbalance abstellt. In einem sehr einflussreichen Artikel hat John Mearsheimer 1990 der EU eine düstere Zukunftsprognose gestellt:3 Da mit dem Ende des Kalten Krieges auch die externe Bedro­hung Westeuropas weggefallen sei, werde in den kommenden Jahren auch die EU an inneren Krisen und Kämpfen zerfallen, weil die Mitgliedstaaten nicht mehr durch einen gemeinsamen Feind zusammengehalten würden. Wenig überraschend taucht diese Perspektive angesichts der Krisendiskurse der jüngsten Zeit (Ukraine usf.) wieder häufiger in der Debatte auf.4 Macht lässt sich jedoch auch anders interpretieren. Jo­seph Grieco er­klärte 1995 die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion im Vertrag von Maastricht mit dem strukturel­len Zwang für die anderen Mitgliedstaaten, die mit der deutsch-deutschen Einigung mächtiger gewordene Bun­desrepublik in ein Netzwerk europäischer Regeln einzubinden, um damit die Macht des neuen Hegemons aus­zugleichen.5
  • Interessengeleitet argumentieren viele mit nationalen Interessen. Konvergie­ren diese um ein gemeinsames Ziel, dann vertieft sich die Europäische Einigung; divergieren sie hingegen, kommt es zur Krise, ja zur Rücknahme von Integrationsschritten. Stanley Hoffmann erklärte so 1966 Charles de Gaul­les’ Politik des leeren Stuhls von 1964/65, als Frankreich sich für sechs Monate weigerte, an den Sitzun­gen des Ministerrates teilzunehmen, und auf diese Weise das Einstimmigkeitsprinzip für Entschei­dungen in der EU erzwang. Hoffmann unterschied zwischen „high politics“ und „low politics“.6 Während Letz­tere als eher technische Fragen gern an die europäische Ebene abgegeben würden, seien Erstere der Kern nationaler Souveränität (Außen- und Sicherheitsfragen, Währungs- und Steuerpolitik), der von mit­glied­staatli­chen Regie­rungen niemals aufgegeben werden würde. Bei den vielen Regierungswechseln auf nationaler Ebene in 60 Jah­ren blieben richtiggehende Rücknahmen von Kompetenzen jedoch äußerst selten. Hier bot An­drew Moravcsik 1997 ein Argument:7 Speziell die nationalen Regierungen nutzen Brüssel dazu, für schlechte Nachrichten die EU verantwortlich zu machen, gute Nachrichten aber für sich zu reklamieren. Dieses „scape­goa­ting“- und „cre­dit claiming“-Verhalten hilft ihnen, bei den nächsten Wahlen zu überleben. Selbst David Ca­me­ron kann eigentlich kein Interesse daran haben, aus der EU auszutreten, weil er dann in Zukunft allein für die politischen Probleme Großbritanniens verantwortlich sein würde. Die Option des „scapegoa­ting“ und „cre­dit claiming“ sorgt damit jedoch dafür, dass speziell nationale Regierungen ein besonderes In­ter­esse an der Exis­tenz einer europäischen Ebene haben, jedenfalls an einer, die gewisse Kompetenzen, aber nicht zu vie­le be­sitzt.
  • Diskursiv wirken vor allem Auseinandersetzungen um unterschiedliche na­tio­nale Identitäten. Thomas Risse und seine Mitstreiter argumentierten in der Zeit der Wende hin zur Wäh­rungs­union,8 dass nationale Perspektiven auf die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion weniger von nationalen Interessen als vielmehr von nationalen Identitäten geprägt gewesen seien. Diese nationalen Iden­tit­ä­ten gäben vor, was legitimerweise von einer Ver­tiefung der Europäischen Einigung verlangt werden könne. Diese nationalen Vorgaben seien jedoch höchst unterschiedlich. Für Deutschland und Frankreich sei daher eine Vergemeinschaftung der Währungspolitik ak­zeptabel gewesen, für Großbritannien aber nicht und das obwohl die Briten mit der Londoner City einen Fi­nanz­markt besaßen, der von einer gemeinsamen Währung am meis­ten hätte pro­fi­tieren können.

Die supranationale, europäische Ebene

  • Strukturell-funktional zielt das Argument auf das überaus hohe Maß an gesellschaft­licher und wirtschaftlicher Interdependenz zwischen den EU-Mitgliedern. Das, so die wegweisende und frühe Arbeit von Ernst Haas,9 führe zu stetig zunehmendem Problemdruck, der nur gemeinsam bearbeitet und gelin­dert werden könne. Noch viel mehr: Einmal vergemeinschaftete Politikfelder wirkten über „spillovers“ auf an­gren­zende Politikfelder, bei denen sich im Weiteren der Vergemeinschaftungsdruck erhöhe. Öffne man z.B. im Binnenmarktprojekt die Grenzen, dann müsse man sich – ob man wolle oder nicht – auch mit Fra­gen der Po­li­zeizusammenarbeit, des Asyl- und Visumsrechts oder aber mit Fragen der Anerkennung von Schul- und Stu­dienabschlüssen, des Zugangs zur Kranken- und Arbeitslosenversicherung oder der Begrenzung der Wech­­sel­kursschwankungen zwischen den nationalen Währungen befassen. Integration vertiefe sich also in einem ste­tigen, vom Problemdruck selber immer weiter vorangetriebenen Prozess.
  • Als interessengeleitet gelten die institutionellen Eigeninteressen der europäischen Insti­tutionen – vor allem der Europäischen Kommission, aber auch des Europäischen Parlaments oder des Europä­ischen Gerichtshofes – zusammen mit den Interessen transnationaler Interessengruppen und Verbände als zen­trale Antriebskräfte Europäischer Einigung. So argumentierten Wayne Sandholtz und John Zysman da­mals:10 Die Wiederaufnahme des europäischen Binnenmarktvorhabens in der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 verdanke sich nicht so sehr konvergierenden nationalen Interessen, sondern vielmehr dem gemein­samen Druck der Delors-Kommission und der europäischen Industrieverbände, die die nationalen Regie­run­gen gleich welcher politischer Couleur in die Akzeptanz der Vertiefung der Europäischen Einigung ge­drängt, die na­tiona­len Regierungen also wie in einem Sandwich von oben und unten massiv unter Druck gesetzt hät­ten. Da­mit wird auch klar, warum z.B. die Außen- und Sicherheitspolitik keinem solchen Vertie­fungs­pfad ge­folgt ist: Dort gibt es zwar mit der Kommission eine supranationale Institution, die ein entspre­chen­des In­ter­es­se hätte. Aber der untere „Sandwich-Partner“ fehlt; Außen- und Sicherheitspolitik ist traditionell arm an ein­schlä­gi­gen Interessengruppen. Selbst der notorisch diskutierte „militärisch-industrielle Komplex“ deckt hier nur einen kleinen Bereich ab.11
  • Schließlich diskursiv läuft das Argument auf transnationale Expertengremien hin­aus. Zur Lebensmittelsicherheitsregulierung in der EU argumentierten Christian Joerges und Jürgen Neyer,12 in den dafür einschlägigen Komitologie-Ausschüssen ließen sich häufig Situationen finden, in denen nationale Ex­perten nicht mit vorgefertigten „nationalen Interessen“ in die Diskussionen gingen. Vielmehr seien sie offen für einen deliberativen Prozess der Formulierung eines sinnvollen Konsenses. Expertise und Über­zeu­gungskraft anstatt Macht und Interessen seien hier die entscheidenden Kräfte. Und Amy Verdun13 in­terpretierte den De­lors-Ausschuss von 1988/89, der den Währungsteil des Vertrages von Maastricht konzipiert hatte, als neoli­be­ral ausgerichtetes Gremium von Wirtschaftswissenschaftlern, die daher die Stabilität der ge­mein­samen Wäh­rung über alles gestellt hätten.

Welche Kräfte herrschen wo vor?

Schaut man sich auf dem Hintergrund dieser Übersicht die wirkungsmächtigsten Kräfte an, so fällt schnell auf, dass die strukturell-funktionalen Perspektiven in den letzten 60 Jahren nach außen erhebliches Gewicht besessen haben: Auch wenn die EU seit 1990 nicht auseinandergefallen ist, besteht kein Zweifel, dass der Kalte Krieg eine entscheidende Rah­menbedingung für das Entstehen der westeuropäischen Integration gewesen ist. Und für viele der zentral- und osteuro­pä­ischen Staaten war (und ist) selbst nach 1990 die Angst vor Russland ein zentraler struktureller Beweggrund, der EU (und der NATO) beizutreten. Und seit der Ukraine-Krise verbreitet sich diese Angst auch im übrigen Europa.

Im Inneren wiederum hat die „spillover“-Logik viel für sich. Interdependenzen führen zu gemeinsamem Problemdruck, „spillover“ aus bereits vergemeinschafteten Politikbereichen erhöhen diesen Druck und niemand kann ihm auswei­chen, selbst dann nicht, wenn er bereit ist, die gesamte Einigung infrage zu stellen. Die Schweiz ist das beste Beispiel. Um immer noch die Möglichkeit zu haben, in einer Volksabstimmung Nein zu europäischen Regeln zu sagen, ver­zich­tet Bern nicht nur auf eine Mitsprache bei der europäischen Regelsetzung, sondern zahlt jährlich 1,5 Mrd. Schweizer Franken in den EU-Haushalt ein, ohne darüber mitzubestimmen, was mit diesem Geld geschieht. Die Schwei­zer Gesell­schaft und Wirt­schaft ist effektiv so massiv mit der EU verflochten, dass eine systematische Ab­schot­tung zum Erhalt ihrer re­alen Autonomie schon lange nicht mehr machbar erscheint – Nordkorea ist ja ein attrak­ti­ves Vorbild.

Demgegenüber zeigen sich die interessengeleiteten Perspektiven als ungewöhnlich schwach. Aus der Sicht nationaler In­­teressen lassen sich weder der Euro noch die Vergemeinschaftung der Innen- und Justizpolitik erklären – Zentralbank, Polizei und Justiz gehören zum Kern nationaler Souveränität, eigentlich hätte keine nationale Regierung bereit sein dür­fen, sie aufzugeben. Allenfalls die schwache gemeinsame Steuer- sowie Außen- und Sicherheitspolitik ließe sich hier im Um­­kehrschluss anführen: nationale Interessen blockieren hier eben die Vertiefung.

Was folgt daraus?

Damit wird eines überaus deutlich: Bei der Vertiefung der Europäischen Einigung geht es nicht um Verfassungsgebung und föderale Gestaltungsmöglichkeiten, sondern um Problemdruck, Krisen, Pragmatismus und inkrementelles Durch­wursteln. Wer das klar vor Augen geführt haben möchte, der sollte sich einen Aufsatz von Beate Kohler aus dem Jahr 1984 anschauen: „Ist die EG noch zeitgemäß?“14 Mit wenigen Ausnahmen lassen sich die dort aufgeführten Probleme und Krisenphänomene auch 30 Jahre später noch anführen, so dass man in Anspielung auf den Titel des Artikels heute gut und gerne fragen könnte, ob die „Krise der EU noch zeitgemäß“ ist – und diese Frage natürlich bejahen müss­te. So­lange moderne Gesellschaften dem technologischen Fortschritt und der ständig fortschreitenden funktionalen Dif­fe­ren­zie­rung unterliegen – und nichts deutet darauf hin, dass diese großen säkularen gesellschaftlichen Trends zu Ende gin­gen15 – werden die Kräfte, die die Europäische Einigung voran gebracht haben, weiterwirken. Das gilt selbst für ein Land wie Großbritannien, das – wollte es sich aus diesem Problemdruck herauswinden – den Weg zurück in Richtung Nordkorea gehen müsste: was für eine „splendid isolation“.

Damit gilt aber mehr denn je, was David Mitrany schon in den 1940er Jahren mehrfach festgestellt hat:16 Die Erfin­dung des Nationalismus in den Geburtswehen der Französischen Revolution hat tiefe Spuren in unseren Gesellschaften hin­ter­­lassen. Nationalismus muss sich selbst heute selten rechtfertigen, ein Wir-Gefühl auf der Grundlage einer nati­o­nalen Identität ist unumstritten, ja gilt geradezu als natürlich. Damit aber sind gleichzeitig auch nationale Steuern, eine natio­nale Armee oder eine nationale Währung grundsätzlich unstrittig, umkämpft sind in der Regel nur ihre kon­kre­ten Aus­ge­staltungen. Im Umkehrschluss aber heißt das, dass nicht-souveräne Währungen, nicht-souveräne Armeen und nicht-souveräne Steuern nicht nur automatisch einer wesentlich höheren Begründungspflicht unterliegen, sondern syste­ma­tisch als prekärer, unsicherer, gefährdeter und unzuverlässiger gelten.

Schon der Sprachgebrauch macht das deutlich. Als in den 1970er und 1980er Jahren im Ruhrgebiet die Zechen und Stahlwerke kriselten und der Schiffsbau an den Küsten tief in den roten Zahlen steckte, sprach niemand von einer D-Mark-Krise und niemand kam auf die Idee, das Saar­land zum eigenen Währungsgebiet zu machen, die Saarmark (wie­der) einzuführen und diese um 30% abzu­werten, um die Zechen und Hochöfen wieder konkurrenzfähig zu ma­chen. Vier Jahrzehnte später aber sind die Banken- und Wirtschaftsprobleme in Irland, Spanien und Griechenland ganz selbstverständlich eine „Euro-Krise“. Ein ähnliches Argument ließe sich für die Sicherheits- und Verteidigungs­po­litik vorbringen. Man muss nicht das hämische „Mourir pour Bruxelles?“ hervorkramen, um deutlich zu machen, wie viel ein­facher es etwa Franklin Delano Roosevelt im Dezember 1941 auf der Basis des Nationalismus hatte, die Bürger der USA zu einem Krieg auch gegen Deutsch­land zu mobilisieren, obwohl das Land zu dem Zeitpunkt al­lein von Ja­pan angegriffen worden war und von Hitler im Wesentlichen nur eine papierne Kriegserklärung vorlag.

Mit Mitrany bleibt aber gleichzeitig auch die zentrale Frage der heutigen Politik, ob Nationalismus uns die richtigen Maß­stäbe und Optiken bereitstellt, um die Welt des 21. Jahrhunderts zu verstehen. Und hier wird mehr und mehr deut­lich, dass nicht die EU in einer Dauerkrise steckt, sondern dass unsere Maßstäbe die Realität nicht mehr angemessen ab­bil­den, wir also neue entwickeln müssten. Schon ein Blick auf die territoriale Reichweite der EU-Regeln macht das deut­­lich. Fragt man sich, wen die 751 Abgeordneten des Europäischen Parlaments vertreten, dann kommt man auf ganz unterschiedliche Antworten:

  • die Bürger der 28 Mitgliedstaaten;
  • bei drei von vier Freiheiten des Binnenmarktes (Waren-, Dienstleistungs-, Kapitalverkehrsfreiheit) 32 Staaten (eben einschließlich Island, Norwegen, Liechtenstein und der Schweiz);
  • bei der vierten Freiheit (Personenverkehrsfreiheit bzw. Freizügigkeit) unter dem Stichwort „Schengen“ 26 Staaten (ohne Groß­bri­tannien, Irland, Kroatien, Bulgarien, Rumänien und Zypern, aber mit Island, der Schweiz, Liechtenstein und Norwegen);
  • bei der Handelspolitik, wo die EU in der WTO nicht nur für die zweitgenannten 32 Staaten im Binnenmarkt und Wirtschafts­raum verhandelt, sondern für 33, da sie zusätzlich für die Türkei spricht, die seit 1995 in einer Zoll­union mit der EU vereinigt ist;
  • bei der Haushaltspolitik, wo 30 Staaten in den EU-Haushalt einzahlen, neben den Mitgliedstaaten auch noch für Norwegen und die Schweiz;
  • beim Euro, wo 19 Mitgliedstaaten dabei sind, aber de facto auch Montenegro und der Kosovo.

Streift man die nationale Brille ab, wird deutlich, dass die Europäische Integration sich auch in Zukunft weiter vertiefen wird, so wie jedes politische System sich laufend reformiert und ändert. Ein Ruf nach dem Ende der Integration kommt im heutigen Europa der Forderung gleich, mit Politik aufzuhören – und sich zum Spielball anderer Mächte und der Glo­ba­lisierung zu machen. Solange das nicht gewollt ist gilt Margaret Thatcher’s „TINA“: There is no alternative.

  • 1 R. Hardin: Hobbesian Political Order, in: Political Theory, 19. Jg. (1991), H. 2, S. 156-180.
  • 2 Vgl. W. Loth: Die EVG und das Projekt der Europäischen Politischen Gemeinschaft, in: R. Hudemann, H. Kaelble, K. Schwabe (Hrsg.): Europa im Blick der Historiker: Europäische Integration im 20. Jahr­hundert. Bewußtsein und Institutionen, München 1995, S. 191-201.
  • 3 J. J. Mearsheimer: Back to the Future. Instability in Europe After the Cold War, in: International Security, 15. Jg. (1990), H. 1, S. 5-56.
  • 4 So bei S. Rosato: Europe’s Troubles: Power Politics and the State of the European Project, in: International Security, 35. Jg. (2011), H. 4, S. 45-87.
  • 5 J. M. Grieco: The Maastricht Treaty: Economic and Monetary Union and the Neo-Realist Research Program­me, in: Review of International Studies, 21. Jg. (1995), H. 1, S. 21-40.
  • 6 S. Hoffmann: Obstinate or Obsolete? The Fate of the Nation-State and the Case of Western Europe, in: Daeda­lus, 95. Jg. (1966), H. 3, S. 862-915.
  • 7 A. Moravcsik: Warum die Europäische Union die Exekutive stärkt: Innenpolitik und internationale Kooperati­on, in: K. D. Wolf (Hrsg.): Projekt Europa im Übergang? Probleme, Modelle und Strategien des Regierens in der Europäischen Union, Baden-Baden 1997, S. 211-269.
  • 8 T. Risse, D. Engelmann-Martin, H.-J. Knopf, K. Roscher: To Euro or Not to Euro? The EMU and Identity Politics in the European Union, in: European Journal of International Relations, 5. Jg. (1999), H. 2, S. 147-187.
  • 9 E. B. Haas: The Uniting of Europe: Political, Social, and Economic Forces 1950-1957, London 1958.
  • 10 W. Sandholtz, J. Zysman: 1992: Recasting the European Bargain, in: World Politics, 42. Jg. (1989), H. 1, S. 95-128.
  • 11 Vgl. M. Hennes: Der neue Militärisch-Industrielle Komplex in den USA, in: Aus Politik und Zeitge­schich­te, H. B 46/2003, S. 41-46.
  • 12 C. Joerges, J. Neyer: Transforming Strategic Interaction into Deliberative Problem-Solving: Euro­pe­an Comitology in the Foodstuffs Sector, in: Journal of European Public Policy, 4. Jg. (1997), H. 4, S. 609-625.
  • 13 A. Verdun: The Role of the Delors Committee in the Creation of EMU: An Epistemic Community?, in: Journal of European Public Policy, 6. Jg. (1999), H. 2, S. 308-328.
  • 14 B. Kohler: Ist die EG noch zeitgemäß? Zur Tragfähigkeit der Integrationspolitik, in: Aus Politik und Zeitge­schich­te, H. B 23-24/1984, S. 21-30.
  • 15 Vgl. U. Schimank: Wie sich funktionale Differenzierung reproduziert: Eine akteurtheoretische Erklärung, in: P. Hill, F. Kalter, J. Kopp, C. Kroneberg, R. Schnell (Hrsg.): Hartmut Essers erklärende So­ziologie: Kontroversen und Perspektiven, Frankfurt a.M. 2009, S. 191-216.
  • 16 D. Mitrany: A Working Peace System: An Argument for the Functional Development of International Organiza­ti­on, Royal Institute of International Affairs, London 1943; ders.: The Functional Approach to World Organization, in: International Affairs, 24. Jg. (1948), H. 3, S. 350-363.
 

Eine immer engere Union der Völker Europas

Es ist unstrittig, dass das Projekt „Europa“ eine Zukunft braucht, ob es in seiner heutigen Verfasstheit eine hat, ist dagegen ungewiss – ein Plädoyer für fünf neue Schritte.

Es ist offensichtlich: Der Europäischen Union ist irgendwo zwischen Grexit und Brexit der Gründungsmythos abhanden gekommen. Ein Interesse, über ihn zu sprechen, ist nicht auszumachen. Überlegungen, wie es mit der Europäischen Integration jenseits eines Rückbaus weitergehen könnte, sind kaum zu identifizieren. Die in der Präambel zum EU-Vertrag angesprochene „immer engere Union der Völker Europas“ und der mit ihr verbundene fortwährende Integrationsauftrag ist aus der Mode gekommen – und mit ihm wissenschaftliche Ansätze, die über die nächsten Schritte nachdenken. Dies ist eigentlich erstaunlich, denn es ist in nahezu allen politischen Lagern und gesellschaftlichen Gruppen doch eigentlich unstrittig, dass das europäische Projekt eine Zukunft braucht, ob es sie in den tradierten Formen hat, ist dagegen ungewiss.

Medienpräsenz erst in der Krise

Die tradierte Form der europäischen Integration weist zwei nicht ganz unwichtige Charakterzüge auf. Zum einen wurde sie über lange Zeit als apolitisches Projekt dargestellt und zum anderen wurde vermieden, Begriffe wie „Bundesstaat“ oder „Konföderation“ zu verwenden. Dem Integrationsprozess wurde gewissermaßen das Pflaster der Technizität angeheftet und zugleich wurde so getan, als ob man nicht wüsste, wohin die europäische Reise gehen soll (sogenannte „offene Finalität“). Nur so konnten immer neue Integrationsschritte unternommen werden, ohne dass es zu allzu kritischen Anfragen an das Integrationsprojekt kam. Zu diesen kam es erst, als es in gewisser Weise zu spät war, als nämlich die Union schon in nahezu alle Lebensbereiche der EU-Bürger und der Mitgliedstaaten eingedrungen war. Und sie erfolgten in erster Linie durch mitgliedstaatliche Höchstgerichte, deren Aufgabe eigentlich nicht darin bestehen kann, Europapolitik zu betreiben. Kritische Auseinandersetzungen, zivilgesellschaftliche Diskurse, eine breite Medienpräsenz – daran mangelte es über viele Jahre.

Heute rächt es sich, dass die Union Prominenz eigentlich erst in der Krise erlangt hat. Mit der Staatsschuldenkrise, die alles ist, aber nun einmal nicht genuin unional, schaffte es die EU in die Talkshows; jedermann fing an, über die EU und die vermeintlichen Fehlkonstruktionen rund um den Euro zu diskutieren. Doch aus der Warte der EU befand man sich hier schon lange in der Defensive – und aus der kommt der Diskurs offenkundig erst einmal nicht mehr heraus. Energie wird momentan auf Negativszenarien verwendet: Brüssel müsse Kompetenzen abgeben, so heißt es, nicht alles und jede Kleinigkeit dürfe in Brüssel geregelt werden. Das ist sicher richtig, hat aber nicht viel mit den gegenwärtigen Problemen zu tun. Schon das Rezept überzeugt nicht – Zukunft durch Rückbau?

Dass auch die europäischen Verträge eigentlich einen anderen Weg weisen, wird inzwischen kaum noch thematisiert. Es bleibt aber vorerst dabei, dass die weitere Integration nicht eschatologischer Wunschtraum kleiner Zirkel von Europabegeisterten ist, sondern ein Gestaltungsauftrag des Unionsrechts, der in den Verträgen verbindlich festgeschrieben ist. Es geht auch heute noch um eine immer engere Union der Völker Europas und darum, dass weitere Schritte getan werden müssen, um die europäische Integration voranzutreiben (siehe Präambel des EU-Vertrags).

Im Lichte dieses Integrationsauftrags wird die ganze Schizophrenie im Umgang mit den europäischen Strukturen überdeutlich, denn einerseits wird von Rückverlagerungen von Kompetenzen gesprochen, von einer Besinnung auf das „Eigentliche“ – ohne zu wissen, worin dieses besteht –, und andererseits wird an die Leistungsfähigkeit der supranationalen Strukturen appelliert, etwa im Bereich der Flüchtlingspolitik, die rein mitgliedstaatlich kaum noch betrieben werden kann.

Es spricht vieles dafür, dass diese neuen Vorstellungen von einem Europa à la carte nicht funktionieren können. Hier ein Rückbau, dort ein Ausbau? Letztlich scheint sich gerade heute die ganze Misere und Sprachlosigkeit, die den Prozess der europäischen Integration seit einigen Jahren umgibt, ihre Bahn zu brechen. Sicher ist aber, dass man ohne deutliche Fortentwicklungen des gesamten europäischen Konstrukts dauerhaft die Union, ihre speziellen Problemlösungskompetenzen und damit eine Errungenschaft der europäischen Zivilisation par excellence zur Disposition stellt. Es müssen insbesondere die bereits erwähnten Fehleinschätzungen unterbleiben. Mit anderen Worten: Die Fortentwicklung der EU darf nicht weiter als reine „Integrationsmechanik“ gesehen werden, die gleichsam elitengesteuert in die Mitgliedstaaten hineinrieselt, sondern es bedarf einer breiten öffentlichen Debatte über die Zukunft der EU einerseits und der Verabschiedung von beliebten „Verschleierungsbegriffen“, wie z.B. „offene Finalität“ oder „duale Legitimation“, andererseits.

Zukunft der EU

Wie kann aber die Zukunft der EU aussehen? Zumindest die entsprechenden juristischen Diskurse sind durch eine gewisse Ratlosigkeit geprägt. Auch die europäischen Institutionen selbst scheinen allzu ambitionierte Überlegungen über die künftigen europäischen Strukturen zu meiden. Wenn sie sich zu Wort melden, bleibt vieles vage. Was wird also vorgeschlagen und wie sind die Vorschläge zu bewerten?

Aus Frankreich stammen Ideen, die darauf zielen, eine europäische Wirtschaftsregierung zu formieren, die umfangreiche Kompetenzen erhalten soll und insbesondere auch ein möglichst hohes Budget. Die Diskussion über eine Wirtschaftsregierung ist hierbei nicht neu und erin-nert in gewisser Weise an eine Fehlannahme, die den europäischen Integrationsprozess schon lange begleitet. Man wird nämlich den Verdacht nicht los, dass diese Wirtschaftsregierung wieder als „technisches“ oder apolitisches Konstrukt begriffen wird. Solange die EU „nur“ im Bereich der Wirtschaft aktiv ist, werden größere politische Verwerfungen offenbar nicht befürchtet. Wirtschaftspolitik, eine Wirtschaftsregierung, Budgetrechte – hier handelt es sich aber sicher auch um höchst politische Fragen, die nicht isoliert betrachtet werden können. Ein so grundlegender Schritt erfordert vielmehr eine Art „Gesamtentwicklung“ der EU, sonst droht er schon an nationalverfassungsgerichtlichen Vorbehalten zu scheitern.

Dagegen wird von der britischen Seite ein Rückbau-Szenario aufgezeigt. Unionale Kompetenzen sollen beschnitten werden. Dieser Vorschlag soll an eine Volksabstimmung gekoppelt werden, was ihn zumindest politisch enorm druckvoll erscheinen lässt. Tatsächlich zeigt aber die europäische Integrationsgeschichte, dass die Fixierung auf Kompetenzkataloge zwar politisch interessant ist, aus der juristischen Perspektive aber bislang wenig Klarheit gebracht hat. Bedenkt man, dass auf der einen Seite nach weniger Europa gerufen wird, auf der anderen Seite nach mehr Europa, so fehlt es den Vorstellungen an Kohärenz. Natürlich steht es den Mitgliedstaaten frei, Kompetenzen zurückzuverlagern. Es müsste aber erst einmal darüber gesprochen werden, wo die EU Kompetenzen nicht adäquat ausfüllen kann – wo also der mitgliedstaatliche Ruf eventuell gerechtfertigt ist und wo nicht. Ähnlich wie bei der Debatte über die Einführung des Subsidiaritätsprinzips muss auch hier gelten, dass soweit bestimmte Sachaufgaben auf europäischer Ebene besser gelöst werden können, die entsprechenden Kompetenzen auch auf diese Ebene gehören. „Rückbaudiskussionen“ sind so bei Tageslicht betrachtet keine Einbahnstraße in Richtung Mitgliedstaat, sondern bewirken womöglich das genaue Gegenteil.

In Deutschland – so scheint es – hält man sich dagegen bislang aus der Diskussion über notwendige Veränderungen mehr oder weniger heraus. Vielmehr scheint zumindest auf der Ebene der Politik eine Art Fall-zu-Fall-Ansatz zu dominieren, Probleme sollen gelöst werden, wenn sie anfallen. Schon an dieser Haltung können grundlegende neue Integrationsschritte scheitern.

Die Europarechtswissenschaft scheint dagegen seit dem Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrags in einer Art Schockstarre zu verharren. Nicht zuletzt das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat dazu geführt, dass immer mehr über die Grenzen der Integration und damit über das nationale Unionsverfassungsrecht gesprochen wird, nicht aber über neue europäische Arrangements.1 Die Arbeit erfolgt – wenn überhaupt – im Detail, etwa in Bezug auf die Kodifikation verwaltungsrechtlicher Regelungen oder Arbeiten zum europäischen Privatrecht. Im Zentrum der Debatte steht auch die Frage nach der demokratischen Legitimation der EU, ohne dass es hier zu wesentlich neuen Impulsen gekommen wäre. Dennoch verkörpern etwa der Aufruf der sogenannten Glienicker-Gruppe,2 Initiativen der Spinelli-Group,3 aber auch ältere europäische Verfassungsentwürfe wichtige Wegmarken für die weitere Diskussion.4

Notwendige und vorstellbare Reformschritte

Was sind also vorstellbare Schritte? Angesichts der gegenwärtigen Probleme der Union scheinen folgende fünf Punkte im Vordergrund zu stehen:

  1. Steigerung der Effizienz der Unionsorgane: Zwar hat die EU während der zurückliegenden Bankenkrise und der gegenwärtigen Staatsschuldenkrise gezeigt, dass sie schnell in Krisensituationen helfen kann. Zugleich waren und sind immer wieder Ausweichmanöver in das Völkerrecht notwendig. Dass institutionelle Arrangement kann also nicht in allen Situationen erfolgreich agieren. Die notwendigen Reformschritte sind in den letzten Jahren immer wieder diskutiert worden. Die Schaffung einer europäischen Regierung, die dann von einem allseits als vollwertig respektierten europäischen Parlament kontrolliert werden müsste, könnte ebenso einen Schritt nach vorn verkörpern, wie der dann notwendige Umbau des Rates zu einer Art zweiten Kammer.5
  2. Intensivierung der Integration aus einer Gesamtperspektive: Damit einher gehen Vorschläge für weitere Integrationsschritte, die dann letztlich auch demokratisch legitimiert werden müssen und können. Es liegt auf der Hand, dass die Wirtschafts- und Währungsunion nur funktionieren kann, wenn die nationalen Haushaltspolitiken stärker koordiniert werden und insbesondere auch die mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitiken. Langfristig sind Diskussionen über ein europäisches Sozialmodell ebenso notwendig wie die Aktivierung bislang eher brach liegender Politikbereiche. Hiermit soll nicht etwa einer brüsseler Regulierungswut das Wort geredet werden, sondern lediglich darauf hingewiesen werden, dass neue Integrationsschritte nur aus einer Gesamtperspektive erfolgen können.
  3. Europäische Öffentlichkeit und Demokratie: Ein weiterer Baustein für eine immer engere Union der Völker Europas liegt sicher auch in der Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit und damit verbunden in einer gelebten europäischen Demokratie. Bislang diente insbesondere die Frage nach dieser Öffentlichkeit bzw. das Attest ihres Fehlens häufig als Beleg dafür, dass es so etwas wie einen europäischen Bundesstaat nicht geben kann. Die letzten Europawahlen haben aber zumindest in einigen Mitgliedstaaten für ein starkes mediales Echo gesorgt, verbunden mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Debatten. Auch das Instrument des Europäischen Bürgerbegehrens oder die Diskussionen rund um geplante Freihandelsabkommen (TTIP, CETA) zeigen, dass Bewegung in die Frage kommt. Insoweit steht zu erwarten, dass etwa Wahlen zu einem deutlich aufgewerteten Europäischen Parlament durchaus Ansätze für eine europäische Öffentlichkeit erzeugen können. Auch hier zeigt sich die Notwendigkeit einer Gesamtperspektive.
  4. Europäische Außenpolitik: Eine weitere offene Flanke des Integrationsprozesses ist die bislang kaum wahrnehmbare europäische Außenpolitik. Gerade in der gegenwärtigen globalen Konstellation, aber auch ob der Verwiesenheit der EU auf internationale Organisationen, wie z.B. dem IWF, kann man eine Gesamtperspektive nur einnehmen, wenn auch die Außenpolitik auf neue Füße gestellt wird. Insbesondere die Zuständigkeiten des Europäischen Parlaments und des Europäischen Gerichtshofs sind hier zu überdenken.
  5. Verantwortlichkeitsstrukturen: Neue Schritte müssen vor diesem Hintergrund von einer neuen Verantwortlichkeitskultur auf europäischer Ebene begleitet werden. Es ist unwahrscheinlich, dass die Mitgliedstaaten ohne neue Kooperationsstrukturen nächste Schritte gehen. Doch die Frage der Verantwortlichkeit reicht weiter. Verantwortlichkeiten auf der Ebene der EU müssen unmittelbar gestaltet werden, dem unmittelbaren Zugriff des Bürgers anheim gegeben werden. Dies kann durch die Stärkung des Europäischen Parlaments, aber eben auch durch den weiteren Ausbau direktdemokratischer Instrumente geschehen. Die EU kommt nur mit Hilfe einer engagiert geführten europäischen Debatte aus der Defensive. Hierzu gehört auch, offen über Defizite und neue Verantwortlichkeiten zu sprechen. Der Integrationsprozess muss so in gewisser Weise für den Bürger spürbar werden. Das ist alles nicht neu, schon das heutige Unionsrecht bekennt sich zu einem Europa der Bürger. Es müsste aber auch verwirklicht werden.

Diese fünf Schritte bedürfen sicher der Ergänzung und Präzisierung. Und es ist ebenso gut verständlich, wenn man angesichts der Probleme, die das europäische Projekt zweifelsohne aufwirft, eine ganz andere Richtung der Diskussion präferiert. Nimmt man aber den Gedanken des Unionsrechts – die immer engere Union der europäischen Völker – ernst, so wird man sich einer grundlegenden Diskussion über ihre Zukunft nicht verschließen können.

  • 1 BVerfGE 123, 267 – Lissabon; dazu auch J. P. Terhechte: Das Bundesverfassungsgericht und die Zukunft der EU, in: Wirtschaftsdienst, 89. Jg. (2009), H. 7, S. 428.
  • 2 Im Internet unter http://www.glienickergruppe.de.
  • 3 The Spinelli Group (Hrsg.): A Fundamental Law of the European Union, 2013.
  • 4 Dazu P. Häberle: Die Herausforderungen des europäischen Juristen vor Aufgaben unserer Verfassungs-Zukunft: 16 Entwürfe auf dem Prüfstand, in: Die öffentliche Verwaltung DÖV, 2003, S. 429 ff.
  • 5 Dazu etwa A. Hatje: Demokratie in der Europäischen Union – Plädoyer für eine parlamentarisch verantwortliche Regierung der EU, in: ders. (Hrsg.): Verfassungszustand und Verfassungsentwicklung der Europäischen Union, in: Europarecht-Beiheft, Nr. 2/2015, S. 39 ff.

Title:Is a Deepening of the European Union Necessary – and Possible?

Abstract:Discussions about further European integration have intensified since the five presidents published their report to complete the process of European Monetary Union. Four members of the German Council of Economic Experts argue for a mandatory balance of liability and control during each step of European integration, in particular if such steps have budgetary implications for the member states. Other authors view the proposed reforms more positively. They believe that some are useful complements to monetary union, while others lack legal foundations and popular support, which – with respect to the failing confidence of the European citizen – they see as a serious error. An ever closer union among the people of Europe constitutes one of the fundamental goals of the Treaty on European Union. This idea has to be seen in contrast to the current debates concerning the future of the EU, which are dominated by small steps, setbacks or reallocations of competences. Without new ideas and a new institutional design, the European success story could come to an end.

Beitrag als PDF

DOI: 10.1007/s10273-015-1873-0