Die Lage der russischen Wirtschaft ist dramatisch. Um 3,7% ist die gesamtwirtschaftliche Leistung 2015 eingebrochen. Die verhängten Wirtschaftssanktionen sowie der Ölpreisverfall haben zu der Abwärtsspirale beigetragen. Doch die eigentlichen Schwächen der russischen Wirtschaft sind eher struktureller Natur. Die starke Abhängigkeit vom Öl- und Gasgeschäft, Korruptionsprobleme, Rückschritte bei der Privatisierung und eine ineffiziente Nutzung des vorhandenen Humankapitals erfordern mehr Entschlossenheit von der Regierung, um die Rückkehr zum Wachstumspfad zu ermöglichen.
Die russische Wirtschaft erlebt zurzeit die schwerste Rezession seit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2009. 2015 schrumpfte die gesamtwirtschaftliche Leistung um 3,7%, die Inflationsrate lag bei über 15%, die Lebensmittelpreise nahmen im Jahresdurchschnitt um mehr als 20% zu. Eine Reihe von Faktoren hat zu dieser Entwicklung beigetragen: die geopolitische Unsicherheit, die Wirtschaftssanktionen sowohl der westlichen Handelspartner als auch die russischen Importsanktionen für Lebensmittel sowie der Öl- und Gaspreisverfall und der damit verbundene Einbruch bei den Einnahmen aus dem Ölgeschäft. Auch wenn die aktuelle Zuspitzung der Wirtschaftskrise in Russland durch diese Faktoren verschärft wurde, ist der Hauptgrund für die Schwäche der russischen Wirtschaft eher struktureller Natur und stellt somit eine große Herausforderung für die wirtschaftliche Erholung und die langfristige Entwicklung Russlands dar.1 Korruptionsprobleme, Rückschritte bei der Privatisierung und eine zäh verlaufende Liberalisierung der Märkte sind Ansatzpunkte, die mehr Entschlossenheit von der Regierung erfordern. Die hohen Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft haben die Anreize geschmälert, ernsthafte Reformen in Gang zu setzen, und zu einer starken Abhängigkeit der russischen Wirtschaft von der Weltkonjunktur und dem Ölpreis geführt. Zwar verfügt das Land nach wie vor über ein beachtliches Wachstumspotenzial: Die hohe Bevölkerungszahl, beeindruckende Hochschulabschlussquoten und ausgeprägte Stärken in einzelnen Bereichen der Grundlagenforschung sind gute Voraussetzungen für eine Fortsetzung der Erfolgsgeschichte Russlands. Damit dieses Wachstumspotenzial entfaltet werden kann, muss die russische Regierung allerdings einen wirtschaftlichen Rahmen schaffen, der die Anreizstruktur grundlegend verändert und eine Lösung für die bestehenden Governanceprobleme bietet.
Direkte Abhängigkeit von den Rohstoffeinnahmen
Natürliche Ressourcen waren und sind ein wichtiger Faktor für das Wirtschaftswachstum seit der Russlandkrise 1998. Gemäß der US-amerikanischen Energy Information Administration (EIA) belegt das Land den ersten Platz sowohl bei der Erdgasförderung als auch bei den Reserven. Fast ein Viertel der weltweiten Erdgasreserven entfällt auf Russland. Bei der Ölproduktion befindet sich Russland mit einer Fördermenge von 10,9 Mio. Barrel pro Tag auf Platz drei (nach den USA und Saudi-Arabien) und liegt an achter Stelle hinsichtlich der vorhandenen Reserven.
Im Zeitraum 1998 bis 2014 konnte die Ölproduktion Russlands um fast 80% gesteigert werden.2 Die Rohstoffrenten, definiert als die Differenz zwischen dem Produktionswert und den Kosten der Rohstoffförderung, bewegten sich in diesem Zeitraum laut Angaben der Weltbank zwischen 16% des BIP 1998 und 43% 2000 (vgl. Abbildung 1). Vor allem durch die hohen Rohstoffrenten konnten beachtliche Wachstumsraten des realen BIP von bis zu 10% erzielt werden, wobei nicht nur die russischen Oligarchen davon profitierten, sondern auch die durchschnittlichen Bürger, deren Lebensstandard sich substanziell verbesserte.3 Somit stellt das Ölgeschäft einen wesentlichen Bestandteil der Wachstumsgeschichte Russlands dar: Im Zeitraum 1999 bis 2008 leistete es einen erheblichen Beitrag zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Produktion, die Abhängigkeit der russischen Wirtschaft vom Ölgeschäft hat sich jedoch noch weiter verstärkt. Diese hat sich als ein wesentliches Risiko für die wirtschaftliche Entwicklung herausgestellt und das rasante Wachstumstempo konnte nicht aufrechterhalten werden, als die Rohstoffrenten im Zuge der aktuellen Wirtschaftskrise einbrachen.
Abbildung 1
Rohstoffrenten,1 Ölpreis und Wirtschaftswachstum in Russland
1 Definiert als die Differenz zwischen Produktionswert und Produktionskosten.
Quellen: IWF; Weltbank; Institut der deutschen Wirtschaft Köln.
Die aus der starken Abhängigkeit vom Ölgeschäft resultierenden Risiken für die Wirtschaftsentwicklung haben auch zu der aktuellen Zuspitzung der Rezession in Russland beigetragen. Zwar hat die Abwertung des Rubel den in einheimischer Währung gemessenen Rückgang der Öleinnahmen infolge des seit 2014 sinkenden Ölpreises etwas gemildert.4 Doch der Ölpreis ist zwischen 2013 und 2015 um mehr als die Hälfte eingebrochen, was eine Belastung nicht nur für die Leistungsbilanz Russlands, sondern auch für die öffentlichen Finanzen darstellt.
Auch die Entwicklung der russischen Exporte weist auf die starke Abhängigkeit vom Ölgeschäft hin (vgl. Abbildung 2). Der Anteil der mineralischen Brennstoffe an den Warenexporten ist von 43% 1995 auf etwa 70% 2014 gestiegen. Werden auch andere Rohstoffwaren hinzugerechnet, lag der Anteil der natürlichen Ressourcen an den gesamten Warenexporten Russlands 2014 bei über 81%.
Abbildung 2
Struktur der russischen Warenexporte
Warenexporte in Mrd. US-$
Quelle: UNCTAD.
Die Einnahmen aus Rohstoffexporten sind in Russland weiterhin eine wichtige Einnahmequelle zur Finanzierung der Staatsausgaben (vgl. Abbildung 3). Ohne sie wäre die Staatsverschuldung rasant gestiegen. Besonders seit Beginn der aktuellen Wirtschaftskrise hat der Finanzierungsbedarf schnell zugenommen. Im Durchschnitt der Jahre 2009 bis 2012 lag das Budgetdefizit nach Abzug der Öleinnahmen bei 12,2%.
Abbildung 3
Haushaltssaldo mit und ohne Öleinnahmen in Russland
2015 und 2016: Prognosen des IWF.
Quellen: OECD, 2014; IWF, 2013.
Im Dezember 2012 führte die Regierung eine fiskalische Regel ein, um die Nutzung von Öleinnahmen zur Finanzierung von laufenden Ausgaben zu beschränken und die Abhängigkeit von der Ölpreisentwicklung zu reduzieren.5 Gemäß dieser Regel werden die Öleinnahmen zunächst mit dem Ölpreis der letzten fünf Jahre bewertet (bis 2018 werden es die letzten zehn Jahre sein). Die mittelfristigen Staatsausgaben werden dann für die folgenden drei Jahre festgelegt, unter Berücksichtigung der Öleinnahmen und weiterer Einnahmen, die nicht aus der Ölwirtschaft stammen. Die Regel sieht zudem eine Obergrenze für das Budgetdefizit in Höhe von 1% des BIP vor. Durch die Einführung dieser Regel dürfte die Abhängigkeit des Staatshaushalts von den Öleinnahmen und der Ölpreisentwicklung abnehmen. Die Einschränkung wird allerdings mit einer Revision der Staatsausgaben verbunden sein, bei der es von entscheidender Bedeutung für die langfristigen Entwicklungsperspektiven des Landes ist, wachstumsfördernden Ausgaben, etwa im Bereich der Infrastruktur und des Humankapitals, Vorrang zu gewähren.
Zusätzliche Öleinnahmen, die sich aus einer Ölpreissteigerung ergeben können, sollen in einen Reservefonds fließen, der auf bis zu 7% in Relation zum BIP gesteigert werden kann und dem Ausgleich der Ölpreisschwankungen dienen soll.6 Wird auch diese Grenze erreicht, fließen weitere Einnahmen aus dem Ölgeschäft in den Nationalen Wohlfahrtsfonds oder werden für Infrastrukturprojekte ausgegeben. Doch der anhaltend niedrige Ölpreis und die erheblich abnehmende Wachstumsdynamik in den letzten Jahren zeigen, dass Zuflüsse in den Reservefonds nicht selbstverständlich sind.
Holländische Krankheit als Folge des florierenden Bergbausektors
Die Abhängigkeit Russlands vom Ölgeschäft wurde in einer Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten thematisiert.7 Über die direkte Abhängigkeit von der Ölpreisentwicklung hinaus wird in vielen Analysen überprüft, inwieweit die Ölexporte die sogenannte Holländische Krankheit (Dutch Disease) verursacht haben könnten. Sie beschreibt eine Entwicklung, bei der die Entdeckung neuer Rohstoffvorkommen und die Steigerung der Förder- und Exportmengen zu einer realen Aufwertung der Währung eines Landes führen und auf diese Weise die Wettbewerbsfähigkeit der Hersteller anderer Branchen beeinträchtigen können. Zudem verlieren diese Branchen als Einsatzort für Produktionsfaktoren in relativer Betrachtung an Attraktivität, wenn die Entlohnung im Rohstoffsektor erhöht wird. Als indirekter Effekt werden eine Preis- und/oder eine Produktionssteigerung bei nicht handelbaren Gütern (vor allem Dienstleistungen) beobachtet, wenn die besseren Verdienstmöglichkeiten im Rohstoffsektor zu einer verstärkten Nachfrage nach diesen Gütern führen.
Oomes und Kalcheva analysieren die Symptome der Holländischen Krankheit im Hinblick auf die Entwicklung in Russland.8 Sie zeigen, dass sich zwar eine Verlangsamung der wirtschaftlichen Aktivität in einigen Industriesparten bemerkbar macht. Allerdings ist keine abnehmende Wachstumsdynamik im Verarbeitenden Gewerbe als Ganzes zu verzeichnen. Sie finden auch Evidenz für eine reale Aufwertung des Rubel und eine positive Entwicklung des Dienstleistungssektors, schreiben diese aber den Strukturveränderungen im Zuge des Transformationsprozesses zu. Die reale Aufwertung des Rubel ist mit keinem Wettbewerbsfähigkeitsverlust für das Verarbeitende Gewerbe in Russland verbunden.
Mironov und Petronevich liefern hingegen Evidenz für das Vorhandensein der Holländischen Krankheit in Russland.9 Sie verwenden Daten für den Zeitraum 2002 bis 2013 und zeigen einen negativen Effekt der realen Aufwertung auf das Wachstum im Verarbeitenden Gewerbe. Trotzdem weisen sie darauf hin, dass die Verlagerung der Arbeitskräfte aus dem Verarbeitenden Gewerbe zum Dienstleistungssektor nicht allein durch die Rubelaufwertung erklärt werden kann.
Die Abhängigkeit der russischen Wirtschaft vom Öl- und Gasgeschäft kann somit sowohl direkte als auch indirekte Auswirkungen auf die Wachstumsperspektiven des Landes haben. Dass ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum nicht allein auf natürlichen Ressourcen basieren darf, wurde häufiger auch von russischer Seite betont. So schrieb der damalige Präsident Dmitri Medvedev in seinem Artikel „Go Russia“ 2009, dass die Prosperität Russlands in den kommenden Dekaden nicht mehr so sehr durch natürliche Ressourcen gesichert werden darf, sondern durch intellektuelle Ressourcen vorangetrieben werden soll, von der sogenannten intelligenten Ökonomie, die einmaliges Wissen schafft sowie neue Technologien und innovative Produkte exportiert.10
Marktliberalisierung und Privatisierung
Neben der starken Abhängigkeit von den Einnahmen aus dem Ölgeschäft steht die russische Wirtschaft vor einer Reihe weiterer struktureller Herausforderungen, die sie daran hindern, ihr Wachstumspotenzial zu entfalten und die Erfolgsgeschichte aus der Vorkrisenzeit fortzusetzen. Ein wesentlicher Aspekt betrifft den Mangel an liberalisierten Märkten, auf denen der freie Wettbewerb zu einer effizienten Ressourcenallokation führt. Zwar hat die Privatisierung in den 1990er Jahren dazu geführt, dass Ende der 1990er Jahre der private Sektor etwa 70% des BIP ausmachte. Doch der Privatisierungsprozess wurde seit 2000 abgebrochen und sogar teilweise rückgängig gemacht, sodass der Anteil des privaten Sektors inzwischen nur noch 65% beträgt.11 Weitere Schätzungen ergeben sogar einen Anteil des Staates in Höhe von 50% des BIP.12 So liegt der staatliche Anteil im Ölsektor bei etwa 40% bis 45%, im Bankensektor bei 49%, im Transportsektor bei 73%. Zudem erbringt der Konzern Gazprom den größten Anteil der Gasproduktion. Darüber hinaus besitzt er das Verteilungsnetz und agiert als Monopolist bei den Gasexporten.
Der hohe Anteil des Staatssektors geht auch mit einer geringeren Produktivität einher. Laut Schätzungen liegt die Arbeitsproduktivität in den Unternehmen in Staatsbesitz in einigen Branchen bei etwa 30% des Branchendurchschnittswerts.13 In vielen Bereichen verfügt der Staat über Monopolrechte. Zudem sind die Entscheidungen auf den Führungsetagen oft politisch motiviert und die Unternehmensführung ist politischen Zielen untergeordnet.
Im internationalen Vergleich zeigt Russland in Hinsicht auf Marktliberalisierung und Wettbewerbspolitik einen erheblichen Nachholbedarf. Bezüglich der Kategorie Wirtschaftliche Freiheit gemessen am Index des Fraser Instituts rangiert das Land auf Platz 99 von insgesamt 157. Besonders schlecht schneidet Russland in der Kategorie Freiheit im internationalen Handel ab, wo es 2013 auf Platz 134 lag. Durch die Importrestriktionen gegen ausländische Lebensmittel dürfte es sich in dieser Kategorie noch weiter verschlechtert haben. Die Wettbewerbspolitik im Land ist ineffektiv, und in vielen Wirtschaftsbereichen dominieren Großunternehmen. Bezüglich der Wirksamkeit der Anti-Monopolpolitik stuft das Weltwirtschaftsforum Russland auf Platz 102 von insgesamt 144 ein.14 Die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) machen nur etwa ein Fünftel der Beschäftigung und der gesamtwirtschaftlichen Leistung gemessen am BIP aus.15 Zum Vergleich: In der EU stehen KMU für 66% der Beschäftigung und 57% der gesamtwirtschaftlichen Leistung.16
Humankapital und Innovationen
Ein weiterer Aspekt, der zur strukturellen Schwäche der russischen Wirtschaft beiträgt und gleichzeitig ein enormes Potenzial für die zukünftige Entwicklung darstellt, sind das ineffizient genutzte Humankapital sowie die im internationalen Vergleich schwache Leistung im Bereich Forschung und Entwicklung (F&E). Der Anteil der Bevölkerung mit Hochschulabschluss in Russland ist im internationalen Vergleich sehr hoch. In der Altersgruppe 25 bis 34 Jahre belegt das Land laut Daten der OECD Platz vier unter den OECD/G-20-Ländern. 55% der Bevölkerung in dieser Altersgruppe verfügen über einen Hochschulabschluss.17 In der Altersgruppe 55 bis 64 Jahre ist Russland sogar auf Platz zwei, knapp hinter Israel. In anderen Auswertungen schneidet Russland allerdings eher unterdurchschnittlich ab: Im Shanghai-Top-500-Ranking werden nur zwei russische Universitäten aufgelistet.18 Die PISA-Studien zeigen zudem, dass die Leistung der russischen 15-jährigen Schüler in allen drei Bereichen Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften signifikant unter dem OECD-Durchschnitt liegt.19
Die schwache Performance im Bildungsbereich kann durch eine Reihe von Faktoren erklärt werden.20 Hierzu gehören etwa die veralteten Bildungsinhalte, die großen regionalen Unterschiede in der Finanzierung, der niedrige Standard des Unterrichts und die niedrigen Gehälter des Lehrpersonals. Zudem kommt eine ausgeprägte Diskrepanz zwischen der Ausbildung und den Anforderungen am Arbeitsmarkt hinzu. Im Ergebnis wird etwa ein Drittel der Hochschulabsolventen in Bereichen beschäftigt, die von dem studierten Fach abweichen.21
Auch im Bereich F&E besteht ein erhebliches Verbesserungspotenzial. Zwar wurden bis 2015 insgesamt 27 russische Forscher und andere Personen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, was das Land an sechste Stelle weltweit setzt.22 Doch die meisten dieser Auszeichnungen wurden bereits in sowjetischen Zeiten erworben oder durch die zu diesen Zeiten getätigten Investitionen ermöglicht. So beliefen sich die Ausgaben für F&E 1990 laut UNESCO-Daten auf 5% des russischen BIP.23 Doch das Budget für F&E wurde in den ersten Jahren der Transformation drastisch gesenkt und schwankt seit 1995 laut Daten der Weltbank um die 1%-Marke (gemessen in % des BIP). Zwar ist diese Zahl vergleichbar mit einigen in dieser Hinsicht rückständigen südeuropäischen Ländern wie Spanien oder Portugal. Doch auch die Zahl der Publikationen in technischen und wissenschaftlichen Zeitschriften weist darauf hin, dass in diesem Bereich ein großes Verbesserungspotenzial besteht – mit knapp 100 Publikationen pro 1 Mio. Einwohner liegt Russland deutlich unter dem weltweiten Durchschnitt von 120 Publikationen und belegt Platz 44 im internationalen Vergleich.24
Die vergleichsweise niedrigen Gehälter und die oft mangelnde Finanzierung im Bereich F&E spielen eine wesentliche Rolle als Erklärung für die unterdurchschnittliche Performance des Sektors. Die Ausstattung ist oft veraltet: 25% der Geräte sind über zehn Jahre alt.25 Der Großteil der Forschung wird staatlich finanziert.26 Dies bietet weniger Anreize für Innovationen und technologischen Fortschritt. In diesen Bereichen hat die russische Regierung bereits ein großes ungenutztes Potenzial erkannt und verschiedene Programme verabschiedet, um die Innovationskraft der russischen Wirtschaft zu steigern. Steuererleichterungen etwa für Einnahmen aus geistigem Eigentum oder für Unternehmen, die in wichtigen F&E-Bereichen wie der Nanotechnologie investieren, sowie die Einrichtung von Technologieparks sollen F&E im privaten Sektor vorantreiben und für mehr Innovationen in der Zukunft sorgen.27 Da viele der Maßnahmen erst vor einigen Jahren beschlossen und umgesetzt wurden, ist eine Evaluierung ihrer Wirksamkeit noch nicht möglich.
Korruption
Eine weitere wichtige Herausforderung für das russische Wachstumsmodell bleibt die weit verbreitete Korruption. Gemessen am Korruptionswahrnehmungsindex belegte das Land 2014 den 136. Platz von insgesamt 175.28 In diesem Korruptionsbarometer werden die Bürger auch zu ihrer Wahrnehmung bezüglich der Korruption in einzelnen Bereichen befragt. Demnach stellt die Korruption ein weit verbreitetes Problem dar. Als besonders korrupt werden im Allgemeinen die Beschäftigten im öffentlichen Sektor (92%) empfunden und hier im Speziellen die Polizei (89%), die Justiz (84%) und das Parlament (83%), aber auch das Gesundheitswesen (75%) und das Bildungssystem (72%). Zudem geben 79% der Befragten an, dass Korruption ein ernsthaftes Problem in ihrem Land ist. Weiterhin ist die Hälfte der Befragten der Meinung, dass sich die Korruption in den vergangenen zwei Jahren (vor 2013, dem Jahr der Befragung) verschlechtert hat.
Die Auswirkungen des korrupten Umfelds in Russland sind vielfältig. Eine Befragung von Führungskräften in 4200 russischen Unternehmen ergab, dass die Korruption die wichtigste geschäftliche Einschränkung darstellt. Eine Studie im Auftrag der Weltbank unter 1000 Unternehmen zeigte, dass die russische Wirtschaft schätzungsweise pro Jahr etwa 316 Mrd. US-$ an Bestechungsgeldern zahlt. Das waren zu dem Zeitpunkt der Befragung etwa 50% des BIP.29 Um das Problem abzumildern, beschloss Präsident Medvedev 2008 den Nationalen Antikorruptionsplan. Es wurden Strafen für Bestechungsdelikte eingeführt und Maßnahmen verabschiedet, um interne Kontrollen durchzuführen. Zwar zeigte die Bekämpfung der Korruption in den ersten Jahren Wirkung und Russland konnte sich von 2010 bis 2013 von Rang 154 auf Rang 127 gemäß dem Korruptionswahrnehmungsindex verbessern (vgl. Abbildung 4). Doch 2014 ist wieder eine Verschlechterung zu verzeichnen. Zudem werden die Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung kaum von der Bevölkerung wahrgenommen: 77% der Befragten im Korruptionsbarometer von Transparency International empfinden die Maßnahmen in dieser Hinsicht als ineffektiv, nur 5% der Befragten geben an, dass sie effektiv sind. Russland bleibt nach wie vor eines der korruptesten Länder weltweit.
Abbildung 4
Korruptionswahrnehmungsindex: Rang Russlands
Quelle: Transparency International, 2016.
Implikationen für die deutsche Wirtschaft
Die strukturellen Schwächen des russischen Wachstumsmodells und die damit verbundenen Herausforderungen hinsichtlich der zukünftigen Wachstumsperspektiven sind auch für die Investitions- und Handelspartner Russlands von großer Relevanz. Für die deutsche Wirtschaft hatte Russland sowohl als Investitionsstandort als auch als Handelspartner bis 2012 stark an Bedeutung gewonnen. Der Bestand unmittelbarer und mittelbarer deutscher Direktinvestitionen im Land ist von 1998 bis 2012 um das 22-Fache gestiegen. Knapp 2% der deutschen Direktinvestitionsbestände im Ausland entfielen 2012 auf Russland. Zudem ist der Anteil des russischen Marktes an den gesamten deutschen Warenexporten kontinuierlich auf 3,3% 2008 gestiegen, von 1,0% 1999 (vgl. Abbildung 5). Nach einer krisenbedingten Unterbrechung hat der Anteil 2012 sogar auf 3,5% zugenommen. Somit stellte Russland 2012 das elftwichtigste Exportzielland für die deutsche Wirtschaft dar. Seit 2012 ist allerdings ein starker Rückgang seines Anteils an den deutschen Warenexporten zu verzeichnen. 2014 gingen nur noch 2,6% der deutschen Warenexporte nach Russland, 2015 waren es sogar lediglich 1,8%.
Abbildung 5
Bedeutung Russlands als Handelspartner
Quellen: Statistisches Bundesamt, 2016; Institut der deutschen Wirtschaft Köln.
Ein ähnliches Bild zeigt sich auch bei den Warenimporten. Von 1998 bis 2012 stieg der Anteil russischer Waren an den gesamten deutschen Warenimporten von 1,8% auf 4,8%. Im Jahr 2012 war Russland auf Platz zehn unter den wichtigsten Importgüterlieferanten Deutschlands. Seitdem wird ein Rückgang des russischen Importanteils verbucht: auf 4,2% (2014) und 3,1% (2015).
Auf der Exportseite sind der Maschinenbau und die Automobilindustrie mit 22,5% und 21,1% die größten Lieferanten von Waren „made in Germany“ für die russische Wirtschaft (vgl. Abbildung 6). Weitere wichtige Exportprodukte für das Russlandgeschäft kommen aus der Chemischen Industrie, dem Bereich Datenverarbeitung, elektrische Ausrüstungen und der Pharmaindustrie. In allen Produktgruppen mit einem Anteil am Russlandexport von mehr als 5% im Jahr 2013 ist bis 2015 ein Rückgang des Ausfuhrwerts zu verbuchen. Im Bereich der Chemischen Erzeugnisse fiel der Rückgang relativ moderat aus. Der Anteil Russlands an den deutschen Exporten von Kraftwagen und Kraftwagenteilen schrumpfte hingegen von 4,0% (2013) auf 1,6% (2015). Auf der Importseite spielen vor allem die Importe von Erdöl und Erdgas, von Kokerei- und Mineralölerzeugnissen sowie von Metallen eine große Rolle, wobei 2013 die Importe von Erdöl und Erdgas knapp 73% der deutschen Importe aus Russland ausmachten (vgl. Abbildung 7). Insgesamt entfielen auf Grundstoffe über 90% der deutschen Warenimporte aus Russland. Der Anteil Russlands an den deutschen Warenimporten sank weniger stark als jener der Exporte. Einem leichten Rückgang bei Erdöl und Erdgas steht eine Zunahme bei den Kokerei- und Mineralölerzeugnissen gegenüber.
Abbildung 6
Deutsche Warenexporte einzelner Branchen
Quellen: Statistisches Bundesamt, 2016; Institut der deutschen Wirtschaft Köln.
Abbildung 7
Deutsche Warenimporte einzelner Branchen
Quellen: Statistisches Bundesamt, 2016; Institut der deutschen Wirtschaft Köln.
Schlussfolgerungen
Die russische Wirtschaft steht vor einer Reihe wichtiger Herausforderungen. Das aktuell niedrige Öl- und Gaspreisniveau dürfte in den kommenden Jahren bestehen bleiben, da es, anders als etwa im Krisenjahr 2009, größtenteils durch angebotsseitige Faktoren wie die zunehmende Nutzung von alternativen Öl- und Gasquellen zustande kam. Dies hat die Einnahmen des russischen Staates verringert und zu einer Verschlechterung der Leistungsbilanz geführt. Der Rubel hat in der zweiten Hälfte des Jahres 2014 innerhalb von wenigen Monaten die Hälfte seines Werts gegenüber dem US-Dollar verloren, was zwar den Effekt des niedrigen Ölpreises etwas abmildert. Doch die starke Abwertung und die Wirtschaftssanktionen haben die Konsumentenpreise in die Höhe getrieben. Die russische Zentralbank hat Ende 2014 versucht, dem Sturz des Rubels entgegenzuwirken. Die Währungsreserven schrumpften im Verlauf des Jahres 2014 um über 20%, der Leitzins wurde im Dezember 2014 von 6,5% auf 17% angehoben. Später wurde der Leitzins sukzessive gesenkt und lag Anfang 2016 bei 11%. Besonders in US-Dollar verschuldete Unternehmen wurden hart von der Rubelabwertung getroffen.
Die aktuelle Wirtschaftslage des Landes verschlechterte sich durch die geopolitische Spannung im Zuge des Ukraine-Konflikts erheblich. Das unsichere Umfeld hat zu einem starken Einbruch der Investitionstätigkeit geführt, sodass die Bruttoinvestitionen in der ersten Jahreshälfte 2015 preisbereinigt um fast ein Drittel unter dem Vorjahreswert lagen. Die Sanktionen der westlichen Handelspartner trugen ebenfalls zu der im Land herrschenden Unsicherheit bei. Zwar wurde deren Auswirkung hier nicht ausführlich analysiert, da sie keine strukturelle Schwäche des russischen Wachstumsmodells darstellen, sondern vielmehr auf die geopolitischen Spannungen zurückzuführen sind. Doch mehrere Studien haben bereits ihren negativen Effekt auf die aktuelle Entwicklung in Russland bestätigt.30 Die ersten Sanktionen wurden im März 2014 nach der Annexion der Krim verhängt und später ausgeweitet. Die Maßnahmen umfassten das Einfrieren von Bankkonten und Vermögenswerten von Personen aus russischen Regierungskreisen, Einschränkungen des Zugangs zu den EU- und US-Finanzmärkten für die großen russischen Banken und Unternehmen im Energiesektor und im Militärbereich sowie ein Exportverbot für die technische Ausstattung dieser Bereiche.31 Als Antwort verhängte die russische Regierung ein Importverbot für Agrarprodukte und Nahrungsmittel von den westlichen Handelspartnern. Im November 2014 hat der russische Finanzminister Anton Siluanov die Kosten des niedrigen Ölpreises und der Wirtschaftssanktionen auf etwa 130 Mrd. US-$ bis 140 Mrd. US-$ pro Jahr (etwa 7% des russischen BIP) geschätzt, wobei 90 Mrd. US-$ bis 100 Mrd. US-$ aus den gesunkenen Öleinnahmen resultieren (gerechnet mit 80 US-$ pro Barrel) und weitere 40 Mrd. US-$ aus den Wirtschaftssanktionen.32 Bei einem niedrigeren Ölpreis dürften die Kosten noch höher ausfallen.
Die künftigen Wachstumsperspektiven des Landes hängen entscheidend von dem Reformwillen der russischen Regierung ab. Damit das Land zurück auf den Wachstumspfad aus der Vorkrisenzeit gelangen kann, müssen weitere Maßnahmen zur Behebung der strukturellen Schwächen der russischen Wirtschaft in Gang gesetzt werden. Dazu gehören mehr Entschlossenheit bei der Bekämpfung der Korruption, die weitere Liberalisierung der Märkte, Privatisierung, sowie eine veränderte Anreizstruktur, um F&E im Privatsektor zu fördern. Die Infrastruktur erfordert weitere Investitionen. Hinsichtlich des Rechtssystems und der Korruptionsbekämpfung sind weitere Fortschritte nötig, um die Attraktivität für in- und ausländische Investoren zu steigern. Die Wirtschaftspolitik sollte die Transformation von einer ressourcenbasierten zu einer innovativen Ökonomie fördern und die entsprechenden Anreize für die Transformation gezielt setzen.
- 1 Vgl. G. Kolev: Strukturelle Schwächen der russischen Wirtschaft, IW-Report, Nr. 3/2016, Köln 2016.
- 2 Vgl. Energy Information Administration, http://www.eia.gov/cfapps/ipdbproject/IEDIndex3.cfm?tid=5&pid=53&aid=1 (12.2.2016).
- 3 Vgl. M. Russel: The Russian Economy. Will Russia Ever Catch Up?, European Parliamentary Research Service, 2015.
- 4 Vgl. M. Grömling, G. Kolev, J. Matthes: Auswirkungen des Energiepreisverfalls auf den deutschen Außenhandel, Gutachten für den Aussenhandelsverband für Mineralöl und Energie und für die Mittelständische Energiewirtschaft Deutschland, Köln 2015.
- 5 Vgl. OECD: OECD Economic Surveys: Russian Federation 2013, Paris 2014.
- 6 Vgl. ebenda.
- 7 Vgl. R. Beck, A. Kamps, E. Mileva: Long-Term Growth Prospects for the Russian Economy, ECB Occasional Paper Series, Nr. 58, Frankfurt a.M. 2007; V. Mironov, A. Petronevich: Discovering the signs of Dutch disease in Russia, BOFIT Discussion Papers, Nr. 3, Helsinki 2015.
- 8 Vgl. N. Oomes, K. Kalcheva: Diagnosing Dutch Disease: Does Russia
Have the Symptoms?, IMF Working Paper, Nr. 7/102, Washington DC 2007. - 9 Vgl. V. Mironov, A. Petronevich, a.a.O.
- 10 Vgl. D. Medvedev: Go Russia!, http://en.kremlin.ru/events/president/news/5413 (3.2.2016).
- 11 Vgl. European Bank for Reconstruction and Development (EBRD),
http://www.ebrd.com/what-we-do/economic-research-and-data/
data/forecasts-macro-data-transition-indicators.html (12.2.2016). - 12 Vgl. J. Tseplyaeva, Y. Yeltsov: Russia: The land of the bountiful giants, BNP Paribas, http://www2.deloitte.com/content/dam/Deloitte/ru/
Documents/finance/report_bnp.pdf (4.1.2016). - 13 Vgl. ebenda.
- 14 Vgl. World Economic Forum, http://www3.weforum.org/docs/WEF_GlobalCompetitivenessReport_2014-15.pdf (4.1.2016).
- 15 Vgl. OECD: OECD Economic Surveys: Russian Federation 2011, Paris 2011.
- 16 Vgl. D. Gagliardi et al.: A Recovery on the Horizon?, Annual Report on European SMEs 2012/2013, Bericht im Auftrag der Europäischen Kommission, Brüssel 2013.
- 17 Vgl. OECD: Country Note – Russian Federation, Education at a Glance, Paris 2012.
- 18 Vgl. Shanghai-Top-500-Ranking, http://www.shanghairanking.com/de/ARWU2015.html (4.1.2016).
- 19 Vgl. OECD: PISA 2012 – Ergebnisse im Fokus, Paris 2013.
- 20 Vgl. C. Amini, S. Commander: Educational Scores: How Does Russia Fare?, IZA Diskussionspapier, Nr. 6033, Bonn 2011.
- 21 Vgl. Rosstat, http://www.gks.ru/bgd/regl/b13_30/Main.htm (4.1.2016).
- 22 Vgl. The Official Web Site of the Nobel Prize, http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/country-birth-map/map.php (4.1.2016).
- 23 Vgl. M. Schaffer, B. Kuznetsov: Productivity, in: R. M. Desai, I. Goldberg: Can Russia Compete?, 2008, S. 12-34.
- 24 Vgl. Weltbank, http://data.worldbank.org/indicator (12.2.2016).
- 25 Vgl. UNESCO: Science Report 2010.
- 26 Vgl. M. Schaffer, B. Kuznetsov, a.a.O.
- 27 Vgl. M. Russell, a.a.O.
- 28 Vgl. Transparency International, https://www.transparency.org/cpi2014 (12.2.2016).
- 29 Vgl. Information Science for Democracy Foundation, 2005, Corruption process in Russia: level, structure, trends, http://www.indem.ru/en/publicat/2005diag_engV.htm (15.2.2016).
- 30 Vgl. V. Golikova, B. Kuznetsov: Perception of risks associated with economic sanctions: The case of Russian manufacturing, National Research University Higher School of Economics Working Paper, WP BRP 115/EC/2015, Moskau 2015; A. Shirov, A. Yantovskii, V. Potapenko: Evaluation of the Potential Effect of Sanctions on the Economic Development of Russia and the European Union, in: Studies on Russian Economic Development, 26. Jg. (2015), Nr. 4, S. 317-326.
- 31 Vgl. M. Russell, a.a.O.
- 32 Vgl. Reuters, http://www.reuters.com/article/us-russia-siluanov-idUSKCN0J80GC20141124 (4.1.2016).