Der Altenquotient steigt deutlich an, das Rentenniveau sinkt. Dies fordert politisches Handeln heraus. Noch in diesem Herbst will Sozialministerin Andrea Nahles Eckpunkte einer Reform der Alterssicherung vorstellen. Stellschrauben gibt es genug: Die betriebliche Altersvorsorge kann besser gesichert, die private Rentenversicherung ausgebaut, die Beitragsbasis in der gesetzlichen Rentenversicherung erweitert, das Renteneintrittsalter angehoben und staatliche Zuschüsse können erhöht werden. Die Autoren sind sich durchaus nicht darüber einig, wo der dringendste Handlungsbedarf besteht und ob nicht gar das ganze System zurückgedreht werden sollte.
Die Rentenversicherung und die künftige demografische Entwicklung – zur Rentenpolitik bis 2060
Die Politik muss sich der Aufgabe stellen, die Rentenversicherung an die weitere demografische Entwicklung anzupassen. Der Zeithorizont der jetzigen Regelungen reicht nur bis 2030. Nach der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes1 nimmt die Bevölkerung bis 2025 leicht zu, sinkt dann bis 2060 je nach Zuwanderung – alternativ 100 000 und 200 000 Personen im Jahr2 – auf zwischen 73 Mio. und 68 Mio. Personen. Die Geburtenziffer ist ein wenig gestiegen auf 1,47 Kinder. Hält das an, verläuft die Entwicklung etwas langsamer. Doch heute geborene Kinder werden erst ab 2040 aktiv zum Wirtschaftsleben beitragen, d.h. dann wenn der demografische Wandel längst Realität ist.3 Die Lebenserwartung der 65-Jährigen steigt bis 2060 um rund sechs Jahre, für Männer auf 88 Jahre, für Frauen auf 91 Jahre. Die Bevölkerung im Erwerbsalter bis Ende 64 sinkt von heute rund 50 Mio. auf rund 36 Mio.4 Verlängerte sich das faktische Erwerbsalter bis 67, wären es 2 Mio. mehr. Die Zahl der ab 65-Jährigen wächst bis 2037 schnell, weil die Baby-Boomer-Generation in Rente geht, es sind dann 23 Mio. Personen, 40% mehr als 2013. Der Altenquotient von heute 34% erhöht sich bis dahin auf rund 56%, bis 2060 verdoppelt er sich auf bis zu 69%.5 Geht man von den 67-Jährigen aus, liegt er 2035 bei 49% und 2060 bei 56%; der Anstieg minderte sich um über ein Drittel. Die genannten Mittelwerte mögen sich im Detail verschieben, der Trend ändert sich nicht.
Auswirkungen auf Beitragssatz und Rentenniveau
Mit Berechnungen, wie sich all das auf die Rentenversicherung auswirkt, hält sich die Bundesregierung zurück, sie scheut die Ergebnisse. Es gibt aber in der Tendenz übereinstimmende6 Berechnungen der OECD,7 des RWI,8 des MEA,9 der Prognos AG10 und von Werding,11 dessen Ergebnisse der Sachverständigenrat für Wirtschaft 201512 übernommen hat. Der Beitragssatz wird für 2040 auf knapp 24%, 2050 auf 25%13 und 2060 auf 26% geschätzt.14 Bei einem ungünstigen Szenario steigt er auf 27,5%. Der Gesamtsozialversicherungsbeitrag läge dann bei rund 50%.15 Weil Beitragssatz und Rentnerquotienten steigen, sinkt das Rentenniveau vor Steuern von derzeit 47% bis 2040 auf rund 43%, bis 2060 auf rund 41% bis 42%.16
Daher: Es gibt keinen Spielraum für Wahlgeschenke. Der jetzigen Rentnergeneration geht es ohnehin besser als jeder anderen vorher oder nachher. Es ist schlimm genug, dass die Rente mit 63 und die Erweiterung der Mütterrente 2014 die Rentenfinanzen über 2030 hinaus mit über 3% der Ausgaben stark belasten.17 Forderungen, das Rentenniveau nicht weiter absinken zu lassen, ohne zu erklären, wie das finanziert werden soll, sind unverantwortlich. Genauso verbietet sich eine erneute Erweiterung der Mütterrente mit Kosten von über 6 Mrd. Euro im Jahr.18 Die „Lebensleistungsrente“ taugt nichts, man sollte sie endlich begraben.19 Die Politik darf das Problem nicht zulasten der künftigen Generationen noch größer machen. Sie muss gegensteuern.
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Dafür gibt es aber nicht allzu viele Stellschrauben. Den Kreis der Versicherten zu erweitern, würde zwar nicht den Altenquotienten, wohl aber den Rentnerquotienten mindern. Doch werden Beitragszahler später Rentner. Zusätzliche Beitragszahler verschaffen nur einen mittelfristigen Liquiditätsgewinn. Er kann aber den starken Anstieg des Rentnerquotienten zwischen 2020 und 2040 etwas glätten.
Deshalb muss alles getan werden, das jetzt erreichte hohe Beschäftigungsniveau so lange wie möglich zu halten. Die Arbeitsmarktpolitik muss auch weiter alles daran setzen, Arbeitslosigkeit zurückzudrängen. Ansatzpunkte sind die Aus-, Fort- und Weiterbildung. Sinnvolle Sozialpolitik fängt mit der Bildungspolitik an. Weitere Handlungsfelder sind die Gesundheitsförderung, die Prävention und die Rehabilitation. Die Erwerbstätigkeit von Frauen muss, was Zahl und Kontinuität angeht, weiter gesteigert werden, auch um ihre eigene, vielfach defizitäre soziale Sicherung auszubauen. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss weiter verbessert werden.
Die Erwerbsquote der Älteren ist zwar in den letzten Jahren deutlich gestiegen, liegt aber noch unter der Japans, der Schweiz oder Norwegens.20 Der Ausschluss der Langzeitarbeitslosen aus der Rentenversicherung, der sie zur Klientel der Grundsicherung werden lässt, 21 sollte rückgängig gemacht werden. Auch Mindesteinkommen verbreitern die Beitragsbasis. Zuwanderung kann das Problem mindern,22 soweit die Integration in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt gelingt. Doch insoweit gibt es bei der Aus-, Fort- und Weiterbildung große Defizite. Mit der Zeit werden aber auch viele Flüchtlinge – wenn auch weniger qualifizierte – Arbeit finden. Damit ist für die Rentenversicherung ein bescheidener Liquiditätsgewinn auf Zeit verbunden.
Beamte und Selbstständige in die Rentenversicherung?
Manche machen es sich zu einfach. Die Absenkung des Rentenniveaus rückgängig zu machen, sei möglich, man brauche nur die Beamten und die Selbständigen in die Rentenversicherung einzubeziehen.23 Richtig an dieser populären Forderung ist: Könnten wir ein Altersvorsorgesystem neu erfinden, gäbe es keine Ausnahmen für Beamte und Selbständige. Aber in unserem gewachsenen System weist die Beamtenversorgung eine längere Geschichte auf als die Rentenversicherung.24 Das schützt nicht vor Veränderung. Doch erfasst die „institutionelle Garantie“ des Grundgesetzes zugunsten des Berufsbeamtentums (Art. 33 V GG) auch die Beamtenversorgung.25 Sie abzuschaffen und die Beamten in die Rentenversicherung einzubeziehen, ist, ohne das Grundgesetz zu ändern, nicht möglich.26 Dafür gab und gibt es die notwendigen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat nicht.
Gäbe es sie, würden Bund, Länder und Kommunen, auch um eine doppelte Belastung durch Sozialversicherungsbeiträge und Pensionen zu vermeiden und um eine ständig steigende Last27 loszuwerden, fordern, dass die Rentenversicherung nicht nur die aktiven, sondern auch die pensionierten Beamten übernimmt. Die Rentenversicherung hätte sofort höhere Ausgaben. Die Beamten wären zudem wegen ihrer durchschnittlich längeren Lebensdauer „teure Risiken“.28 Da aber die Beamtenversorgung vor ähnlichen demografischen Problemen steht, muss auch sie angepasst werden.29 Dabei ist ihr „bifunktionaler“ Charakter30 zu berücksichtigen. Sie kombiniert Regelsicherung und betriebliche Altersversorgung in einem System. Die Gesetzgeber in Bund und Ländern haben nicht stets konsequent Rentenreformen systemadäquat auf die Beamtenversorgung übertragen.31 Auch sollten Verbeamtungen auf das verfassungsrechtlich Notwendige begrenzt werden.
Bei Selbständigen ist die Problematik eine andere. Die Freien Berufe (z.B. Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte) sind in berufsständischen Versorgungswerken abgesichert. Handlungsbedarf wird vor allem bei Solo-Selbständigen gesehen, die keine Mitarbeiter beschäftigen, meist nur geringe Einkommen beziehen und im Alter häufig zur Klientel der Grundsicherung gehören. Deren Einbeziehung in den Schutz der Rentenversicherung wäre notwendig.32 Aufgabe der Sozialversicherung war es stets, diejenigen, die zu ihrem Lebensunterhalt auf Erwerbsarbeit angewiesen sind, für den Ausfall oder die Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit kollektiv vorsorgen zu lassen, auch um staatliche Hilfe zu vermeiden. Bei dieser Zielsetzung kommt dem Unterschied zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit immer weniger Bedeutung zu. Doch können viele Solo-Selbständige die vollen Rentenbeiträge nicht aufbringen.33 Daran sind Lösungen bisher gescheitert. Ein nennenswerter Beitrag zur Bewältigung der langfristigen Finanzprobleme wäre mit ihrer Einbeziehung in die Rentenversicherung nicht verbunden.
Eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenzen
Beiträge werden in der Rentenversicherung bis zur Beitragsbemessungsgrenze erhoben. Sie betragen 2016 im Jahr 74 400 Euro in den alten und 64 800 Euro in den neuen Bundesländern und erfassen Einkommen bis etwas mehr als dem Doppelten des Durchschnittseinkommens. Würden diese Grenzen – anpassungsneutral – erhöht, nähme zwar auch die Beitragsbelastung der Versicherten zu, beträfe aber – anders als ein höherer Beitragssatz – „nur“ die Versicherten mit höheren Einkommen. Sie bekämen dafür entsprechend höhere Renten. 2013 hatten rund 1,5 Mio. Versicherungspflichtige Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze.34 Bei ihrer Anhebung um rund ein Drittel, das wäre in den alten Bundesländern auf rund 100 000 Euro, könnten sich grob geschätzt über 4 Mrd. Euro zusätzliche Beiträge ergeben, derzeit 0,4 Beitragssatzprozentpunkte. Auf jeden Fall sollte die in ihren Auswirkungen ungerechte Sozialabgabenfreiheit der Entgeltumwandlung35 aufgehoben werden. Sie begünstigt nur einen Teil der Arbeitnehmer, mindert aber für alle das Rentenniveau. Es geht dabei um bis zu 4% des Bruttoeinkommens. Beide Maßnahmen brächten aber im Gegensatz zu einer Anhebung des Beitragssatzes wegen der später höheren Renten nur einen mittelfristigen Liquiditätszuwachs.
Rentenniveau und Rentnerarmut
Die wichtigste Stellschraube zur Begrenzung der Ausgaben ist das Rentenniveau. Es wird wegen des Anstiegs des Beitragssatzes und des Rentnerquotienten und der deswegen niedrigeren Anpassungen um bis zu 6 Prozentpunkte absinken. Die Sorge ist, dass deswegen vermehrt Rentnern Armut drohe. Da wurde mit falschen Zahlen Angst geschürt. Niedrige Renten sind kein Beleg für Altersarmut.36 Sie können mit Beamtenpensionen, Leistungen der berufsständischen Versorgungswerke oder der betrieblichen und privaten Altersvorsorge zusammentreffen. Die Rente der teilzeitbeschäftigt gewesenen Ehefrau ist ein Zusatzeinkommen zum Rentnerhaushalt, daher kein Indiz für Armut. 2014 waren rund 17% der Bevölkerung armutsgefährdet, 5% arm. Bei den über 65-Jährigen lagen die Werte niedriger, die über 65-jährigen Männer hatten mit 2,5% den in der Gesamtbevölkerung niedrigsten Anteil an Armut.37 Es haben auch nur 2,5% der Rentner ergänzend Grundsicherung im Alter bezogen,38 zumeist Frauen. Altersarmut ist derzeit kein allgemeines Problem. Betroffen sind vor allem Geringqualifizierte, Bezieher von Erwerbsminderungsrenten, Langzeitarbeitslose, Solo-Selbständige, Alleinerziehende bzw. geschiedene Frauen und Personen mit Migrationshintergrund, Personen, von denen die meisten schon vor dem Rentenbezug Sozialhilfe erhielten.39 Allerdings steigt die Zahl. Seit 2003 hat sie sich verdoppelt.40 Das liegt vor allem daran, dass die Zahl der ergänzend auf Grundsicherung angewiesenen Erwerbsminderungsrentner sich seitdem mehr als verdreifacht hat41 und viele Erwerbsbiografien Lücken aufweisen, in denen z.B. nicht versicherte selbständige Tätigkeiten ausgeübt wurden. Erwartet wird, dass sich der Anteil der Grundsicherungsfälle bei Rentnern bis 2030 auf über 3,5% erhöhen wird,42 eine Folge auch der wegen der Rente mit 67 wieder vermehrten Abschläge und der weiteren Niveauabsenkung.
Ein sinkendes Rentenniveau bedeutet nicht, dass Renten gekürzt werden, sie steigen „nur“ weniger stark an als die Löhne. Trotzdem wird auch künftig ihr Abstand zur Grundsicherung größer, weil sie stärker als diese steigen.43 Außerdem nimmt die Arbeitsproduktivität weiterhin zu. Auch in Zukunft kann man sich für den Lohn einer Stunde Arbeit immer mehr leisten. Die Lohn- aber auch die Renteneinkommen werden sich „real“ weiter erhöhen. Eine zunehmende Rentnerarmut beträfe auch wegen der zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit nicht den „normalen“ Zwei-Personen-Rentnerhaushalt. Von den Problemgruppen würden aber mehr ergänzend auf die Grundsicherung angewiesen sein. Daher wird die Politik alles daran setzen, die sich abzeichnende Niveauabsenkung zu mindern. Allerdings müsste, würde das Niveau z.B. um vier Prozentpunkte angehoben, der Beitragssatz um zwei weitere Prozentpunkte ansteigen.44
Anhebung der Altersgrenzen
Neben dem Rentenniveau ist die Altersgrenze die zweite wichtige Stellschraube zur Regulierung der Rentenausgaben. Die Regelaltersgrenze 65 wird seit 2012 bis 2029 stufenweise auf 67 Jahre angehoben. Sie liegt 2016 bei 65 Jahren und 5 Monaten. Das durchschnittliche Zugangsalter für Altersrenten lag 2014 mit 64,1 Jahren noch über ein Jahr darunter. Von einer Altersgrenze 67, die ab 2029 gilt, sind wir weit entfernt. Würde sie faktisch erreicht, minderte das den Anstieg des Rentnerquotienten deutlich, wenn nicht, wären 2030 der Beitragssatz um rund ein Prozentpunkt höher und das Rentenniveau um über ein Prozentpunkt niedriger,45 damit die Ausgangssituation für die Zeit danach noch ungünstiger. Die Rentenlaufzeiten haben sich seit 1960 auf 20 Jahre verdoppelt. Sie würden, wenn sich nichts ändert, bis 2060 auf 24 Jahre für Männer und 26 Jahre für Frauen steigen, der Altenquotient verdoppelte sich auf bis zu 69%. Die Dauer der Erwerbstätigkeit wäre bei Vielen nicht einmal mehr doppelt so lang.
Daher kann eine weitere Heraufsetzung der Altersgrenze für die Zeit nach 2030 kein Tabu sein.46 Sie nimmt den Versicherten nichts weg; es geht nur der Zuwachs an Lebenserwartung nicht mehr voll zulasten der jüngeren Generationen. Man brauchte diesen Schritt nur dann nicht, wenn man bereit wäre, den Beitragssatz auf bis zu 27% ansteigen und das Rentenniveau vor Steuern auf bis zu 41% absinken zu lassen. Beides wird man nicht wollen. Der Bundesfinanzminister hat die Rente mit 70 ins Gespräch gebracht47 und Kritik geerntet; die Bundesbank48 und die meisten Ökonomen sehen das wie er.49 Die OECD50 und der Sachverständigenrat für Wirtschaft51 werben für einen Automatismus, nach dem sich die Regelaltersgrenze entsprechend der Veränderung der durchschnittlichen Lebenserwartung verschiebt. Für ihn haben sich Norwegen, Dänemark, Italien und die Niederlande entschieden. Eine solche Lösung ist für die künftige Entwicklung offen und damit auch politisch leichter durchzusetzen. Vorgeschlagen wird, die Lebensarbeitszeit und die Dauer des Rentenbezugs im Verhältnis von zwei (Arbeitszeit nach dem Alter 20) zu eins (Rentenbezug) aufzuteilen.52
Doch bewirkt eine Anhebung der Altersgrenze keine Wunder. Arbeiten ihretwegen die Versicherten z.B. bis 67, erwerben sie höhere Rentenanwartschaften. Gegenüber der Altersgrenze 65 spart die Rentenversicherung nur den Zuschlag, den sie bei einer erst nach der Regelaltersgrenze beginnenden Rente hätte zahlen müssen, je Jahr sind dies aber doch 6% der Rente. Wer mit 65 Jahren zwei Jahre vorzeitig in Rente ginge, müsste Abschläge in Höhe von 7,2% der Rente in Kauf nehmen. Für eine solche Lösung sprechen dennoch folgende Überlegungen:
- Der Anstieg des Beitragssatzes würde geringer ausfallen.
- Das Rentenniveau müsste nicht so stark absinken.
- Eine weitere Anhebung der Altersgrenze um z.B. zwei Jahre würde nur etwa ein Drittel der zusätzlichen Lebenszeit ausmachen, um den Rest würde sich die Rentenbezugsdauer weiter verlängern.
- Anders als bei einem Beitragssatzanstieg würden die Versicherten von dem vermeintlichen „Opfer“ in Form der längeren Lebensarbeitszeit profitieren, weil sie in ihr zusätzliche Rentenansprüche erwerben und damit eine Absenkung ihres Rentenniveaus ganz oder teilweise auffangen können.
- Auch würden das Niveau der privaten und betrieblichen Vorsorge und damit das Gesamtversorgungsniveau ansteigen.53
- Anders als ein Anstieg des Beitragssatzes würde eine Anhebung der Regelaltersgrenze den Bundeszuschuss nicht zusätzlich erhöhen; ein Argument, das im Zusammenhang mit der Schuldenbremse54 beachtlich ist.
- Eine weitere Anhebung der Altersgrenzen macht eine Verlängerung der Zurechnungszeit bei den Renten wegen Erwerbsminderung oder wegen Todes notwendig, was die zu oft prekäre Situation dieser Rentner verbessern würde, jedoch mit Mehrkosten verbunden ist.
- Eine durch tarifvertragliche Leistungen flankierte stärkere Flexibilisierung der Altersgrenzen, die ab 2017 kommen soll, könnte auch für Berufe mit besonderer körperlicher Belastung eine Anhebung der Regelaltersgrenze zumutbar werden lassen. Um Abschläge bei vorzeitigem Rentenbeginn zu mindern, wird die Möglichkeit geschaffen, schon ab 50 zusätzliche Beiträge entrichten zu können.55 Auch sollten tarifvertragliche Ansätze56 wieder belebt werden, die durch die Rente mit 63 verschüttet wurden.
- Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit würde dazu führen, dass sich das Erwerbspersonenpotenzial allein bis 2040 um bis zu 700 000 Personen erhöht verbunden mit einem gesamtwirtschaftlich positiven Wachstumseffekt.57
Zu bedenken ist, dass eine – verfassungsrechtlich zulässige58 – Anhebung der Altersgrenzen wegen des Vertrauensschutzes längere Übergangsregelungen braucht und nur stufenweise vollzogen werden kann. Daher: Je mehr Zeit bis zu einer solchen Regelung vergeht, umso geringer ist ihr Einspareffekt. Die Politik verliert kostbare Zeit, wenn sie weiter die Probleme leugnet und mit einer Entscheidung bis nach 2030 wartet.
Änderung bei den Abschlägen
Der vorzeitige Rentenbezug geht – von der Rente für besonders langjährig Versicherte abgesehen – nicht mehr zulasten der Solidargemeinschaft. Der Versicherte zahlt für jeden Monat einen Abschlag von 0,3% der Rente – es ist der „Preis“ für die längere Rentenlaufzeit. Wer den Rentenbeginn hinausschiebt, bekommt pro Monat 0,5% Zuschlag. In kapitalgedeckten Vorsorgesystemen beträgt der Abschlag bis zu 0,6%, in ihnen ist allerdings der Kapitalzins Maßstab für die Berechnung des Abschlags, während er sich in der Rentenversicherung an der Anpassungsdynamik orientiert. Das Bundessozialgericht hat die 0,3% als „fair“ beurteilt.59 Eine Erhöhung steht politisch60 nicht zur Diskussion – wegen der längeren Rentenlaufzeiten müsste eher eine Absenkung in Betracht gezogen werden.
Dass Versicherte mit 45 Versicherungsjahren mit 63 bzw. 65 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen können, ist eine krasse Fehlentscheidung des Gesetzgebers.61 Der im Vergleich zu allen anderen Versicherten zwei Jahre längere Rentenbezug ist ein grundloses Geschenk an den Durchschnittsverdiener von fast 33 000 Euro, das die anderen Versicherten, insbesondere die mit niedrigeren Renten, bezahlen müssen. Das muss korrigiert werden. Es wäre ein Fehler, die Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten zu streichen. Alle Älteren würden dann versuchen, über eine Erwerbsminderungsrente abschlagsfrei vorzeitig in Rente zu gehen. Außerdem ist wegen der Einführung der Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten zum Ausgleich die Zurechnungszeit deutlich erhöht worden,62 dieser Weg sollte, besonders wenn die Altersgrenzen heraufgesetzt werden, weiter beschritten werden.
Der Bundeszuschuss
Die Bundeszuschüsse sind die zweitwichtigste Finanzierungsquelle der Rentenversicherung. Sie machten 2015 62,4 Mrd. Euro und damit etwas mehr als 23% der Einnahmen aus. Sie werden unter anderem entsprechend der Entwicklung der durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelte und der des Beitragssatzes fortgeschrieben und bis 2060 von 4% des Bruttoinlandsprodukts auf 5,6% ansteigen.63 Aufgabe der Bundeszuschüsse ist zum einen, die der Rentenversicherung aufgebürdeten nicht-beitragsgedeckten Leistungen zu finanzieren.64 Sie sind zum andern Ausdruck und Folge der politischen Verantwortung des Staates für das von ihm organisierte Pflichtversicherungssystem, sie sind die Kehrseite des Eigentumsschutzes der Renten.65 Insoweit ist ihre Höhe grundsätzlich eine politische Entscheidung. Dies gilt auch für die Frage, ob sie nach 2030 wegen des starken Anstiegs des Rentnerquotienten über die reguläre Fortschreibung hinaus erhöht werden sollen, wie es bei der Reform 1989/1992 geschehen ist. Zugesagt ist, dass die 2014 erweiterte „Mütterrente“ wesentlich stärker aus Steuermitteln finanziert werden soll.66 Zu ändern ist auch, dass die allgemeine Rentenversicherung an die knappschaftliche Rentenversicherung einen sachlich nicht gerechtfertigten „Wanderungsausgleich“ in Höhe von über 2 Mrd. Euro zu zahlen hat, der deren Defizit mindert, für das der Bund aufzukommen hat.67
- 1 Statistisches Bundesamt: Bevölkerung bis 2060, 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, 2015; vgl. auch Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2015, Bundestags-Drucksache, 18/6870, S. 90 ff.; OECD-Wirtschaftsberichte: Deutschland, 2016, S. 102 ff.
- 2 Kritik: Die Zahlen sind zu gering: M. Bräuninger, M.-O. Teuber: Bevölkerungsprognosen und ihre Interpretation, in: Wirtschaftsdienst, 96. Jg. (2016), H. 6, S. 444 ff.
- 3 C. M. Schmidt: Rentenpolitik im Angesicht des demografischen Wandels – Problemverschärfung statt Rationalität, in: Wirtschaftsdienst, 95. Jg. (2015), H. 13, S. 7 ff.; zur „Geburtenwende“: M. Klein, T. Weirowski: Geburtenwende in Deutschland – was ist dran und was sind die Ursachen?, in: Wirtschaftsdienst, 96. Jg. (2016), H. 9, S. 682 ff.
- 4 Dazu OECD, a.a.O., S. 105.
- 5 A. Holthausen, J. Rausch, C. B. Wilke: Weiterentwicklung eines Rentensimulationsmodells, MEA-Discussion-Paper, Nr. 3-2012, S. 34, S. 28; M. Werding: Demografischer Wandel und öffentliche Finanzen – Langfristprojektionen 2014 – 2060, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Arbeitspapier, Nr. 01-2014, S. 33; C. M. Schmidt, a.a.O., Tabelle 1.
- 6 Vgl. die Zusammenstellung durch Sozialbeirat, a.a.O., S. 95.
- 7 OECD, a.a.O., S. 102 ff.
- 8 R. Bachmann, S. Braun, R. Schnabel: Demografie und Rente – Die Effekte einer höheren Erwerbstätigkeit Älterer auf die Beitragssätze zur Rentenversicherung, RWI-Projektbericht, Essen 2013.
- 9 A. Holthausen et al., a.a.O.
- 10 M. Böhmer, O. Ehrentraut: Die Zukunft der Altersvorsorge vor dem Hintergrund von Bevölkerungsalterung und Kapitalmarktentwicklung, Studie der Prognos AG und des Handelsblatt Research Institute (HRI), 2014.
- 11 M. Werding, a.a.O.; vgl. auch Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung: Die Zukunft des Generationenvertrages – Wie sich die Lasten des demografischen Wandels gerechter verteilen lassen, 2014; C. M. Schmidt, a.a.O.
- 12 Sachverständigenrat für Wirtschaft: Mehr Vertrauen in Marktprozesse, Jahresgutachten 2014/2015, 2014, S. 302.
- 13 Das RWI kommt für 2050 auf 24,4%, vgl. R. Bachmann et al., a.a.O., S. 14.
- 14 Ähnlich A. Holthausen et al., a.a.O., S. 35 und S. 40 mit Werten je nach Annahme auch über 26%.
- 15 M. Werding, a.a.O., S. 26 und S. 46; Sachverständigenrat für Wirtschaft, a.a.O., S. 302 f.
- 16 M. Werding: Alterssicherung, Arbeitsmarktdynamik und neue Reformen: Wie das Rentensystem stabilisiert werden kann, Bertelsmann Stiftung, 2013, S. 10; im Anschluss daran Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung, a.a.O., S. 13. Die Deutsche Bundesbank kommt auf Werte bis zu 40,5%, vgl. Deutsche Bundesbank: Monatsbericht August 2016, S. 74.
- 17 C. M. Schmidt, a.a.O.; M. Werding: Demografischer Wandel ... a.a.O., S. 14.
- 18 Zu dieser abenteuerlichen Forderung der CSU die Berichte in der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28.7.2016.
- 19 Gegen diesen Vorschlag vgl. Ziel und Ausgestaltung der solidarischen Lebensleistungsrente, Bundestags-Drucksache 18/4558; Sondergutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2015, a.a.O., S. 98 ff.; Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2013, Bundestags-Drucksache 18/95, S. 86, S. 89 ff.; Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2012 und zum Alterssicherungsbericht 2012, Bundestags-Drucksache 17/11740, S. 80 f.; P. Mandler: Änderungen an der Grundsicherung im Alter statt unsystematischer Rentenkonzepte, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 12, S. 822 (823 f.); M. Gasche: Bonusrente statt Zuschussrente, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 9, S. 605 (607); H. Rische: Koalitionsvertrag und RV-Leistungsverbesserungsgesetz – Was erwartet die Rentenversicherung in der neuen Legislaturperiode?, in: RVaktuell, 61. Jg. (2014), H. 1, S. 2 (8 f.); F. Ruland: Stoppt den Unfug!, in: Süddeutsche Zeitung vom 2.5.2016, S. 20; ders.: Die Bedeutung des Äquivalenzprinzips in der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Deutsche Rentenversicherung (DRV), 2013, H. 2, S. 101 (110); ders.: Die gesetzliche Rentenversicherung – zukunftssicher, weil anpassungsfähig, in: Deutsche Rentenversicherung (DRV), 2012, H. 2, S. 73 (80).
- 20 OECD, a.a.O., S. 108.
- 21 Zur Kritik: F. Ruland: Das Sozialrecht für ein längeres Leben, in: Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes (SDSRV), Bd. 63, 2013, S. 105; ders.: Mehr Solidarität zeigen!, in: Neue Zeitschrift für Sozialrecht (NZS), 2009, H. 9, S. 473.
- 22 OECD, a.a.O., S. 128 ff.; C. M. Schmidt, a.a.O.; vgl. auch Sozialbeirat, a.a.O., S. 89.
- 23 Z.B. Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung, a.a.O., S. 22; o.V.: IG Metall fordert mehr Rente für alle – Finanzierung über höhere Steuerzuschüsse, Demographiereserve oder Beitragssatz bis 25 Prozent, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.7.2016; vgl. auch die Berechnungen von M. Werding: Alterssicherung, Arbeitsmarktdynamik ... a.a.O., S. 49 ff.
- 24 Dazu F. Ruland: Möglichkeiten und Grenzen einer Annäherung der Beamtenversorgung an die gesetzliche Rentenversicherung, in: Sachverständigenkommission Alterssicherungssysteme Deutschland, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.): Gutachten der Sachverständigenkommission vom 19. November 1983, Stuttgart 1983, S. 73 ff.
- 25 BVerfGE 70, 69 (89); BVerfGE 76, 256 (319 f.); F. Ruland: Möglichkeiten und Grenzen einer Annäherung ..., a.a.O., S. 175 ff.
- 26 BVerfGE 76, 256 (319 f.).
- 27 Zur Ausgabenentwicklung in der Beamtenversorgung: Sachverständigenrat für Wirtschaft: Herausforderungen des demografischen Wandels, 2011, S. 161 ff.
- 28 Fünfter Versorgungsbericht der Bundesregierung, Bundestags-Drucksache 17/13590, S. 56.
- 29 Dazu F. Ruland: Zur Zukunft von gesetzlicher Rentenversicherung und Beamtenversorgung, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), 1995, H. 5, S. 417 ff.; ders.: Möglichkeiten und Grenzen einer Annäherung der Beamtenversorgung ..., a.a.O., S. 136 ff.
- 30 Dazu F. Ruland: Möglichkeiten und Grenzen einer Annäherung der Beamtenversorgung ..., a.a.O., Rn. 56; ders.: SGb 1981, 391 (395); so auch die Bundesregierung: Entwurf eines Steuerreformgesetzes 1990, Bundestags-Drucksache 11/2910, S. 7; Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2006, Bundestags-Drucksache 16/906, S. 60; zu Konsequenzen: §§ 76f, 181 IIa SGB VI, dazu Begründung zum Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz, Bundestags-Drucksache 18/3697, S. 64; F. Ruland, in: F. Ruland, S. Dünn (Hrsg.): GK-SGB VI, § 66 (2016) Rn. 61 ff.; ebenso: BVerfGE 114, 258 (294 f.).
- 31 Kritisch dazu auch Sachverständigenrat für Wirtschaft: Herausforderungen des demografischen Wandels .... a.a.O., S. 163.
- 32 Vgl. Soziale Lage und Absicherung von Solo-Selbstständigen, Bundestags-Drucksache 18/8803; Selbständige in der Rentenversicherung, Bundestags-Drucksache 18/6304; F. Ruland: Ausbau der Rentenversicherung zu einer allgemeinen Erwerbstätigenversicherung?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP), 2009, H. 6, S. 165 ff.; ders.: SGb 2008, S. 572 ff.; vgl. auch R. Kreikebohm, U. Kolakowski, S. Kockert, J. Rodewald: Die rentenpolitische Agenda 2030, Berlin 2016, S. 62 ff.; D. Neumann, R. Pahlen, M. Majerski-Pahlen: Sozialgesetzbuch IX, Kommentar, 2010, S. 463 ff.; H. Rische: Weiterentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung zu einer Erwerbstätigenversicherung, in: RVaktuell, 55. Jg. (2008), H. 1, S. 7 ff.
- 33 R. Kreikebohm: Die Erwerbstätigenversicherung aus beitragsrechtlicher Sicht, in: Deutsche Rentenversicherung (DRV), 2009, H. 4, S. 326 ff.; vgl. auch H. Jess, D. Ujhelyiova: Ausgestaltungsalternativen einer Einbeziehung der Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung – Auswirkungen auf die zentralen Rechengrößen der Rentenversicherung und die intergenerative Verteilung, in: Deutsche Rentenversicherung (DRV), 2009, H. 1, S. 23 ff.
- 34 Statistik der Deutschen Rentenversicherung, Bd. 200, Versicherte 2013, 2015, S. 106 f.
- 35 Kritisch dazu W. Schmähl, A. Oelschläger: Abgabenfreie Entgeltumwandlung aus sozial- und verteilungspolitischer Perspektive, Wien 2007; a.A.: A. Börsch-Supan, A. Reil-Held, C. B. Wilke: Zur Sozialversicherungsfreiheit der Entgeltumwandlung, MEA-Discussion-Paper, Nr. 117-07, Mannheim 2007.
- 36 Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2012 und zum Alterssicherungsbericht 2012, Bundestags-Drucksache 17/11741, S. 49 ff., S. 79 f.; U. Bieber, D. Klebula: Erste Ergebnisse aus der Studie Alterssicherung in Deutschland 2003, in: Deutsche Rentenversicherung (DRV), 2005, H. 6-7, S. 362 ff.
- 37 I. Becker: Finanzielle Mindestsicherung und Bedürftigkeit im Alter, in: Zeitschrift für Sozialreform (ZSR), 58. Jg. (2012), H. 2, S. 123 (130 ff.); A. Börsch-Supan: Armut im Alter, MEA-Discussion-Paper, Nr. 11-2015, S. 2 ff.; vgl. auch H.-J. Andreß, K. Hörstermann: Lebensstandard und Deprivation im Alter in Deutschland. Stand und Entwicklungsperspektiven, in: Zeitschrift für Sozialreform (ZSR), 58. Jg. (2012), H. 2, S. 209 (222).
- 38 Deutsche Rentenversicherung Bund: Rentenversicherung in Zeitreihen, DRV-Schriften, Bd. 22, 2015, S. 275; vgl. auch Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2012 und zum Alterssicherungsbericht 2012, Bundestags-Drucksache 17/11741, S. 79 ff.
- 39 Vgl. B. Kaltenborn: Grundsicherung wegen Alters: Zugänge und Rentenbezug, Mai 2016, S. 68 ff.
- 40 Deutsche Rentenversicherung Bund, a.a.O., S. 275.
- 41 Vgl. auch G. Bäcker: Erwerbsminderungsrenten im freien Fall: Zahlen und Fakten zu einem drängenden sozialpolitischen Problem, in: Soziale Sicherheit, 61. Jg. (2012), H. 11, S. 365.
- 42 G. Bäcker: Altersarmut als soziales Problem der Zukunft?, in: Deutsche Rentenversicherung (DRV), 2008, H. 4, S. 357 ff.; vgl. auch A. Börsch-Supan et al., a.a.O., S. 9 f.
- 43 So A. Börsch-Supan, F. Breyer: Die fünf großen Irrtümer in der Rentendebatte, in: Süddeutsche Zeitung vom 24.7.2016; vgl. aber A. Brettschneider: Legitimitätsprobleme der „Basissicherung“. Die deutsche Alterssicherungspolitik nach dem Paradigmenwechsel, in: Zeitschrift für Sozialreform (ZSR), 58. Jg. (2012), H. 2, S. 149 (156).
- 44 Vgl. R. Hoenig: Für eine Rückkehr zur lebensstandardsichernden Rente, in: Zeitschrift Soziale Sicherheit, 2014, H. 2, S. 59; ebenso R. Kreikebohm et al., a.a.O., S. 53. Österreich hat ein höheres Rentenniveau, dafür einen um 4 Prozentpunkte höheren Beitragssatz, vgl. F. Blank, C. Logeay, E. Türk, J. Wöss, R. Zwiener: Alterssicherung in Deutschland und Österreich – Vom Nachbarn lernen?, WSI-Report, Nr. 27, 1/2016, S. 15.
- 45 O. Ehrentraut, S. Moog: Lebenserwartung, Lebensarbeitszeit und Renteneintritt bis 2040, Studie der Prognos AG, 2016, S. 5.
- 46 C. M. Schmidt, a.a.O.
- 47 O.V.: Schäuble fordert späteren Rentenbeginn, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.4.2016.
- 48 Deutsche Bundesbank: Monatsbericht August 2016 ..., a.a.O., S. 77 f.
- 49 O.V.: Viele Ökonomen für Rente mit 70, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.6.2016; vgl. auch die Nachricht in BetrAV 5/2016, S. 429.
- 50 OECD, a.a.O., S. 108 ff.; M. Queisser: Rentenreformen – die internationale Perspektive, in: Wirtschaftsdienst, 95. Jg. (2015), H. 13, S. 28 ff.
- 51 Sachverständigenrat für Wirtschaft: Herausforderungen des demografischen Wandels ..., a.a.O., S. 193; ebenso A. Börsch-Supan: Über selbststabilisierende Rentensysteme, in: U. Becker, F. X. Kaufmann, B. Baron von Maydell, W. Schmähl, H. F. Zacher (Hrsg.): Alterssicherung in Deutschland, Festschrift für Franz Ruland, Baden-Baden 2007, S. 165.
- 52 Sachverständigenrat für Wirtschaft: Herausforderungen des demografischen Wandels ..., a.a.O., S. 194; A. Börsch-Supan: Über selbststabilisierende Rentensysteme ..., a.a.O., S. 166. Schmidt geht von einem Verhältnis 7:3 aus, vgl. C. M. Schmidt, a.a.O.
- 53 Dazu Deutsche Bundesbank: Monatsbericht August 2016 ..., a.a.O., S. 74.
- 54 Art. 109 III in Verbindung mit Art. 115 GG; dazu Deutsche Bundesbank: Monatsbericht Februar 2016, S. 68 f.
- 55 Ebenso R. Kreikebohm et al., a.a.O., S. 150 f.
- 56 Zu tarifvertraglichen Ansätzen: ebenda, S. 138 ff.
- 57 O. Ehrentraut, S. Moog, a.a.O., S. 12.
- 58 F. Ruland: Zur Verfassungsmäßigkeit der Anhebung der Altersgrenzen im Rentenversicherungs- und Beamtenversorgungsrecht, in: G. Manssen, M. Jachmann, C. Gröpl (Hrsg.): Nach geltendem Verfassungsrecht, Festschrift für Udo Steiner, 2009, S. 662 ff.
- 59 BSGE 92, 206 (211); BSG, SozR 4-2600 § 77 Nr. 1; vgl. auch BVerfG, SGb 2010, 30 (38); Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (Hrsg.): Kommission zur Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme, 2003, S. 86; S. Ohsmann, U. Stolz, R. Thiede: Rentenabschläge bei vorgezogenem Rentenbeginn: welche Abschläge sind „richtig“?, in: DAngVers, Nr. 4/2003, 171 ff.
- 60 Vgl. aber A. Börsch-Supan: Faire Abschläge in der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Sozialer Fortschritt, 53. Jg. (2004), H. 10, S. 258 ff.; M. Werding: Alterssicherung, Arbeitsmarktdynamik ..., a.a.O.:, S. 33.
- 61 L. P. Feld, A. Kohlmeier, C. M. Schmidt: Rentenpaket: die Bundesregierung auf Irrwegen, in: Wirtschaftsdienst, 94. Jg. (2014), S. 553 ff.; M. Kallweit, A. Kohlmeier: Das Rentenpaket der Bundesregierung. Politökonomisch geschickt – ökonomisch falsch, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Arbeitspapier, Nr. 02/2014; B. Rürup, D. Huchzermeier: Das RV-Leistungsverbesserungsgesetz – Was ökonomisch falsch ist, kann politisch nicht richtig sein, in: Deutsche Rentenversicherung (DRV), 2014, H. 2, S. 56 ff.
- 62 F. Ruland: Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten, in: Neue Juristische Wochenzeitschrift (NJW), 2007, H. 29, S. 2086 ff.
- 63 M. Werding: Demografischer Wandel ..., a.a.O., S. 57; Sachverständigenrat für Wirtschaft: Mehr Vertrauen ..., a.a.O., S. 302.
- 64 Bericht der Bundesregierung zur Entwicklung der nicht beitragsgedeckten Leistungen und der Bundesleistungen an die Rentenversicherung vom 13.8.2004, in: Deutsche Rentenversicherung (DRV), 2004, H. 10, S. 569 ff.; U. Reineke: Nicht beitragsgedeckte Leistungen und Bundeszuschüsse in der allgemeinen Rentenversicherung, in: Deutsche Rentenversicherung (DRV), 2012, H. 1, S. 1 ff.
- 65 F. Ruland, in: B. Baron von Maydell, F. Ruland, U. Becker (Hrsg.): Sozialrechtshandbuch (SRH), 5. Aufl., Baden-Baden 2012, S. 909; ebenso: Antwort der Bundesregierung, Bundestags-Drucksache 14/773, 16; Bericht der Bundesregierung ..., a.a.O., S. 569 (571).
- 66 Amtlicher Mitschnitt der Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und Bundesminister Gabriel in Meseberg vom 23.1.2014.
- 67 § 223 VI SGB VI; zur Kritik: F. Ruland: Kommentar zum Recht der Gesetzlichen Rentenversicherung (KomGRV), § 223 SGB VI (2015) Anm. 8.2.
Rentenreform und Gerechtigkeit zwischen und innerhalb der Generationen
Die Rente steht wieder einmal auf der politischen Tagesordnung. Ein Jahr vor der Bundestagswahl 2017 haben Politiker entdeckt, dass man mit diesem Thema Stimmen gewinnen kann. Die einen betonen das nach geltendem Recht langfristig sinkende Rentenniveau und beschwören die Gefahr einer steigenden Altersarmut herauf. Die anderen sehen die steigende Lebenserwartung als Bedrohung für die Finanzierung der Rentenversicherung und fordern eine weitere Anhebung der Regelaltersgrenze über 67 Jahre hinaus. Beide Seiten können sich dabei auf (prognostizierte) Fakten berufen, denn schon bald nach 2030 werden beide gesetzlichen Schranken (Rentenniveau nicht unter 43% und Beitragssatz nicht über 22%) gerissen werden.1 Da Rentenreformen in der Regel aber zwischen Verabschiedung und Inkrafttreten einen längeren Vorlauf benötigen, ist es höchste Zeit darüber zu diskutieren, wie die gesetzliche Rente nach 2030 weiterentwickelt werden soll.
Offensichtlich handelt es sich hier um einen Verteilungskonflikt, denn eine Anhebung des Rentenniveaus begünstigt die ältere Generation, während eine Verschiebung der Altersgrenze die jüngere Generation entlasten würde. Verteilungskonflikte lassen sich aber nicht lösen, ohne Gerechtigkeitskriterien zu bemühen. Während Politiker das Wort „Gerechtigkeit“ allzu oft und allzu gerne im Mund führen, gelten Ökonomen gerade nicht als Fachleute für Gerechtigkeit, sondern allenfalls für Effizienz. Dennoch soll hier der Versuch unternommen werden, Aussagen über die Weiterentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) aus Gerechtigkeitsnormen abzuleiten, die in anderen Zusammenhängen große Zustimmung erfahren oder plausiblerweise als zustimmungsfähig angesehen werden können. Wie bei jeder normativen Analyse kann natürlich nicht erwartet werden, dass diejenigen, die die angesprochenen Normen nicht teilen, die Schlussfolgerungen akzeptieren.
Zwei Gerechtigkeitsnormen
Die erste Norm kennen wir aus der Umweltpolitik; sie hat jedoch in vielen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens eine Bedeutung und wird von vielen Menschen geteilt:
- Verursacherprinzip: Eine Person oder Gruppe, die eine bestimmte Entwicklung verursacht hat, sollte auch ihre – positiven oder negativen – Folgen tragen.
In manchen Fällen lässt sich aber nicht leicht feststellen, wer der Urheber einer Entwicklung ist. In diesen Fällen scheint die folgende Norm den Gedanken der Fairness zu verkörpern:
- Nutznießerprinzip: Eine Person oder Gruppe, die Nutznießer einer bestimmten Entwicklung ist, sollte auch die gegebenenfalls auftretenden Kosten dieser Entwicklung tragen (und umgekehrt).
Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, Folgerungen aus diesen beiden Prinzipien zunächst für die Lösung von Interessenkonflikten zwischen den Generationen und anschließend innerhalb von Generationen abzuleiten.
Verteilungskonflikte zwischen den Generationen
In einer umlagefinanzierten Rentenversicherung kann es zu einem Verteilungskonflikt kommen, wenn die Geburtenrate sinkt und dadurch die Budgetgleichung des Systems nicht mehr erfüllt ist, ohne dass entweder der Beitragssatz erhöht oder das Rentenniveau gesenkt wird.2 Bei der Auswahl zwischen diesen beiden Maßnahmen trifft das Verursacherprinzip eine eindeutige Empfehlung: Da der Geburtenrückgang durch die ältere Generation verursacht wurde, sollte sie allein die negativen Folgen tragen. Insofern sollte der Beitragssatz für alle Zeiten festgeschrieben und das Rentenniveau so angepasst werden, dass es mit den laufenden Beitragseingängen finanziert werden kann. In der GRV könnte eine solche Regelung dadurch implementiert werden, dass der Anpassungs-Parameter α im Nachhaltigkeitsfaktor, der derzeit 0,25 beträgt, auf 1 angehoben wird.
Nun kann gegen diese Regelung der Einwand erhoben werden, dass die Mitglieder einer Generation in sehr unterschiedlichem Maß zu der gesunkenen bzw. zu niedrigen Geburtenrate beigetragen haben. Eine Senkung des Rentenniveaus würde die Kinderlosen genauso treffen wie die Kinderreichen. Dies könnte als Verstoß gegen das Verursacherprinzip auf der individuellen Ebene angesehen werden. Diesem Einwand ist entgegenzuhalten, dass eine Generation vielfältige Möglichkeiten hat und auch wahrnimmt, einen Ausgleich zwischen Mitgliedern mit und ohne Kinder vorzunehmen. Man denke nur an Kindergeld und -freibeträge, staatlich subventionierte Kinderbetreuung und – besonders naheliegend – die Berücksichtigung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung. Wenn es überhaupt eine Personengruppe gibt, die zu Unrecht als „Verursacher“ für die Geburtenschwäche angesehen und dennoch von der Rentensenkung betroffen wird, so sind es die ungewollt Kinderlosen. Auf diese Gruppe lässt sich aber das Nutznießerprinzip anwenden, denn auch sie haben davon profitiert, keine (eigenen) Kosten für die Kindererziehung tragen zu müssen, so dass es ihnen zuzumuten ist, mit einer höheren privaten Ersparnis die geringere Rente auszugleichen.
Eine weitere Entwicklung, die die Einhaltung der Budgetgleichung der Rentenversicherung gefährdet, ist ein Anstieg der Lebenserwartung. Auch wenn dieser nicht zuletzt durch eine gesündere Lebensweise ausgelöst wird, kann man schwerlich behaupten, die von ihm betroffene Generation habe ihn „verursacht“. Wohl aber lässt sich das Nutznießerprinzip anwenden, denn zweifellos profitieren die Mitglieder einer Generation davon, dass ihre durchschnittliche Lebenslänge höher ist als die ihrer Eltern.3 Demnach dürften sie die dadurch gestiegenen Kosten ihres Lebensunterhalts nicht der nachfolgenden Generation aufbürden. Wiederum ist die Festschreibung des Beitragssatzes die logische Folgerung, und die „alte“ Generation hat lediglich die Wahl, ob sie länger arbeitet (also die Regelaltersgrenze angehoben wird) oder ein geringeres Rentenniveau akzeptiert.
Für die Anhebung der Regelaltersgrenze (und gegen eine zu starke Absenkung des Rentenniveaus) spricht allerdings die Existenz der steuerfinanzierten und nachrangigen Grundsicherung im Alter, die auch per saldo einen Transfer von der erwerbstätigen zur Rentnergeneration darstellt, denn es muss sichergestellt sein, dass die „alte“ Generation nicht einen Großteil der durch das längere Leben ausgelösten Unterhaltskosten auf dem Umweg über die Grundsicherung doch der „jungen“ Generation aufbürdet.
Verteilungskonflikte innerhalb einer Generation
Wenn eine Generation relativ wenige Nachkommen gezeugt hat und damit – bei konstantem Beitragssatz zur Rentenversicherung – insgesamt mit einem niedrigen Rentenniveau auskommen muss, spielt die Verteilung innerhalb dieser Generation eine noch wichtigere Rolle, zumal wenn ein nennenswerter Anteil dieser Generation im Alter an die Armutsgrenze zu stoßen droht. Abgesehen von unsystematischen Hilfskonstruktionen wie der von manchen Politikern vorgeschlagenen „Lebensleistungsrente“, die – je nach Anspruchsbedingungen – entweder nur sehr wenigen Personen hilft oder für die nachfolgende Generation über die Steuerfinanzierung sehr teuer wird, geht es hier um die „gerechte“ Aufteilung eines gegebenen (und eben nicht sehr üppigen) Beitragskuchens unter den Angehörigen der alten Generation.
In der GRV scheint diese Frage ein für alle Mal beantwortet zu sein, und zwar durch das Prinzip der Teilhabeäquivalenz, das besagt, dass der Rentenanspruch jedes Versicherten sich proportional zu seinen vorherigen Beitragszahlungen verhalten soll. In der juristischen Literatur wird dieses Prinzip mit dem Ziel der (intragenerativen) Verteilungsneutralität begründet: Es drücke aus, dass innerhalb jeder Alterskohorte gleiche Beitragszahlungen zu gleichen Rentenansprüchen führten.4
Was sind die Implikationen dieses Ziels? Die Beitragszahlungen sind durch die Dauer der Einzahlungen und die Höhe der entrichteten Beiträge pro Jahr definiert und können cum grano salis mit den über das Erwerbsleben kumulierten Entgeltpunkten gleichgesetzt werden.5 Völlig analog ergibt sich der Rentenanspruch als Produkt aus der monatlichen Rentenhöhe und der erwarteten Rentenlaufzeit. Letztere wird jedoch im deutschen Rentenrecht ignoriert und somit werden zwei inkommensurable Größen in Beziehung gesetzt: die über das Erwerbsleben kumulierten Entgeltpunkte und der monatliche Rentenanspruch. Diese Inkonsistenz wäre unkritisch, wenn die erwartete Rentenlaufzeit bei allen Versicherten die gleiche wäre, alle Unterschiede zwischen den tatsächlichen Laufzeiten also zufällig wären und es keine systematischen Zusammenhänge mit anderen soziodemografischen Merkmalen gäbe. Ansonsten ist sie jedoch problematisch, wenn es klar abgrenzbare Gruppen in der Bevölkerung gibt, für die zwei Eigenschaften erfüllt sind:
- ihre statistische Lebenserwartung liegt deutlich unter derjenigen in der Gesamtbevölkerung, so dass deren Beitrags-Euro weniger wert ist als der anderer Versicherter, und
- es gilt als gesellschaftlich unerwünscht, Geld von Mitgliedern dieser Gruppen zum Rest der Gesellschaft umzuverteilen.
Eine bekannte Tatsache ist die geringere Lebenserwartung der Männer im Vergleich zu den Frauen. Hier ist Eigenschaft a) erfüllt, Eigenschaft b) jedoch nicht. Erst vor wenigen Jahren hat der Gesetzgeber durchgesetzt, dass das Geschlecht bei privaten Versicherungsverträgen kein Merkmal bei der Prämienberechnung sein darf („Unisex-Tarife“). Dies benachteiligt Männer bei Leibrenten-Verträgen, begünstigt sie jedoch in der Lebensversicherung. Was in der Privatversicherung Gesetz ist, muss erst recht in der Sozialversicherung gelten: Die gesetzliche Rentenversicherung verteilt Einkommen von Männern zu Frauen um, und es gilt als gesellschaftlicher Konsens, dass daran nicht gerüttelt wird.
Eine weitere, in zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen erhärtete Tatsache ist, dass die statistische Lebenserwartung positiv mit dem Einkommen korreliert.6 Für das Merkmal „geringes Arbeitseinkommen“ ist also Eigenschaft a) erfüllt, es handelt sich ferner um abgrenzbare Gruppen, denn das (beitragspflichtige) Einkommen wird von der GRV jedes Jahr erfasst, und Eigenschaft b) ist ebenfalls erfüllt, da sich alle politischen Lager gegenwärtig bemühen, Regelungen zu finden, um Geringverdiener im Alterseinkommen besser zu stellen. Die gegenwärtige Umverteilung von Gering- zu Besserverdienern in der GRV ist also definitiv unerwünscht.
Technisch ließe sich die Berücksichtigung der Lebenserwartung dadurch bewerkstelligen, dass von einem bestimmten Stichtag an die Zuteilung der jährlichen Entgeltpunkte bezogen auf das beitragspflichtige Einkommen nicht mehr einer linearen, sondern einer degressiven Formel folgt, die den Effekt der mit dem Einkommen steigenden Rentenlaufzeit kompensiert. Eine solche Umstellung hätte zur Folge, dass in einem Übergangszeitraum von ca. 50 Jahren die Altersrenten der Neurentner mehr und mehr die erwartete Laufzeit berücksichtigen. Durch die damit verbundene Anhebung der Renten von Geringverdienern würde sich nach und nach auch das Problem der Altersarmut entschärfen.
Gegen eine derartige Änderung der Rentenformel werden vor allem zwei Einwände vorgebracht:
- Die Berücksichtigung der erwarteten Rentenlaufzeit ist systemfremd und wäre ein Novum in der GRV.
Diese Behauptung ist falsch, denn die schon heute geltenden Abschläge bei vorzeitigem Renteneintritt sind ausschließlich dadurch begründet, dass sich durch den vorzeitigen Eintritt die Laufzeit verlängert.
- Es ist das Wesen einer Sozialversicherung, dass die Beiträge vom individuellen Risiko unabhängig sind. Die Kopplung der Entgeltpunkte an die Lebenserwartung würde genau diese Abhängigkeit herstellen.
Dazu ist zum einen zu sagen, dass auch eine degressive Entgeltpunkte-Formel das individuelle Risiko der Rentenversicherten nicht berücksichtigt, sondern einzig und allein das (einkommens-)gruppenspezifische. Die Versicherung gegen „überdurchschnittliche“ Langlebigkeit bliebe in vollem Umfang bestehen.
Zum anderen beruht das Prinzip, dass in der Sozialversicherung keine risikoabhängigen Prämien erhoben werden, auf der Annahme, dass der Eintritt eines Risikos dem Versicherten einen Schaden zufügt. In der Krankenversicherung ist diese Vorstellung berechtigt, weil eine Krankheit nicht nur finanzielle Behandlungskosten mit sich bringt, sondern auch einen immateriellen Schaden, z.B. Schmerz oder eine körperliche Funktionseinschränkung. Wer ein „hohes Risiko“ hat, ist somit von der Natur benachteiligt, und so folgt aus dem Solidarprinzip der sozialen Krankenversicherung, dass er nicht auch noch eine höhere Versicherungsprämie zahlen sollte.
In der Rentenversicherung ist es aber umgekehrt, da das Risiko in der Langlebigkeit besteht, die vom Betroffenen als etwas Wünschenswertes angesehen wird. Wer ein „hohes Risiko“ ist, hat also eine größere statistische Lebenserwartung als der Durchschnitt und ist damit begünstigt (ob von der Natur oder aufgrund gesunder Lebensführung, ist irrelevant). Darum ist es nach dem oben eingeführten Nutznießerprinzip konsequent, dass er bei gleicher monatlicher Rentenzahlung einen höheren Beitrag leistet oder bei gleicher Beitragszahlung eine geringere monatliche Rentenzahlung erhält, so dass die längere erwartete Bezugsdauer gerade kompensiert wird.
Ein weiterer Aspekt kommt hinzu, wenn man die oben begründete Anhebung der Regelaltersgrenze in der GRV bedenkt. Da eine höhere Lebenserwartung in der Regel auch mit einer größeren Leistungsfähigkeit im 7. Lebensjahrzehnt einhergeht, wäre es Angehörigen höherer Einkommensgruppen eher möglich, den Abschlag in der monatlichen Rente durch eine längere Lebensarbeitszeit auszugleichen, während Geringverdiener mit einer unterdurchschnittlichen Lebenserwartung, für die die Anhebung des Rentenalters eine besondere Härte darstellen würde, sich bei einer Aufwertung ihrer Entgeltpunkte einen vorzeitigen Rentenbezug mit Abschlägen eher leisten könnten.
Schlussfolgerungen für anstehende Rentenreformen
Aus den hier vorgestellten Kriterien der intergenerativen Gerechtigkeit folgt für die anstehenden Reformen der GRV, dass diese sich am Ziel eines langfristig stabilen Beitragssatzes orientieren sollten. Dies würde ein weiteres Absinken des Rentenniveaus nach sich ziehen und könnte – ohne Begleitmaßnahmen – zukünftig zu einem Anstieg der Altersarmut führen. Eine nach dem Nutznießerprinzip gerechte Änderung der Formel, mit der Entgeltpunkte verdient werden, würde jedoch die derzeit bestehende implizite Umverteilung von Gering- zu Besserverdienern beseitigen, Geringverdiener im Alter besserstellen und damit für sich genommen die Altersarmut senken. Ob sich ein solches Reformpaket politisch durchsetzen ließe, ist allerdings fraglich, denn es gibt eine Gruppe, die dadurch schlechter gestellt würde als ohne Reform: die Besserverdienenden unter den älteren Erwerbstätigen. Gerade diese Gruppe scheint jedoch politisch gut mobilisierbar zu sein, wie man an der Einführung der „abschlagsfreien Rente mit 63“ ablesen kann.
- 1 Börsch-Supan et al. berechnen, dass der Beitragssatz die Marke von 22% ab dem Jahr 2031 überschreiten und das Nettorentenniveau vor Steuern die 43%-Grenze ab dem Jahr 2036 unterschreiten wird. Vgl. A. Börsch-Supan, T. Bucher-Koenen, J. Rausch: Szenarien für eine nachhaltige Finanzierung der Gesetzlichen Rentenversicherung, MEA-Discussion Paper, Nr. 03-2016.
- 2 Wir sehen der Einfachheit halber von der Möglichkeit ab, die Lücke in der Zahl der Beitragszahler durch vermehrte Zuwanderung zu schließen. Diese Annahme lässt sich dadurch begründen, dass es nicht klug wäre, die Zuwanderungspolitik ausschließlich der Finanzierbarkeit der Rentenversicherung unterzuordnen.
- 3 Wenn ein längeres Leben nichts Erstrebenswertes wäre, würde man eine sehr viel höhere Selbstmordrate unter älteren Menschen beobachten.
- 4 Vgl. F. Ruland (Hrsg.): Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung, Neuwied, Frankfurt a.M. 1990, Kapitel 19, Rz. 37.
- 5 Wir sehen davon ab, dass diese Gleichsetzung problematisch ist, wenn der Beitragssatz über die Zeit schwankt, was in der Vergangenheit in erheblichem Maße der Fall war.
- 6 Breyer et al. haben festgestellt, dass in der deutschen Rentenversicherung ein zusätzlicher Entgeltpunkt pro Jahr bei Männern mit einem Zuwachs an Lebenserwartung um vier Jahre verbunden ist. Vgl. F. Breyer, S. Hupfeld: Fairness of Public Pensions and Old-Age Poverty, in: FinanzArchiv, 65. Jg. (2009), Nr. 3, S. 358-380.
Höchste Zeit für einen Ausstieg aus dem Ausstieg
Es dauerte recht lange, bis nicht nur vereinzelte Stimmen vor den Folgen der ab 2001 als „alternativlos“ bezeichneten und politisch durchgesetzten tiefgreifenden Umstellung des deutschen Alterssicherungssystems warnten. Inzwischen sind vor allem die Gefahren künftig steigender Einkommensungleichheit und Armut im Alter Thema des anlaufenden Bundestagswahlkampfes.
Schlagworte wie demografische Krise, fiskalische Nachhaltigkeit, Generationengerechtigkeit, Belastungen durch (steigende) Sozialbeiträge für Arbeitsmarkt und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft dienten dazu, eine stufenweise Demontage der umlagefinanzierten, lohnbezogenen und leistungsorientierten gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) einzuleiten, zugunsten eines – als „Herzstück“ der Reform bezeichneten – Ausbaus kapitalmarktabhängiger beitragsorientierter privater und betrieblicher Systeme. Negative Folgen der neuen Politik, mit der auch medienwirksam vertretenen Interessen entsprochen wurde, blieben verschleiert. Risiken und Kosten der Alterssicherung wurden zunehmend auf die Privathaushalte verlagert. In dem nun propagierten „Mehrsäulensystem“ wird es für die Bürger teurer, ein dem Leistungsniveau der GRV vergleichbares Niveau zu finanzieren – vor allem auch für junge Menschen, obgleich angeblich in deren Interesse die Umstrukturierung dringend notwendig war.
Der Abbau des Leistungsniveaus der GRV war schon bisher „erfolgreich“ und soll in Zukunft weitergehen.1 Dagegen scheiterte das Schließen der politisch aufgerissenen Sicherungslücke durch subventionierte private und betriebliche Vorsorge weitgehend. Deshalb fordern Vertreter des neuen Kurses eine stärkere Subventionierung kapitalmarktabhängiger Systeme (unter anderem die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände BDA) und warnen vor einer Rückkehr zum Konzept einer lohnbezogenen und leistungsdefinierten GRV. Das war und ist jedoch ökonomisch durchaus realisierbar, wurde bislang aber politisch nicht gewollt.
Die Alterssicherungspolitik wurde in eine Sackgasse getrieben. Und wenn es nicht gelingt, eine „Rentenwende“ durchzusetzen, also einen Ausstieg aus dem politisch gewollten Ausstieg aus der lohnbezogenen und leistungsdefinierten GRV, dann wird die GRV zu einem Mindestsicherungssystem, das allenfalls für langjährig Versicherte Altersarmut verhindert, während viele andere auf bedürftigkeitsgeprüfte Transfers angewiesen sein werden.2
Vielfach wird dennoch vor einer grundlegenden Strukturänderung gewarnt, die Diskussion auf Wege zur Vermeidung von Altersarmut verengt.3 Viele Ökonomen vertreten generell die Auffassung, ein obligatorisches umlagefinanziertes Alterssicherungssystem solle allein der Armutsvermeidung dienen, während ein Anknüpfen an früheres Einkommen über private kapitalmarktabhängige Sicherung erfolgen solle. Wenn jetzt die Gefahr steigender Altersarmut drohe, so läge das nicht an der seinerzeit eingeschlagenen Politik, sondern an den „unfolgsamen“ Bürgern, die nicht das tun, was man von ihnen erwarte, nämlich entsprechend privat vorzusorgen.4
In vielen Ländern, die dem Ratschlag unter anderem von Weltbank, US-amerikanischen Beratern, Finanzmarktakteuren und dem Mainstream der ökonomischen Zunft zum Umbau auf kapitalmarktabhängige Alterssicherung folgten, ist inzwischen Ernüchterung eingetreten. So gibt es z.B. in Chile, dem „Musterland“ frühzeitiger, auf Ansammlung von Finanzkapital beruhender beitragsdefinierter privater Alterssicherung Massenproteste und die Forderung nach einer Rückkehr zu einem Umlagesystem.5 In Deutschland ist zumindest bislang aus Regierungskreisen kein Signal zu vernehmen, das auf ein grundlegendes Überdenken der bisherigen politischen Strategie deutet, eher im Gegenteil in Richtung einer Stärkung beitragsdefinierter kapitalmarktabhängiger, insbesondere betrieblicher Alterssicherung.6
Strategiewechsel erforderlich
Nachfolgend einige Elemente eines aus meiner Sicht erforderlichen Strategiewechsels. Darin besitzt die GRV eine zentrale Rolle, da sie für die meisten in Deutschland das Kernelement ihrer Alterssicherung ist. Um dort Vertrauen wieder zu gewinnen sollte eine Verständigung über Grundprinzipien angestrebt und nicht nur über „Stellschrauben“ diskutiert werden. Leitschnur der Weiterentwicklung der umlagefinanzierten GRV in West und Ost sollte eine Versichertenrente sein, die Lohn-(bzw. Einkommens-)Ersatzfunktion besitzt mit einem Leistungsniveau, das bei längerem Vollzeiterwerb deutlich über einer steuerfinanzierten bedarfs- oder bedürftigkeitsgeprüften Mindestsicherung liegt. Erforderlich ist somit eine Abkehr von der jetzigen einnahmeorientierten Ausgabenpolitik (Deckelung des Beitragssatzes) hin zu einer ausgabenorientierten Einnahmepolitik, bei der eine aufgabenadäquate Finanzierung aus Beiträgen und Steuern erfolgt. Die Versichertenrente sollte auf einer engen Beziehung zwischen Vorsorgebeitrag und Leistung basieren und eine Teilhabe der Rentner an der wirtschaftlichen Entwicklung auch während der Rentenlaufzeit durch einkommensbezogene Dynamisierung realisieren. Künftig sollten private und betriebliche Alterssicherung die gesetzliche Rente wieder ergänzen, nicht aber (partiell und gegebenenfalls immer stärker) ersetzen, zumal diese kaum dynamisiert sind und in der Regel keine einkommensbezogene Sicherung ermöglichen.
Das Leistungsniveau der GRV ist durch das Abkoppeln der Renten von der Lohnentwicklung bereits jetzt niedriger als dies 1997 von Minister Blüm für 2030 mit dem sogenannten demografischen Faktor geplant war.7 Dies stieß jedoch auf heftigen Widerstand von SPD und Grünen, die dann aber durch die von ihnen bereits 2001 beschlossenen Maßnahmen ein noch stärkeres Senken des Leistungsniveaus durchsetzten. Verschärft wurde dies durch weitere Einschnitte, den „Nachhaltigkeitsfaktor“, die Anhebung des abschlagfreien Rentenalters und die steigende Rentenbesteuerung. Das drastisch reduzierte allgemeine Leistungsniveau trifft zudem zusammen mit den für viele Versicherte verschlechterten Möglichkeiten, eigene Rentenansprüche zu erwerben, insbesondere bei Arbeitslosigkeit, während der auch keine Betriebsrentenansprüche erworben werden und Privatvorsorge schwerlich möglich ist.
Ein höheres Leistungsniveau in der GRV erfordert – sofern keine aufgabenadäquate Finanzierung von Umverteilungsaufgaben erfolgt – zwar einen höheren Beitragssatz. Doch würde die Gesamtbelastung der Privathaushalte aus Beitrag zur GRV und Privatvorsorge im Vergleich zur jetzigen Strategie nicht etwa steigen. Denn Privatvorsorge ist mit deutlich höheren Kosten als GRV-Vorsorge verbunden, und für eine lange Zeit sind weiterhin zusätzliche Übergangskosten zu decken, die aus dem gewollten Ersatz von Umlagefinanzierung durch Finanzkapitalbildung resultieren. Ein höheres Leistungsniveau in der GRV reduziert zudem die Gefahr, dass sich Privatvorsorge bei Personen mit niedrigem oder unsicherem Einkommen wegen der Anrechnung auf die bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherung nicht lohnt.
Allerdings wird für den Fall eines höheren Beitragssatzes wieder die Gefahr von Arbeitsplatzverlusten an die Wand gemalt.8 Ob es jedoch zu einer zusätzlichen Belastung von Arbeitgebern kommt, hängt unter anderem von der Möglichkeit einer Rückwälzung auf Arbeitnehmer ab, wenn z.B. Gewerkschaften (wie früher oft) die Belastung durch Arbeitgeberbeiträge in den Lohnverhandlungen honorieren. Dazu würde beitragen, wenn Arbeitnehmer und ihre Vertretungen das GRV-System als erhaltenswert ansehen, was nicht zuletzt auch vom Leistungsniveau der GRV und den dort zu erwartenden Gegenleistungen abhängt.
Beitragsgestützte Rentenansprüche
In der GRV sollten im Regelfall Rentenansprüche durch Beiträge erworben werden, und zwar als Zahlungen von Arbeitnehmern, Arbeitgebern oder sozialversicherungspflichtigen Selbständigen und auch von anderen Institutionen, so im Falle der Kindererziehungszeiten durch den Bund und bei Arbeitslosigkeit (wenn auch in gesunkenem Maße) von der Bundesagentur für Arbeit. Wenn z.B. Ausbildungszeiten rentensteigernd wirken sollen, dann sollte auch eine Beitragszahlung der für Ausbildung zuständigen Institutionen erfolgen.
Doch ein Beitrag sollte auch zu einem Rentenanspruch führen. Allerdings fand das im folgenden Fall lange keine Beachtung: Für Vollrentner, die nach der Regelaltersgrenze erwerbstätig sind, muss zwar der Arbeitgeber einen Rentenversicherungsbeitrag zahlen, dieser führt aber zu keinem Rentenanspruch.9 Vorgeschlagen wurde jüngst, den Arbeitgeberbeitrag abzuschaffen,10 als Anreiz für Unternehmen, Ältere angesichts eines – von Unternehmen zum Teil selbst verursachten – Fachkräftemangels vermehrt zu beschäftigen.11 Doch statt den Arbeitgeberbeitrag zu streichen, sollte dieser künftig zu einem Rentenanspruch führen. Damit würde für Arbeitnehmer ein Anreiz zu weiterer Erwerbstätigkeit geschaffen, denn es käme zumindest zu einer kleinen Aufbesserung des Rentnereinkommens, ohne dass sich die Kosten für Arbeitgeber erhöhen. Im Entwurf eines „Flexirentengesetzes“ ist aber vorgesehen, dass es zu einer „Aktivierung“ des Arbeitgeberbeitrags zugunsten des Erwerbstätigen nur dann kommt, wenn dieser zugleich einen eigenen Arbeitnehmerbeitrag entrichtet. Die „Aktivierung“ des Arbeitgeberbeitrags sollte davon jedoch nicht abhängen und auf jeden Fall erfolgen. Allenfalls könnte man eine zusätzliche eigene Arbeitnehmerzahlung als Option vorsehen.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass tätige Rentner bislang keinen Rentenanspruch erwerben, besteht im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung. Denn wenn Rentner Pflegedienste verrichten, so erhalten sie – im Unterschied zu Pflegepersonen, die noch nicht Rentner sind – keinen Rentenanspruch. In Zukunft sollten die Pflegekassen auch für diesen Personenkreis einen rentensteigernden Beitrag an die GRV abführen, damit sich die Pflegetätigkeit von Älteren auf deren Alterssicherung auswirkt.
Schließlich sollten – was schon lange gefordert wird – auch diejenigen Selbständigen, die keinem obligatorischen Alterssicherungssystem angehören, in die GRV einbezogen werden, was übrigens auch das Armutsrisiko infolge unzureichend gesicherter selbständiger Tätigkeit mindern würde.
Systemadäquate Steuerfinanzierung
Die Finanzierung von Renten aus Beiträgen oder Steuern ist immer wieder heiß umstritten, auch gegenwärtig. So werden z.B. familienpolitische oder andere Umverteilungsleistungen statt aus Steuern aus dem Beitragsaufkommen finanziert, wie jüngst die „Mütterrenten“. Auch im Zusammenhang mit der lange schon überfälligen Angleichung der Rentenregelungen in West und Ost ist zu vermuten, dass dies nicht ohne Zusatzaufwand politisch realisiert wird, was aber aus Steuermitteln zu finanzieren wäre.12 Immer wieder wird versucht, bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen in der GRV zu verankern oder z.B. einen „Kinderbonus“ (wie jüngst wieder von der CSU vorgeschlagen) in das Beitragssystem zu integrieren. Dies gehört aber nicht ins Versicherungs-, sondern ins Steuer-Transfer-System, z.B. als pro Kind einheitlicher Zuschlag zum Kindergeld. Auch die noch unklaren Pläne für eine „solidarische Lebensleistungsrente“ lassen befürchten, dass hier wieder eine Vermischung von Versicherungs- und Steuer-Transfer-System erfolgt mit negativen verteilungspolitischen Effekten und „überhöhten“ Arbeitgeberbeiträgen.13
Auch wenn angesichts der Milliardenbeträge, die aus dem Staatshaushalt für „systemrelevante“ Banken und Flüchtlinge flossen, aktuell kaum Realisierungschancen bestehen, sei dennoch darauf verwiesen, dass die Finanzierung der (so das Bundesverfassungsgericht) „vorwiegend fürsorgerisch motivierten“, erst nach Einkommensprüfung gezahlten Hinterbliebenenrenten der GRV systemadäquat aus Steuern und nicht aus Beiträgen zu finanzieren wären, wie dies sonst bei Zahlungen nach Einkommensanrechnung oder Bedarfsprüfung erfolgt. Würde diese Umfinanzierung stufenweise realisiert, so könnte für längere Zeit ein höheres GRV-Rentenniveau ohne Beitragserhöhung finanziert werden.
Die Subventionen für Privatvorsorge und betriebliche Alterssicherung könnten bei einem höheren Leistungsniveau der GRV reduziert und sozialpolitisch gezielter eingesetzt werden. Heute profitieren besonders Personen mit höheren Einkommen davon, während zur Finanzierung auch diejenigen beitragen, die die Förderung nicht nutzen. Es ist an der Zeit, die Subventionierung umfassend zu überprüfen, auch die der beitrags- und steuerbefreiten Entgeltumwandlung. Diese trägt übrigens mit zu einer Reduzierung des Leistungsniveaus in der GRV bei und geht im Förderumfang weit über die Subventionierung der Privatvorsorge hinaus, erreicht sie für einen Durchschnittsverdiener bei voller Nutzung immerhin 8%.14 Gesamtwirtschaftlich sinnvoller wäre es, einen Teil der Subventionierung von Finanzkapital zur Förderung von Humankapital (so auch zur Weiterqualifizierung Älterer) oder für eine aufgabenadäquate Finanzierung der GRV einzusetzen. Manche liebäugeln auch mit einer obligatorischen privaten oder betrieblichen Vorsorge. Stattdessen sollte die GRV gestärkt werden.
Für einen Richtungswechsel ist in der Politik Mut erforderlich, auch um sich gegen einflussreiche Interessengruppen durchzusetzen. Doch wenn man sieht, dass frühere Entscheidungen für einen Großteil der Bevölkerung mehr Schaden als Nutzen stiften, dann sollte man den Mut haben. Es ist noch nicht zu spät, aber höchste Zeit.15
- 1 Der zuständige Bundesfachausschuss der CDU will das Niveau nach 2030 nicht weiter senken, vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.9.2016, S. 17. Die Bundesregierung hat bislang zur Niveaufrage keine Stellung bezogen, während die Partei „Die Linke“, Gewerkschaften und Sozialverbände ein sofortiges Ende des Abbaus und ein Wiederanheben des GRV-Leistungsniveaus fordern. Leider war 2001 von den Gewerkschaften dieser Widerstand gegen die politischen Pläne nicht zu vernehmen.
- 2 So könnte z.B. 2030 ein Durchschnittsverdiener, wenn er mit 67 (!) Jahren „in Rente geht“, nur dann eine GRV-Rente oberhalb der Sozialhilfe bzw. Grundsicherung erreichen, wenn er mehr als 35 Versicherungsjahre – bewertet mit dem Durchschnittsentgelt (d.h. über 35 Entgeltpunkte) – aufzuweisen hat. Liegt das Entgelt bei nur 80% des Durchschnitts, dann sind bereits gut 40 Jahre erforderlich. Auch wenn eine Rente unterhalb des Grundsicherungsniveaus nicht notwendig zu einem Anspruch auf Grundsicherung führt, so ist weithin anerkannt, dass ein Sicherungssystem seine Legitimation verliert, wenn nach so langer Versicherungsdauer die Rente nicht einmal die bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherung erreicht, die ja keine Beitragszahlung voraussetzt.
- 3 „Anstatt einer Generaldebatte bedarf das Problem der Altersarmut erhöhte Aufmerksamkeit.“ Vgl. A. Börsch-Supan: Gezielte Verbesserungen geboten, in: Wirtschaftsdienst, 96. Jg. (2016), H. 5, S. 303.
- 4 In diesem Sinne z.B. der „Kronberger Kreis“ (L. P. Feld, C. Fuest, J. Haucap, V. Wieland, B. U. Wigger), in: Renaissance der Angebotspolitik, Berlin 2013, S. 34, Ziff. 81: Durch „… die jüngeren Reformen in der GRV … wird … das Altersarmutsrisiko in Deutschland nicht erhöht, wenn sich die Versicherten entsprechend anpassen …. Von einer auch nur teilweisen Rücknahme der Reformen … ist deshalb dringend abzuraten“. In diesem Sinne auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie im Gutachten zur „Altersarmut“ vom 18.12.2012.
- 5 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.8.2016, S. 21.
- 6 In diese Richtung geht auch das von drei hessischen Landesministern propagierte Konzept einer „Deutschland-Rente“ (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.12 2015) als ein vom Staat organisiertes kapitalmarktabhängiges Produkt, um eine sonst drohende „massive Zunahme von Altersarmut“ zu vermeiden.
- 7 Als Alternative dazu schlug ich seinerzeit vergeblich vor, für die abschlagfreie Altersgrenze eine Regelbindung an die Entwicklung der Lebenserwartung vorzunehmen, was bei höherem Leistungsniveau in der GRV auch sozialpolitisch eher akzeptiert werden dürfte als bei reduziertem Niveau. In neuer Zeit wurde von verschiedenen Seiten eine solche Regelbindung vorgeschlagen.
- 8 A. Börsch-Supan erklärt: „Erfahrungsgemäß (sic!) bedeuten um einen Punkt höhere Sozialabgaben 100 000 verlorene Arbeitsplätze“, a.a.O., S. 303.
- 9 Vgl. hierzu W. Schmähl: Wenn Vollrentner sozialversichert arbeiten, in: Soziale Sicherheit 2012, S. 103 f., sowie ders.: Zu einigen Zukunftsaufgaben in der deutschen Alterssicherungspolitik, in: Die Rentenversicherung, H. 6/2015, S. 163 ff.
- 10 So unter anderem vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: Potenziale nutzen – mehr Fachkräfte durch weniger Arbeitsmarkthemmnisse (24.4.2015).
- 11 Kürzlich wurden jedoch durch die „abschlagfreie Rente mit 63“ Anreize für neuerliche Frühverrentung privilegierter Gruppen geschaffen und bereits vielfach genutzt.
- 12 Übrigens sollte bei dieser Gelegenheit auch eine Zusammenfassung der bislang nach unterschiedlichen Kriterien fortgeschriebenen Bundeszahlungen zu einer Zahlung erfolgen.
- 13 Vgl. W. Schmähl: Alterssicherung der Großen Koalition: Kasse macht sinnlich, aber nicht unbedingt klug, in: G+S, H. 5/2013, S. 57 f.
- 14 Die Förderung kann bis 4% der Beitragsbemessungsgrenze (die rund das Doppelte des durchschnittlichen Bruttoentgelts beträgt) erreichen. Zu verteilungs- und sozialpolitisch relevanten Wirkungen W. Schmähl, A. Oelschläger: Abgabenfreie Entgeltumwandlung aus sozial- und verteilungspolitischer Perspektive, Berlin 2007.
- 15 Höchste Zeit ist auch, dass endlich bereichsübergreifende und vergleichbare Vorsorgeinformationen die Bürger über ihre Altersvorsorge aus den verschiedenen Systemen aufklären – das wird schon lange diskutiert, ist aber immer noch nicht realisiert.
Deutschland im Renten-Niemandsland
Es ist bedauerlich, dass die „demografische Dividende“ der letzten beiden Jahrzehnte, d.h. die Tatsache, dass sich die geburtenstarken Jahrgänge im erwerbsfähigen Alter befanden, nicht genutzt wurde, um die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) zu stärken. Der Beitragssatz zur GRV hat heute den niedrigsten Wert seit 20 Jahren. Die Rürup-Kommission hat im Jahre 2003 auf der Grundlage der später realisierten Reformen (Anhebung der Regelaltersgrenze und Nachhaltigkeitsfaktor) einen GRV-Beitrag für 2015 in Höhe von 19,6% und für 2020 in Höhe von 20,2% prognostiziert.1 Tatsächlich lag der Beitragssatz 2015 bei 18,7% und er soll bis 2020 gemäß den aktuellen Prognosen der Bundesregierung bei 18,7% bleiben. Damit liegt die tatsächliche Beitragssatzentwicklung weit unterhalb der vor 15 Jahren prognostizierten Werte. Es ist paradox: Der Altenquotient und die durchschnittliche Lebenserwartung steigen, trotzdem sinkt der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung. Das bedeutet, dass die Beschäftigten außerhalb der paritätisch finanzierten GRV alleine für die steigenden Kosten der Alterung aufkommen müssen. Entweder in Form steigender Kosten für private Vorsorgeprodukte oder in Form sinkender künftiger Rentenanwartschaften. Die einfache Grundfrage der Alterssicherungspolitik – Wer zahlt die steigenden Kosten? – wird de facto seit 20 Jahren einseitig zulasten der Arbeitnehmer beantwortet.
„Droht“ das Ende des „Drei-Säulen“-Paradigmas?
Die rentenpolitische Debatte hat begonnen und sie wird in den nächsten Jahren an Schärfe zunehmen, weil in Deutschland bislang eine ausgewogene Verteilung der steigenden Kosten der Alterssicherung fehlt. Der rentenpolitische Konsens über die Richtigkeit und Notwendigkeit der Rentenreformen unter Kanzler Schröder ist bereits zerbrochen. Aktuell steckt die Rentenpolitik in einem Dilemma: Der Verbreitungsgrad und die Höhen der Anwartschaften in der betrieblichen und privaten Altersvorsorge sind zu gering, um ernsthaft von „Säulen“ der Alterssicherung sprechen zu können. Die Realisierung des seit 2001 zur offiziellen Renten-Doktrin erhobenen „Drei-Säulen-Modells“ in der Alterssicherung verlangt daher entweder einen starken Ausbau der staatlich geförderten privaten Altersvorsorge oder die Einführung einer zweiten Pflichtversicherung. Beide Wege sind angesichts der dramatisch niedrigen Zinsen und steigenden Kapitalmarktrisiken unattraktiv wie nie.
Beginnt man heute die Diskussion über ein Obligatorium in der Zusatzvorsorge, würde dies die Diskussion über Leistungsniveauverbesserungen in der GRV eher verstärken.2 Unterlässt man diese Diskussion, führt dies aufgrund des steigenden Altersarmutsrisikos aber ebenfalls zwingend zu der Forderung nach der (Wieder-)Anhebung des Rentenniveaus. Muss die Politik also bald ihr rentenpolitisches Leitbild des „Drei-Säulen-Modells“ aufgeben? Dies bedeutete eine Rückkehr zu der Rentenwelt vor 2001 und das Eingeständnis, dass die Reformen von 2001 und 2004 gescheitert sind. Das will die Regierung partout vermeiden. Trotzdem kann sie sich der Diskussion über das künftige Rentenniveau nicht entziehen. Darin besteht ihr eigentliches Dilemma.
Debatte über die betriebliche Altersvorsorge ist ein politisches Ablenkungsmanöver
Die aktuelle Reformdebatte über den Ausbau der betrieblichen Altersvorsorge (BAV) soll von diesem Dilemma ablenken. Die BAV ist keine Säule in der Alterssicherung, sondern ein freiwilliges und lediglich ergänzendes Alterssicherungssystem für einen Teil der erwerbstätigen Bevölkerung, insbesondere in größeren Unternehmen. Sie ist stark selektiv und sie verfügt – anders als die GRV – über keine sozialen Ausgleichsmechanismen. Sie wird daher – trotz staatlicher Subventionen – die wegfallenden Ansprüche aus der GRV für den Großteil der Beschäftigten nicht ersetzen können. Eine sachgerechte Rentenpolitik kommt aus diesem Grund nicht umhin, zuerst Klarheit über die Zielsetzung der GRV zu schaffen und die Frage des künftigen Rentenniveaus zu beantworten, bevor sie Maßnahmen ergreift, um die BAV zu stärken. Wenn sie dies nicht tut, drohen eine weitere Schwächung der gesetzlichen Rentenversicherung und eine Vergrößerung des künftigen Altersarmutsproblems. Die Entgeltumwandlung in der BAV reduziert bereits heute die Rentenanwartschaften der Beteiligten und sorgt via Rentenanpassungssystematik für ein noch stärker sinkendes Rentenniveau.
Das vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) im vergangenen Jahr vorgeschlagene „Sozialpartnermodell Betriebsrente“ verlagert die entscheidende Frage der Alterssicherungspolitik, in welchem Maße die steigenden Kosten der Alterssicherung künftig zwischen den Arbeitgebern, Beschäftigten und Rentenbeziehern verteilt werden, teilweise auf die tarifliche Ebene. Das politische Kalkül dahinter ist, dass die Regierung von dem leidigen Thema der steigenden Kosten in der Alterssicherung entlastet würde. Das Risiko künftiger Rentenentwicklungen würde in der Folge aber noch stärker als bisher auf die Arbeitnehmer übertragen, und künftige Alterseinkommen würden ungleicher. Die Gewerkschaften würden zwar an Gestaltungsmacht in der Altersvorsorge gewinnen, sie würden sich aber in den Widerspruch manövrieren, damit zugleich zu einer Schwächung der GRV beizutragen.3
Die Notwendigkeit des Sicherungsziels in der gesetzlichen Rentenversicherung
Sowohl das Altersarmutsproblem als auch das Problem der steigenden Kosten der Alterssicherung in einer alternden Gesellschaft verlangen Antworten im Rahmen der GRV als das einzige Pflicht-Vorsorgesystem in Deutschland. Rentenansprüche in der GRV resultieren aus der relativen Einkommensposition während des Erwerbslebens. Es herrscht keine individuelle Beitragsäquivalenz, sondern eine Teilhabeäquivalenz.4 Während in der Privatversicherung die Leistung rein beitragsbezogen ist und der einzelne durch die Höhe seines individuellen Beitrags sein persönliches Sicherungsziel bestimmt, kann der einzelne Pflichtversicherte in der GRV sein individuelles Sicherungsziel nicht selbst festlegen. Aus diesem Grund muss es in der gesetzlichen Rentenversicherung ein standardisiertes Sicherungsziel geben.
Es ist also letztlich die Lohnersatzfunktion der Rente, die die Bestimmung eines Sicherungsziels unerlässlich macht.5 Jeder Versicherte muss sich die folgende Frage beantworten können: Wie lange muss ich arbeiten und wieviel muss ich im Durchschnitt während dieser Zeit verdienen, damit ich im Alter annähernd so leben kann wie jetzt? Die Frage, welcher Anteil des Einkommens, das während der Erwerbsphase erzielt wurde, in der Rentenphase ersetzt werden soll, muss die Rentenversicherung beantworten. Tut sie dies nicht, ist das Prinzip der Teilhabeäquivalenz nicht messbar und die Rente verliert ihre Lohnersatzfunktion. Dann befindet sich der Versicherte im Renten-Niemandsland.
Das „Rentenniveau vor Steuern“ taugt nicht als rentenpolitische Zielgröße
Leider befinden wir uns derzeit in genau dieser Situation. Zwar existiert im aktuellen Rentenrecht ein „Mindestsicherungsniveau“. Laut gesetzlicher Niveausicherungsklausel soll das „Rentenniveau vor Steuern“ 46% bis zum Jahr 2020 und 43% bis zum Jahr 2030 nicht unterschreiten.6 Dabei ist unklar, was diese Mindestsicherungsziele bedeuten. Sie haben weder einen Bezug zu dem Ziel der Lebensstandardsicherung, noch gewährleisten sie eine Art armutsvermeidende Mindestrente für langjährig Versicherte. Es gibt keine Mindestsicherungselemente im Rentenrecht. Hinzu kommt, dass die Zielgröße „Rentenniveau vor Steuern“ nicht mit der Rentenanpassungssystematik korrespondiert. Das (vermeintliche) Sicherungsziel hat also keinen Bezug zu dem Mittel zur Erreichung dieses Ziels. Bis 2004 bildeten das Sicherungsziel der GRV und die Anpassungssystematik noch eine sinnvolle Einheit. Das gesetzlich definierte Sicherungsziel lag beim Nettorentenniveau in Höhe von 70%, und dies korrespondierte mit der jährlichen Anpassung der Renten gemäß der Nettolohnentwicklung.
Das „Rentenniveau vor Steuern“ ist für den einzelnen Versicherten für die Abschätzung seines individuellen Zugangsrentenniveaus unbrauchbar und in seinem Bezug zur Zielsetzung der gesetzlichen Rente unklar. Zum einen entspricht das „Rentenniveau vor Steuern“ nicht der Intuition der Menschen, der am ehesten das individuelle (Netto-)Zugangsrentenniveau bzw. die individuelle Ersatzrate entspricht. Für das Ziel, den im Erwerbsleben erreichten Lebensstandard im Alter zu halten, ist tatsächlich das Verhältnis der eigenen verfügbaren Nettorente zum eigenen verfügbaren Nettoeinkommen bis zu dem Zeitpunkt des Renteneintritts entscheidend. Leider sagt das „Rentenniveau vor Steuern“ hierzu nichts aus. Zum anderen folgt die Rentenanpassung inzwischen einer Systematik, die – weil sie aus einem Mix an Faktoren (Entgeltfaktor, Riester-Faktor, Nachhaltigkeitsfaktor) resultiert, – in keinem Zusammenhang mehr zu der Zielgröße „Rentenniveau vor Steuern“ steht. Grundsätzlich besteht zwar noch ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung der (Brutto-)Einkommen und der (Brutto-)Renten, dieser Zusammenhang ist aber aufgrund der verschiedenen Einflussfaktoren in der Rentenanpassungsformel stark verwässert worden. Damit wird Rentenpolitik nicht nur undurchschaubar, sondern letztlich auch unsystematisch und konzeptionslos. Die faktische Aufgabe des Sicherungsziels und der drohende Verlust der Teilhabeäquivalenz und der Lohnersatzfunktion der Rente haben den Charakter der gesetzlichen Rentenversicherung seit 2001 grundlegend verändert. Für Geringverdiener hat die GRV bereits heute ihre Lohnersatzfunktion verloren, denn sie können in der Realität kaum Rentenanwartschaften oberhalb der Grundsicherung erreichen.
Dem „Gesamtversorgungsniveau“ fehlt die empirische Grundlage
Auch das imaginäre „Gesamtversorgungsniveau“, das die Regierung seit 2005 in ihren Rentenberichten regelmäßig ausweist, stellt keinen sinnvollen Zielindikator in der Alterssicherungspolitik dar. Das (Netto-)Gesamtversorgungsniveau ist definiert als das Verhältnis der Nettoalterseinkünfte (GRV-Rente + Riesterrente + private Rente) im Jahr des Rentenzugangs zum jeweiligen Nettolohn desselben Kalenderjahres. Anders als das klassische Rentenniveau beinhaltet das „Gesamtversorgungsniveau“ also Alterseinkünfte aus allen drei Säulen. Und anders als der Standardrentner, dem das Leitbild eines „erfüllten Erwerbslebens“ mit durchschnittlichem Verdienst zugrunde liegt, das zwar nicht mehr heute, aber in der Vergangenheit sehr wohl einen realistischen Bezug zur Lebensrealität des (männlichen) Normalversicherten hatte, fehlt dem „Gesamtversorgungsniveau“ jegliche empirische Grundlage. Die Berechnung des Gesamtversorgungsniveaus stellt eine Modellrechnung dar, bei der das Ergebnis von den Annahmen abhängt und stark vom progressiv ausgestalteten Steuersystem beeinflusst wird.7
Im Ergebnis kann der Indikator „Gesamtversorgungsniveau“ nicht das leisten, was er eigentlich leisten soll. Eine Zielgröße für das offiziell proklamierte Sicherungsziel „Lebensstandardsicherung aus drei Säulen“ stellt er de facto nicht dar, weil er – ähnlich wie die Zielgröße „Rentenniveau vor Steuern“ – letztlich auf fiktiven Größen basiert und empirische Tatsachen (unter anderem die geringe Verbreitung und minimale Verzinsung der nicht obligatorischen privaten Vorsorge) ignoriert. Über die tatsächlichen Einkommenslagen und Zahlbeträge und deren Verteilung im Alter sagt das „Gesamtversorgungsniveau“ nichts aus. Ein sozialpolitisch gehaltvoller Indikator sieht anders aus.
Dessen ungeachtet suggeriert der Indikator fälschlicherweise die Erreichung des Ziels der Lebensstandardsicherung auch für die künftigen Rentenzugangskohorten. Das Nettogesamtversorgungsniveau (für den Durchschnittsverdiener) im Rentenzugangsjahr 2015 wird von der Bundesregierung in dem Alterssicherungsbericht 2012 mit 74,3% beziffert.8 In den Alterssicherungsbericht 2005 wurden für 2015 noch 71,9%, in dem Alterssicherungsbericht 2008 für dasselbe Jahr 72,8% angegeben. Man sieht: Der Indikator weist – obwohl seit Jahren die Inanspruchnahme der Riesterrente stagniert bzw. 2016 sogar zurückgeht und die niedrige Verzinsung die private Vorsorge immer unattraktiver macht – von Jahr zu Jahr immer bessere Werte aus. Die Lebensrealität sieht anders aus: Das Versorgungsziel „Lebensstandardsicherung im Alter“ wird für immer mehr Normalversicherte der heutigen und künftigen Rentenzugänge zu einer Illusion.
Fazit
Alterssicherung dient vor allem der Konsumglättung im Lebenslauf. Ohne Zielsetzung bezüglich des Sicherungsniveaus ist dies im Rahmen eines entgeltbezogenen Versicherungssystems mit Lohnersatzcharakter nicht möglich. Seit 2001 wird zwar offiziell das Sicherungsziel „Lebensstandardsicherung aus drei Säulen“ proklamiert, aber es wird nicht wirklich verfolgt, denn die Vorsorge in der zweiten und dritten Säule ist rein fakultativ. Außerdem fehlen empirische Daten und echte statistische Größen zur Messung dieses vermeintlichen Sicherungsziels. Die Zielgrößen „Rentenniveau vor Steuern“ und „Gesamtversorgungsniveau“ messen nicht das, was sie eigentlich messen sollen. Es ist ein tiefer Widerspruch, wenn die „Lebensstandardsicherung“ weiterhin als das offizielle Ziel staatlicher Alterssicherungspolitik proklamiert wird, tatsächlich aber die Instrumente zu seiner Erreichung und die dazu passenden und messbaren Zielgrößen fehlen.
Die Alterssicherungspolitik der letzten 20 Jahre ist vor allem davon geprägt, unpopuläre Maßnahmen zu vermeiden.9 In Zeiten steigender Kosten der Alterssicherung bedeutet dies im Ergebnis vor allem das Alleinlassen der Menschen mit dem Problem ihrer individuellen Altersvorsorge. Zur Realisierung des Ziels „Lebensstandardsicherung im Alter“ braucht es einen Wiederanstieg des Leistungsniveaus aus der GRV und/oder die Verpflichtung zur privaten Vorsorge. Zu einer effektiven Armutsvermeidung braucht es mehr Umverteilung innerhalb des Alterssicherungssystems. Höhere Ersatzraten für Geringverdiener – wie in den meisten OECD-Staaten seit Jahren üblich – sind hierfür ein Beispiel.
- 1 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS): Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme – Bericht der Kommission, August 2003, S. 234.
- 2 Vgl. F. Nullmeier: Einstürzende Neubauten – Statikprobleme im Säulenmodell der Alterssicherung, in: Sozialer Fortschritt, Nr. 8/2015, S. 196-202.
- 3 Vgl. A. Wallrabenstein: Stärkung der betrieblichen Altersversorgung – warum eigentlich und zu welchem Ziel?, in: Soziale Sicherheit, Nr. 6/2016, S. 230-234.
- 4 Vgl. F. Ruland: Grundprinzipien des Rentenversicherungsrechts, in: E. Eichenhofer, H. Rische, W. Schmähl (Hrsg.): Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung SGB VI, Köln 2012, S. 279 f.
- 5 R. Kolb: Die Bedeutung des Versicherungsprinzips für die gesetzliche Rentenversicherung, Deutsche Rentenversicherung (DRV), 1984, S. 177-187.
- 6 Das „Rentenniveau vor Steuern“ liegt 2016 bei rund 48%. Im Jahre 2000 lag es noch bei 53%. Der Wert 48% für 2016 ergibt sich rechnerisch aus der Division der Brutto-Standardrente (2016: 1360 Euro) abzüglich des Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrags und dem durchschnittlichen Bruttoeinkommen (2016: rund 3000 Euro) abzüglich des Kranken-, Pflege-, Renten-, und Arbeitslosenversicherungsbeitrags sowie des – fiktiven – privaten Vorsorgeanteils: 1150 Euro/2400 Euro = 0,48.
- 7 Bei Gutverdienern fällt die Steuerersparnis aus der Steuerfreistellung der RV-Beiträge aufgrund des höheren Einkommens deutlich größer aus. Damit werden höhere Beiträge geleistet, so dass die Erträge aus der Privat-Rente im Zeitverlauf stärker ins Gewicht fallen.
- 8 Für 2030 wird für den Durchschnittsverdiener ein Nettogesamtversorgungsniveau von 72,8% prognostiziert. Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Alterssicherungsbericht 2012, 2012, S. 181.
- 9 Vgl. T. Köhler-Rama: Kommentar: Merkel und die Rente, in: Zeitschrift für Sozialreform, Nr. 3/2016, S. 1-10.
Alterssicherung heißt Alter sichern
Eine drohende Nichtfinanzierbarkeit der Alterssicherung, insbesondere der gesetzlichen Rentenversicherung, mäanderte in verschiedenen Tempi durch die politische und wissenschaftliche Landschaft der letzten vier Jahrzehnte. Durch eine Vielzahl von Maßnahmen wurde versucht, eine durch die demografische Entwicklung sich ergebende Mehrbelastung – die bis zu einer Verdoppelung der Beitragssätze prognostiziert wurde – der jeweiligen erwerbstätigen Bevölkerung abzuwenden. Neben Veränderungen auf der Einnahmeseite wie z.B. Beitragssatzerhöhungen, Anpassungen und Veränderungen der Höhe der notwendigen Liquiditätsrücklage wurden vor allem Maßnahmen auf der Ausgabenseite vollzogen. Dazu gehörten insbesondere Kürzungen der Auszahlbeträge der Renten oder Reduzierungen bereits erworbener Ansprüche und damit eine Kürzung zukünftiger Renten. Beispiele für die Kürzung der bereits laufenden Renten sind die Einführung der Eigenbeiträge der Rentner an die Krankenversicherung der Rentner, das Zurückführen der Zuschüsse der Träger der Rentenversicherung zu den Beiträgen der Pflegeversicherung oder das Verschieben oder Aussetzen der Rentenanpassung. Zukünftige Ansprüche wurden aber auch zurückgeführt oder sogar völlig gestrichen, etwa indem bewertete Ausbildungszeiten oder Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht mehr angerechnet werden.
Trotz der von der Politik für notwendig gehaltenen Maßnahmen wurde lange noch der gesetzlichen Rente die Funktion der Sicherung des Lebensstandards zugesprochen. Noch nach dem Rentenreformgesetz 1992 (beschlossen 1989) sollte die „Eckrente“ (45 Jahre mit Durchschnittsverdienst) 70% des durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelts entsprechen.1 Mit den Rentenreformgesetzen 2001 bis 2004 wurde der in vielen Analysen angesprochene Paradigmenwechsel vollzogen: Nicht die Absicherung eines bestimmten, den Lebensstandard sichernden Niveaus, sondern die Höhe des Rentenversicherungsbeitrages wurde Zielgröße. Als Obergrenze für den Beitragssatz der Rentenversicherung wurden 22% für das Jahr 2030 festgesetzt. Das Rentenniveau leitet sich aus der Höhe des Beitragssatzes ab. Als Untergrenze wurde im Gesetz für 2030 ein Rentenniveau für den „Eckrentner“ von 43% festgelegt. Damit ist ein Sinken des Rentenniveaus, netto vor Steuern, von gegenwärtig 47,6% vorgegeben. 1990 betrug das Rentenniveau immerhin noch 55%. Im Jahr 2030 wird somit das Rentenniveau um 12 Prozentpunkte, d.h. gegenüber 1990 um 22% niedriger sein.2
In der politischen wie auch wissenschaftlichen Diskussion wird das Konzept des „Standardrentenniveaus“ verwendet. Gemessen wird dies durch die Relation der Rente eines Versicherten, der 45 Versicherungsjahre immer im Durchschnitt verdiente, zu dem Durchschnittverdienst des Jahres, in dem die Rente neu bezogen wird. Dies ist für internationale Vergleiche und Vergleiche auf der Zeitachse ein sinnvoller Indikator. Für die Erfassung und Bewertung der tatsächlichen individuellen Versorgungssituation ist das Konzept dagegen ungeeignet.
Die Versorgungssituation von Rentnern – vor allem beim Übergang von der Erwerbstätigkeit in die Rentenphase – wird durch das Verhältnis von Rente zu letztem Erwerbseinkommen bestimmt. Neben einer Relation der Bruttogrößen ist aber vor allem die Nettorelation ausschlaggebend. Beim Standardrentenniveau wird die in der Erwerbszeit erworbene Rente zum Durchschnittseinkommen in Bezug gesetzt. Ein solcher Einkommensverlauf entspricht aber fast nie der Realität. Zu Beginn der Erwerbstätigkeit liegt das persönliche Einkommen in der Regel unter dem Durchschnitt, am Ende darüber. Wird beispielsweise unterstellt, dass am Ende der Erwerbstätigkeit das letzte Einkommen 30% über dem Durchschnitt liegt, dann reduziert sich die Relation Rente zu Einkommen um 12 Prozentpunkte. In diesem Fall würde das Rentenniveau nicht 47%, sondern nur 35% betragen (vgl. Tabelle 1).3 Da die individuelle Versorgungssituation nicht berücksichtigt wird, wird die tatsächliche Versorgungssituation damit geschönt, umso mehr, je größer die Differenz des letzten Einkommens zum Durchschnittseinkommen ist.
Tabelle 1
Rentenniveau in Abhängigkeit von Einkommensverläufen
Verlauf 1 | Verlauf 2 | |
---|---|---|
Beginn der Erwerbstätigkeit | ||
• Alter | 20 | 20 |
• Entgeltpunkte | 1,00012 | 0,2219 |
Ende der Erwerbstätigkeit | ||
• Alter | 65 | 65 |
• Bruttoeinkommen/Monat in Euro | 2704 | 3600 |
• Entgeltpunkte | 1,00012 | 1,3315 |
Durchschnittliche Entgeltpunkte | 1,00012 | 1,0003 |
Letztes Nettoeinkommen in Euro | 2004 | 2516 |
Erwerbsjahre | 45 | 45 |
Monatliche Bruttorente in Euro | 1263 | 1263 |
Bruttorente zu letztem Bruttoeinkommen | 0,47 | 0,35 |
Monatliche Nettorente in Euro | 1135 | 1135 |
Nettorente zu letztem Nettoeinkommen | 0,57 | 0,45 |
Verlauf 1: Standardrentner, 45 Erwerbsjahre, Einkommen immer der Durchschnitt. Verlauf 2: 45 Erwerbsjahre, Gesamtdurchschnitt wie Standardrentner, aber Einkommenskarriere.
Quelle: In Anlehnung an V. Meinhardt: Modellrechnungen zur Bestimmung der Alterseinkünfte auf der Basis von Erwerbsverläufen, IMK Study 36, September 2014, Tabelle 2, S. 10.
Ein Rentner mit einer Rente wie ein Standardrentner, aber einem letztem Einkommen von 130% des Durchschnitts hat ein individuelles Nettorentenniveau von 45% (nach Steuern). Gegenüber seinem letzten Nettoeinkommen in der Erwerbsphase würde der Rentner aber eine Einkommenseinbuße von 55% erleiden. Damit ließe sich der während der Erwerbsphase erreichte Lebensstandard wohl nicht aufrechterhalten. Würde das Rentenniveau auf der Basis des Durchschnittseinkommens berechnet werden, ergäbe sich rechnerisch ein Rentenniveau von 57% (nach Steuern).
Unzureichende zusätzliche Vorsorge
In der Diskussion um die Höhe der Absicherung während der Rentenphase wird oftmals auch darauf verwiesen, dass die gesetzlichen Renten nicht die einzigen Einkünfte während der Rentenbezugsphase sind. Dabei geht es vor allem um die Betriebsrente. Gegenwärtig erhalten aber nur 28% der Bezieher einer gesetzlichen Rente eine Betriebsrente, knapp 40% davon entfallen auf frühere Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, für die eine Pflichtversicherung in der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes besteht. Hingegen haben nur 17% der Rentner, die während der Erwerbsphase nicht dem öffentlichen Dienst zuzurechnen waren, zusätzlich zu ihrer gesetzlichen Rente Anspruch auf eine betriebliche Rente.4 Für die zukünftigen Rentner erhöht sich das Anrecht auf eine betriebliche Rente, da gegenwärtig 60% der Beschäftigten eine Anwartschaft auf eine betriebliche Rente aufbauen.5 Daher werden auch in naher Zukunft 40% der Rentner keinen Anspruch auf eine zusätzliche betriebliche Rente haben.
Vor diesem Hintergrund sind zwar die Bemühungen um die Einführung einer obligatorischen Betriebsrente sinnvoll. Allerdings: Für Personen, die bislang in keiner Weise betrieblich zusätzlich für das Alter vorgesorgt haben und in den nächsten zwei Jahrzehnten in Rente gehen, kommt eine solche zusätzliche Absicherung zu spät. Eine längere Ansparphase wäre erforderlich, um eine nennenswerte Betriebsrente erwerben zu können, mit der die gesetzliche Rente zu einer den Lebensstandard sichernden Altersversorgung aufgestockt werden könnte. Diese Versicherten sind daher aber vor allem auf die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung angewiesen, die aber nur sehr gering sein wird.
In Kombination mit privater Vorsorge wurde die betriebliche Altersvorsorge durch die sogenannte Entgeltumwandlung ausgebaut. Arbeitnehmer können dabei Teile ihres Gehalts beitrags- und steuerfrei in eine betrieblich organisierte Altersvorsorge einbringen. Obwohl frühzeitig darauf verwiesen wurde, dass die Entgeltumwandlung den Anstieg der gesetzlichen Rente und damit die umlagebasierte Rentenversicherung schwächt,6 wurde die ursprünglich zeitliche Befristung dieser Maßnahme aufgehoben. Mit der Herausnahme der umgewandelten Entgelte aus der Bemessungsgrundlage der Formel für die Rentenanpassung erfahren alle Rentner, auch wenn sie sich nicht an der Entgeltumwandlung beteiligen konnten oder wollten, eine Dämpfung ihrer Renten. Darüber hinaus werden die gesetzliche Rentenversicherung und auch die anderen Sozialversicherungsträger durch den Entzug von Beitragsmitteln geschwächt.7
Die als Kompensation für das absinkende Rentenniveau gedachte private Vorsorge in Form der Riesterrente kann nach gegenwärtig vorliegenden Ergebnissen dies nicht leisten.8 Die Vorstellung, dass sich mit privat angelegtem Kapital über die Finanzmärkte eine höhere Absicherung erzielen ließe als im Umlageverfahren, stellte sich als Illusion heraus. Einzig bleibt eine starke Entlastung der Arbeitgeber bei den Beiträgen zur Rentenversicherung und eine stärkere Belastung der Arbeitnehmer, die nunmehr Beiträge für die private Vorsorge allein zu tragen haben.
Fehlende Teilhabe der Rentner
Nein, mit diesen Rentenreformen aus den ersten Jahren diesen Jahrhundert wurde die Sicherung des Alters nicht verbessert, stabilisiert wurde vor allem die Finanzierung. Für diese Einschätzung kann auch herangezogen werden, dass die Differenz zwischen den Zahlbeträgen der Bestandsrenten und den jeweiligen Neurenten in den letzten Jahren größer wurde. Bei den männlichen langjährig Versicherten in den alten Bundesländern mit stabilem Versicherungsverlauf, d.h. gleicher Zahl von Versicherungsjahren und gleichen durchschnittlichen Entgeltpunkten, hat sich die Differenz von 30 Euro im Jahr 1990 auf 168 Euro im Jahr 2014 erhöht. Verschärfend kommt hinzu, dass der Zahlbetrag der neu zugegangenen Rente des Jahres 2014 unter den Zahlbeträgen des Jahres 1990 liegt. Dies gilt sowohl für Bestandrenten als auch für Neurenten des Jahres 1990.9 Bei den männlichen Rentnern in den neuen Bundesländern ist dieses Auseinanderlaufen noch stärker. Von der guten wirtschaftlichen Entwicklung wurde diese Rentnergruppe abgehängt.
Nein, die Einschätzung des Finanzstaatssekretärs Jens Spahn „Den Rentnern geht es so gut wie noch nie“10 ist nicht nur falsch, sie geht auch an der Sache vorbei. Zum Glück geht es uns insgesamt besser als früher. Aber viel entscheidender ist, ob alle an dem wirtschaftlichen Fortschritt teilhaben. Und gerade für die Rentner gilt dies für die letzten beiden Jahrzehnte nicht mehr.
Schlechte Aussichten
Prognosen über die zukünftigen Anwartschaften von Renten auf der Basis bisheriger Einkommensverläufe weisen noch einmal auf die Brisanz möglicher Entwicklungen hin. Wobei das Eintreten dieser Entwicklungen davon abhängt, ob die Fortschreibung bisheriger Erwerbsverläufe den zukünftigen Verläufen tatsächlich entsprechen wird. Während für die alten Bundesländer relativ stabile Rentenverläufe prognostiziert werden, droht 50% der Männer jüngerer Geburtskohorten (1952 bis 1971) in den neuen Bundesländern das Abrutschen in die Grundsicherung für Ältere.11 Wenn aber einem großen Anteil der Bevölkerung droht, dass ihre Rentenansprüche unterhalb der Bedarfsgrenzen für die Grundsicherung liegen und damit nicht einmal das Existenzminimum gewährleistet ist, dann steht zwingend die Legitimation eines Pflichtversicherungssystems mit Pflichtbeitragszahlungen zur Diskussion.
Bestätigt wird das Zurückbleiben der deutschen Renteneinkommen gegenüber der wirtschaftlichen Entwicklung auch durch eine vergleichende internationale Studie der OECD. Berechnet werden darin die zukünftigen Rentenansprüche für die 34 OECD-Länder und einige Länder der G20-Gruppe. Basis der Berechnungen sind die gegenwärtig geltenden rechtlichen Grundlagen. Die in der Studie verwendeten Begriffe der Ersatzquoten (brutto und netto) sind mit dem oben verwendeten Begriff des „Rentenniveaus“ vergleichbar.12 Die Studie weist für Durchschnittsverdiener in Deutschland eine Bruttoersatzquote von 37,5% aus. Einbezogen sind alle Pflichtversicherungen. Der Durchschnittswert für alle 34 OECD-Länder beträgt 52,9%. Deutschland liegt somit um 15,4 Prozentpunkte unter dem Durchschnittswert und an achtletzter Stelle. Beim Vergleich der Nettoersatzquote verbessert sich die Position Deutschlands etwas. Der Durchschnittswert für die 34 Länder beläuft sich auf 63,2%, der Wert für Deutschland liegt bei 50%.
Was ist zu tun?
Schon frühzeitig ist darauf verwiesen worden, dass die demografisch bedingten Alterssicherungsprobleme weder durch eine Senkung des Rentenniveaus noch durch einen Wechsel des Finanzierungsverfahrens zu lösen sind.13 Die Finanzmarkt- und die Eurokrise können als Beleg dafür dienen, dass eine Absicherung des Alterseinkommens über eine Kapitaldeckung mit deutlichen Unsicherheiten einhergeht. Es ist daher ganz und gar ein Trugschluss, wenn von Politik und Wissenschaft demografisch bedingte Risiken der Alterssicherung nur dem Umlageverfahren zugeschrieben werden.
Die Ausführungen zuvor liefern Evidenz dafür, dass die gesetzliche Rentenversicherung mit den gegenwärtigen gesetzlichen Regelungen eine Absicherung im Alter entsprechend dem erarbeiteten Lebensstandard nicht ermöglicht. Zusätzliche Einkünfte über betriebliche oder private Vorsorgemaßnahmen erreichen nur Teilgruppen der Versicherten. Die Alterssicherung in Deutschland wird stark durch die gesetzliche Rentenversicherung dominiert. 90% aller 65-Jährigen und Älteren beziehen eine eigene Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung. In den neuen Bundesländern liegt die Bezugsquote bei nahezu 100%.
Daher schlage ich vor, in erster Linie ein klares und ausreichendes Absicherungsniveau für die gesetzliche Rentenversicherung politisch vorzugeben und damit die Funktion der Rentenversicherung wieder in den Vordergrund zu schieben, und zwar eine den Lebensstandard sichernde Absicherung im Alter. Die Frage ist, wieso schaffen es – wie die OECD-Studie zeigt – andere Länder ein höheres Absicherungsziel einzuhalten? Für Österreich gilt: 80/45/65, d.h. eine Bruttoersatzquote von 80% bei 45 Versicherungsjahren und einem Renteneintritt mit 65 Jahren.14
Als erster Schritt sollte zumindest die durchschnittliche Bruttoersatzquote der OECD-Länder angepeilt werden. Dies würde eine Anhebung des Rentenniveaus um ca. 15 Prozentpunkte bedeuten, somit würde ein Rentenniveau vor Steuern von etwa 63% erreicht werden. Für den Standardrentner würde dies eine Aufstockung der Rente von gegenwärtig 1166 Euro pro Monat auf 1689 Euro pro Monat bedeuten. Das mag im ersten Moment utopisch aussehen. Aber es gibt dafür konkret gelebte Beispiele wie z.B. das österreichische Rentensystem. Die Aufstockung sollte in ein oder zwei Schritten erfolgen. Parallel dazu, aber asynchron, sollte eine Anhebung der Beiträge im Zeitrahmen von ca. zehn Jahren erfolgen, um so einen abrupten Anstieg der Arbeitskosten zu vermeiden. Die dabei entstehende Finanzierungslücke könnte in der Übergangszeit durch Zahlungen aus dem Bundeshaushalt ausgeglichen werden. Diese Bundeszahlungen können als ein Ausgleich der den Sozialversicherungen nach der deutschen Vereinigung aufgebürdeten Kosten angesehen werden. Immerhin mussten die Rentenversicherungsträger ab Mitte der 1990er pro Jahr etwa 15 Mrd. Euro Vereinigungskosten tragen. Das sind versicherungsfremde Leistungen, die der Gemeinschaft der Steuerzahler anzulasten sind.
Einbezogen werden sollte in diese Aufstockung der Wegfall der Riester-Treppe und ein Auslaufen der Förderung der privaten Vorsorge, einschließlich der Entgeltumwandlung. Das wäre ein effizienterer Einsatz der Mittel für die Riester-Förderung, da diese Mittel dann allen zugute kämen. Ein Einstellen der Entgeltumwandlung erhöht die Bemessungsgrundlage der Beitragszahlung und fördert die paritätische Beitragsfinanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Es ist zu erwarten, dass auf einen derartigen Vorschlag der Erhöhung des Rentenniveaus über eine Stärkung des Umlageverfahrens die üblichen Vorwürfe kommen werden: „Das können wir doch nicht zu Lasten der jüngeren Generation tun.“ Hierzu sei schon vorweg darauf verwiesen, dass gerade die jüngere Generation unter den gegenwärtig geltenden Regelungen und dem Rutscheffekt des sinkenden Rentenniveaus leiden wird, wenn es nicht zu einer Festlegung einer den Lebensstandard sichernden Absicherungsquote kommt. Mittelfristig sollte die gesetzliche Rentenversicherung in eine Erwerbstätigen- bzw. in eine Bürgerversicherung umgebaut werden. Gerade für die nächsten Jahrzehnte, in denen die Finanzierung der Renten der Babyboomer anfällt, dürften sich durch die Ausweitung des Personenkreises Finanzierungsspielräume ergeben.15 Eine umfassende Ausweitung des Versichertenkreises erhöht die Möglichkeiten, sowohl bei der Beitragsgestaltung als auch bei den Leistungen von einer engen Äquivalenzbeziehung abzugehen. So könnte die Beitragsbemessungsgrenze aufgehoben und gleichzeitig die Zuerkennung von Ansprüchen degressiv gestaltet werden. Auch dadurch ließen sich Finanzierungsspielräume gewinnen.16
Gerade für Geringverdiener kann die Äquivalenz zwischen der Höhe des beitragspflichtigen Einkommens und der zu erwartenden Rente beschränkend wirken. Bei einer Aufhebung der Äquivalenz ließe sich auch eine Mindestrente in das System der Alterssicherung integrieren. Diese könnte zum Teil die Bedürftigkeitsüberprüfungen, die heute bei Beantragung der Grundsicherung zu überstehen sind, mildern. Das Umlageverfahren und das deutsche Rentensystem sind also ausbaufähig und -bedürftig. Packen wir es an.
- 1 W. Schmähl: Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung, Köln 2011, S. 64, Kap. 2.
- 2 Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.): Rentenversicherung in Zeitreihen, Oktober 2015.
- 3 V. Meinhardt: Modellrechnungen zur Bestimmung der Alterseinkünfte auf der Basis von Erwerbsverläufen, IMK Study, Nr. 36, 2014.
- 4 Deutscher Bundestag: Alterssicherungsbericht 2012, Bundestags-Drucksache 17/11741, Berlin, S. 13.
- 5 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Forschungsbericht, Sozialforschung 430, Verbreitung der Altersvorsorge 2011, München 2012.
- 6 W. Schmähl, A. Oelschläger: Abgabenfreie Entgeltumwandlung aus sozial- und verteilungspolitischer Perspektive, Berlin 2007.
- 7 V. Meinhardt: Auswirkungen der Sozialversicherungsfreiheit der Entgeltumwandlung, IMK Study, Nr. 46, 2016.
- 8 K. Hagen, A. Kleinlein: Zehn Jahre Riester: Kein Grund zum Feiern, in: DIW Wochenbericht, Nr. 47/2011.
- 9 Deutsche Rentenversicherung Bund, a.a.O., S. 124 f., S. 202 f.
- 10 Süddeutsche Zeitung vom 22.8.2016, S. 20.
- 11 V. Steiner, J. Geyer: Erwerbsbiografien und Alterseinkommen im demografischen Wandel – eine Mikrosimulationsstudie für Deutschland, in: DIW Berlin: Politikberatung kompakt, Nr. 55, 2010, S. 125; J. Simonson, N. Kelle, L. Romeu Gordo, M. Grabka, A. Rasner, C. Westermeier: Ostdeutsche Männer um 50 müssen mit geringeren Renten rechnen, in: DIW Wochenbericht, 79. Jg. (2012), Nr. 23, S. 3-13.
- 12 OECD: Pension at a Glance 2015, OECD and G20 indicators, Paris 2015, S. 139 ff.
- 13 E. Kirner, V. Meinhardt: Gesetzliche Rentenversicherung: Senkung des Rentenniveaus nicht der richtige Weg, in: DIW Wochenbericht, 64. Jg. (1997), Nr. 24-25, S. 433-443.
- 14 F. Blank, C. Logeay, E. Türk, J. Wöss, R. Zwiener: Alterssicherung in Deutschland und Österreich: Vom Nachbarn lernen, WSI Report, Nr. 27, 2016, S. 30.
- 15 H. Buslei, J. Geyer, P. Haan, M. Peters: Ausweitung der gesetzlichen Rentenversicherung auf Selbständige: merkliche Effekte auch in der mittleren Frist, in: DIW Wochenbericht, 83. Jg. (2016), Nr. 30, S. 659- 667; M. Werding: Alterssicherung, Arbeitsmarktdynamik und neue Reformen: Wie das Rentensystem stabilisiert werden kann, Gütersloh 2013.
- 16 V. Meinhardt, M. Grabka: Grundstruktur eines universellen Alterssicherungssystems mit Mindestrente, Friedrich Ebert Stiftung, WISO Diskurs, Juli 2009.