Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Vor einem Jahr legten die Präsidenten von fünf Organen der EU einen Bericht zur Vollendung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion vor. Die daraus folgenden Empfehlungen müssten allerdings mit allen betroffenen wirtschaftspolitischen Akteuren diskutiert werden. Daher schlägt der Autor vor, den bestehenden Makroökonomischen Dialog, an dem die Vertreter der EU-Gremien und der Spitzenorganisationen der Sozialpartner beteiligt sind, auf die Ebene der Eurozone und die nationale Ebene auszudehnen.

Die Krise in der Eurozone wurde durch massive Divergenzen in der Binnendynamik, der Wettbewerbsfähigkeit und der Leistungsbilanz zwischen den Mitgliedstaaten verursacht. Als eine entscheidende Größe wurde die Auseinanderentwicklung der nominalen Lohnstückkosten identifiziert.1 Diese waren schon in den Anfängen der wirtschaftspolitischen Koordinierung Adressat von Empfehlungen im Rahmen der „Grundzüge der Wirtschaftspolitik“. Demnach sollten sich die Nominallöhne an der Produktivität plus Inflationsrate orientieren. Wie die Entwicklung seit Beginn der Eurozone gezeigt hat, wurde diese Regel im Durchschnitt der Eurozone sogar weitgehend eingehalten, nicht aber in jedem Mitgliedstaat. Einige Mitgliedstaaten überschossen das Preisziel der Europäischen Zentralbank (EZB) teilweise massiv, andere unterschossen es ähnlich massiv mit den bekannten Folgen.2 Zur Lösung der Eurokrise wurde eine spiegelbildliche Entwicklung gefordert: Die überschießenden Mitgliedstaaten sollen ihre Lohnstückkosten unterhalb des Preisziels der EZB halten oder sogar senken. Die unterschießenden Mitgliedstaaten sollten das Preisziel zumindest einhalten, am besten für einige Jahre sogar deutlich überschießen.

Auch um einen übermäßigen Anstieg der Lohnstückkosten zu verhindern, hat die Europäische Union (EU) 2011 die Verordnung über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte (VMU) beschlossen. Ausgehend von einer Definition von Ungleichgewichten und übermäßigen Ungleichgewichten richtete sie einen Warnmechanismus in Form eines Scoreboard zur quantitativen Überprüfung anhand mehrerer Indikatoren, darunter die Lohnstückkosten, ein. Neben Präventionsmaßnahmen enthält die Verordnung ein Verfahren bei einem übermäßigen Ungleichgewicht. Die Kommission erstellt über die Anwendung der VMU einen Bericht und legt ihn im Rahmen des Europäischen Semesters dem Europäischen Parlament (EP) und dem Rat vor. Zur Durchsetzung der VMU sieht eine weitere Verordnung Sanktionen vor. Darüber hinaus ist ein fakultativer Wirtschaftlicher Dialog über einzelne Elemente der wirtschaftspolitischen Koordinierung und Überwachung zwischen Europäischem Parlament, Rat und Eurogruppe vorgesehen.

Der Bericht der fünf Präsidenten

Im Juni 2015 legten die Präsidenten von fünf Organen der EU einen Bericht zur Weiterentwicklung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion bis spätestens 2025 vor.3 Er beschreibt zwei Stufen auf dem Weg zu einer vollständigen Wirtschafts- und Währungsunion. Inhaltlich geht es um die Schaffung einer Wirtschafts-, Finanz-, Fiskal- und politischen Union, letztere mit demokratischer Rechenschaftspflicht, mehr Legitimität und institutioneller Stärkung. Wohl auch als Reflex auf die schädlichen Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten ist im Rahmen der Wirtschaftsunion Konvergenz das überwölbende Ziel. Der Bericht sieht in der ersten Stufe von Juli 2015 bis Juni 2017 ein euroraumweites System zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit vor. Weitere „Säulen“ sind die konsequente Umsetzung des Verfahrens bei makroökonomischen Ungleichgewichten, die Fokussierung auf Beschäftigung und Soziales sowie eine engere Koordinierung der Wirtschaftspolitik mit einem neu gestalteten Europäischen Semester.

Das Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten soll mit seiner korrektiven Komponente auch Strukturreformen fördern. Der Euroraum soll insgesamt und stärker als bisher Länder mit hohen und anhaltenden Leistungsbilanzüberschüssen einbeziehen. Die Fokussierung auf Beschäftigung und Soziales enthält ein gutes, effizientes und faires Funktionieren von Arbeitsmärkten und Sozialsystemen, aber auch den Zugang zu angemessenen Bildungsmöglichkeiten sowie einen Mindestsockel sozialer Schutzrechte für die schwächsten Mitgliedstaaten. Nationale Arbeitsmärkte sollen besser integriert, nationale Sozialsysteme besser koordiniert werden. Die engere wirtschaftspolitische Koordinierung sieht klarere länderspezifische Empfehlungen mit dem Schwerpunkt auf Reformen, eine Rechenschaftspflicht für deren Umsetzung, eine bessere Verzahnung der europäischen und nationalen Komponente sowie die Vorgabe von langfristigen Zielen vor. Während sich die drei letztgenannten Elemente innerhalb des bisherigen institutionellen Rahmens bewegen, ist das euroraumweite System zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit mit der Einrichtung neuer Gremien verbunden.

Der Bericht empfiehlt, dass jeder Euro-Mitgliedstaat eine nationale Stelle einrichtet, die dessen Wettbewerbsfähigkeit überwacht. Die Stelle soll unabhängig sein und „… beurteilen, ob die Löhne sich entsprechend der Produktivität entwickeln“ und Vergleiche „mit den Entwicklungen in anderen Ländern des Euro-Währungsgebiets und in den wichtigsten vergleichbaren Handelspartnerländern“ anstellen, wie zum Teil schon im Rahmen des „Euro-Plus-Pakts“ vereinbart. Die Arbeit dieser Stellen soll durch die Kommission jährlich koordiniert und „in einem euroraumweiten System zusammengebracht werden“. Die Ergebnisse sollen im Rahmen des Europäischen Semesters, im Jahreswachstumsbericht und der VMU berücksichtigt werden. Es wird keine grenzüberschreitende Harmonisierung der Lohnfindung angestrebt. Nationale Akteure wie die Sozialpartner sollen – den etablierten Praktiken entsprechend – auch weiterhin ihre Aufgaben wahrnehmen. Die Einrichtungen sollen demokratisch rechenschaftspflichtig und in ihrer Tätigkeit unabhängig sein. Die Stellungnahmen dieser Einrichtungen sollen bei Tarifverhandlungen als Richtschnur dienen.

Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes

Der DGB hat sich in einer ersten Stellungnahme vom 26.8.2015 ausführlich mit dem Bericht der fünf Präsidenten auseinandergesetzt.4 Er begrüßt ausdrücklich die Forderung einer effektiven wirtschaftspolitischen Koordination in Europa. Allerdings stellt er eigene Kriterien für eine Economic Governance auf, die der Bericht nach Meinung des DGB nicht erfüllt. Lohnsenkungen und eine Schwächung der öffentlichen Nachfrage seien die falsche Antwort. Schon der Euro-Plus-Pakt ermögliche Eingriffe in das Tarifsystem dadurch, dass die Mitgliedstaaten die Lohnbildungsverfahren überprüfen und gegebenenfalls dezentralisieren sollen. Auch das bestehende Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten wird generell als asymmetrisch zugunsten der Überschussländer und speziell als Schwächung der Lohnentwicklung kritisiert.

Massiv wird die Kritik des DGB gegenüber den nationalen Stellen. Sie richtet sich vor allem darauf, dass

  • die Stellungnahmen dieser nationalen Stellen als Richtschnur für die Tarifverhandlungen dienen sollen,
  • dieser Prozess bei den Löhnen in einen Wettlauf nach unten einmünden kann,
  • zumindest unklar bleibt, ob es die Reallöhne oder lediglich die Nominallöhne sind, die im Einklang mit der Produktivität stehen sollen,
  • eine Korrektur der aktuellen Einkommensverteilung zugunsten der Arbeitnehmer über die Lohnpolitik durch diese Regel auf jeden Fall verhindert wird,
  • die Lohnstückkostenentwicklung oft unterhalb der Preisentwicklung verblieben ist und so lediglich die Gewinne erhöht wurden und nicht die preisliche Wettbewerbsfähigkeit in dem Maße, wie von den Lohnstückkosten her angelegt,
  • eine Fokussierung auf die Wettbewerbsfähigkeit durch Lohnmoderation den Vorteil einer starken Binnennachfrage zugunsten von Exportüberschüssen opfert und so rezessive Tendenzen und neue Divergenzen fördert,
  • die Lohnentwicklung nicht nur Ursache ist, sondern auch von anderen gesamtwirtschaftlichen Größen abhängt,
  • neue bürokratische Gremien entstehen, die sich in die Aufgaben der Sozialpartner einmischen.

Stattdessen fordert der DGB eine Stärkung der Tarifautonomie, der Tarifbindung und der Einrichtung von Flächentarifverträgen. Zudem müssten soziale Indikatoren wie z.B. zur Einkommens- und Vermögensverteilung in die wirtschaftspolitische Bewertung innerhalb der Verfahren aufgenommen werden.

Mitteilung der Kommission

Die Mitteilung der Kommission vom 21.10.2015 hat den Bericht der fünf Präsidenten präzisiert.5 Dies betrifft insbesondere das Europäische Semester, die Economic Governance, die Außenvertretung der Eurozone, die Finanzmarktdimension sowie die demokratische Legitimation. Ein wesentliches Element ist die Neustrukturierung des Europäischen Semesters. Schon aus dem Bericht der fünf Präsidenten ist eine klare Zweiteilung des Zeitraums November bis Juli in Eurozonenebene (November bis Februar) und nationale Ebene (März bis Juli) ersichtlich. Hier geht es vor allem darum, die nationale Verantwortlichkeit für die Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen zu stärken. Diese sollen auf die Bereiche der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und die soziale Dimension konzentriert werden sowie die nationale Ebene und die der Eurozone besser verzahnen.6 Letzteres bezieht sich vor allem auf die Auswirkung der aggregierten nationalen Fiskalpolitiken in der Eurozone. Ferner wurde die Zahl der Indikatoren der VMU um die Beschäftigungsquote sowie um die Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit erhöht. Makroökonomische Anpassung soll bei den Anpassungsprogrammen die soziale Fairness beachten. Zudem soll der Austausch mit den Sozialpartnern intensiviert werden.

Verbesserungen innerhalb des „Werkzeugkastens“ der Economic Governance zielen auf eine generelle Reduzierung der Komplexität, von den Fiskalregeln bis zur VMU. So sollte sich die Übereinstimmung mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt an einem einzigen Indikator messen lassen. Im Bereich der VMU will die Kommission die Regularien in einem Kompendium zusammenführen und eine differenzierte und gleichgewichtigere Behandlung von Defizit- und Überschussländern erreichen. Entsprechend dem Bericht der fünf Präsidenten werden ein System nationaler Wettbewerbsstellen und ein beratender Europäischer Fiskalausschuss vorgeschlagen und beschrieben.

Diese Maßnahmen im Bereich der Economic Governance sollen – zusammen mit Verbesserungen bei der Außenvertretung der Eurozone, der Finanzmarktdimension und der demokratischen Legitimation – den Weg zur Stufe 2 bereiten mit dem Ziel, die wirtschaftliche und institutionelle Architektur der Eurozone zu vollenden. Hierzu will die Kommission ein Weißbuch in Abstimmung mit allen Beteiligten 2017 veröffentlichen. Mitte 2016 soll eine Expertengruppe eingerichtet werden, die sich mit den vertraglichen, wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen der Verwirklichung der Ziele des Berichts der fünf Präsidenten befasst.

Empfehlung der Kommission

Gleichzeitig hat die Kommission empfohlen, eine Empfehlung des Rats zur Einrichtung von nationalen Ausschüssen für die Wettbewerbsfähigkeit zu verabschieden.7 Ziel ist der Aufbau von nationalen Ausschüssen in der Eurozone, um Entwicklung und Politik im Bereich der Wettbewerbsfähigkeit zu überwachen. Die Überwachung erstreckt sich kurzfristig auf Faktoren, die Preise und Qualität von Gütern und Dienstleistungen – einschließlich Arbeitskosten – im Vergleich zu globalen Konkurrenten beeinflussen, langfristig auf Produktivität und Innovation als Determinanten für die Standort­attraktivität. Weiter sollen sie relevante Informationen für den Lohnfindungsprozess geben. Das Mandat adressiert darüber hinaus die Überwachung, Bewertung sowie Politikempfehlungen im Bereich der Wettbewerbsfähigkeit, auch für die Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen.

Die Ergebnisse der Überwachung sollen in einem jährlichen Bericht zusammengefasst und veröffentlicht werden. Zwischen den nationalen Stellen der Mitgliedstaaten und mit der Kommission soll eine Koordinierung auch mit Blick auf den gesamten Euroraum stattfinden. Hierfür sollen Kontakte im Vorfeld der Jahresberichte und Vor-Ort-Prüfungen dienen. Der jeweilige Ausschuss soll unabhängig sein und über ausreichende Kapazitäten für seine Aufgaben verfügen. Er soll alle Beteiligten konsultieren einschließlich der Sozialpartner, ohne in den Lohnfindungsprozess oder andere Bereiche tariflicher Autonomie einzugreifen. Nach Auffassung der Kommission verfügen einige Länder schon über geeignete Strukturen, auf die sich ein nationaler Ausschuss aufbauen lässt. Für Deutschland werden z.B. der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung oder die (Institute der) Gemeinschaftsdiagnose genannt.

Verbesserungen durch vorgesehene Maßnahmen

Die Zweiteilung des Europäischen Semesters ist hilfreich für das Zusammenspiel der europäischen und nationalen Ebene, bedingt aber auch eine Beschleunigung der bisherigen Verfahren, nicht zuletzt wegen der Einfügung neuer Elemente insbesondere bilateraler Konsultationen. Aus konzeptioneller Sicht stellt die Fokussierung der länderspezifischen Empfehlungen auf makroökonomische und soziale Inhalte einen Fortschritt dar. Das gilt auch für die bessere Verzahnung der europäischen und nationalen Ebene. Solange es an stärkeren wirtschaftspolitischen Strukturen und Institutionen auf der Ebene der Eurozone fehlt, muss die Aufmerksamkeit umso mehr auf die Stimmigkeit der nationalen Politiken und ihres Aggregats im Rahmen der Eurozone gelegt werden.

Positiv zu werten ist auch die stärkere Berücksichtigung der makroökomischen Dimension. Einerseits sollen Strukturreformen nicht mit schädlichen makroökonomischen Entwicklungen einhergehen, wie sie bei bisherigen Anpassungsprogrammen drastisch zutage getreten sind. Andererseits soll die Wirkung von Strukturreformen nicht durch eine unzureichende gesamtwirtschaftliche Entwicklung vermindert oder verhindert werden.8 Eine Verbesserung ist auch in der Erweiterung der VMU um beschäftigungspolitische Indikatoren zu sehen. Hierdurch erhält die VMU eine stärker binnenwirtschaftliche Ausrichtung. Mitgliedstaaten mit starken Überschüssen in der Leistungsbilanz stärker einzubeziehen, mindert zumindest die bisherige grundlegende Asymmetrie. Mit dem Entwurf der Empfehlung zur Einrichtung von nationalen Ausschüssen für die Wettbewerbsfähigkeit will die Kommission Institutionen und Verfahren in dem Bereich schaffen, der wesentlich zur Entstehung von überschießenden Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten und damit zur Krise der Eurozone beigetragen hat. Wie der Bericht der fünf Präsidenten verweist die Empfehlung auf die zentrale Rolle von Preis- und Lohnentwicklung in den Mitgliedstaaten. Deren Überwachung litt seit Beginn der Eurozone ebenso unter falscher Hoffnung von Rat und Kommission auf marktmäßige Korrekturen von schädlichen Divergenzen wie unter fehlenden makroökonomischen Steuerungs- und Kontrollstrukturen in den Mitgliedsländern und in der Eurozone. Mit der Einrichtung von nationalen Stellen soll zumindest das institutionelle Defizit ausgeglichen werden. Voraussetzung dafür sind allerdings Kompetenz und Unabhängigkeit dieser Ausschüsse, wie in der Empfehlung zu Recht gefordert. Konsequent ist auch der Abgleich der nationalen Entwicklungen und des daraus resultierenden Aggregats nach Vorlage der nationalen Berichte auf EU-Ebene. Die Ergebnisse können ein wertvoller Input für das Europäische Semester insgesamt sowie den Jahreswachstumsbericht, die VMU und die finalen länderspezifischen Empfehlungen sein.

Schlüssig ist die angekündigte Stärkung der Rolle der Sozialpartner. Wie schon bei früheren Gelegenheiten – z.B. in der VMU – wird auch in den Erwägungsgründen der Empfehlung die Tarifautonomie gemäß Art. 152 EUV und Art. 28 der Grundrechtecharta der EU hervorgehoben. Das sollte sich einerseits von selbst verstehen, ist andererseits bei einer Empfehlung, die auch und primär die Überwachung von Preis- und Lohnentwicklung zum Gegenstand hat, besonders geboten. Die Sozialpartner sollen generell stärker in die bestehenden und neuen Verfahren – wie z.B. das Europäische Semester, die Nationalen Reformprogramme und die VMU – einbezogen werden. Der Bericht der fünf Präsidenten stellt hier einen neu aufzunehmenden dreigliedrigen Sozialgipfel und Makrodialog für die Eurozone in Aussicht. Im Rahmen der neuen Empfehlung sollen die Sozialpartner vor allem regelmäßig konsultiert werden.

Mängel und Defizite

Nach wie vor verbleiben jedoch auch unter der vorgeschlagenen Verbesserung der Economic Governance Mängel und Defizite. Die strukturelle Asymmetrie in der VMU, d.h. die ungleiche Behandlung von Defizit- und Überschussländern generell und in einzelnen Indikatoren des Scoreboard speziell besteht weiter. Dasselbe gilt für grundlegende methodische Defizite des Verfahrens. Die Ratsempfehlung zur Einrichtung von nationalen Ausschüssen für die Wettbewerbsfähigkeit richtet sich in der kurzen Frist schwerpunktmäßig auf die außenwirtschaftliche Dimension. Für große Volkswirtschaften ist aber der Wachstumsbeitrag der Binnenwirtschaft mehrfach höher.

Die Rolle der Sozialpartner bleibt zwiespältig. Einerseits weist ihnen neben der VMU auch die Empfehlung ein stärkeres Gewicht zu. Sie sollen Ansprechpartner sein und Verantwortung für die Lohnentwicklung übernehmen. Das können sie aber nur, wenn Sozialpartner als gesamtwirtschaftlich wirksame Akteure überhaupt vorhanden sind. Andererseits sprechen sich Kommission und Rat im Euro-Plus-Pakt offensichtlich für eine Dezentralisierung des Lohnfindungsprozesses aus.9 Ähnliches gilt für die Behandlung der Sozialpartner und der Lohnfindung in den bisherigen Programmstaaten. Bei stärkerer Dezentralisierung gäbe es makroökonomisch relevante und verantwortliche Sozialpartner erst gar nicht, und der Ruf nach Konsultation und Einbeziehung wäre ein Ruf ins Leere. Auch die wiederholte Beteuerung, nicht in die Tarifautonomie einzugreifen, gewinnt dadurch nicht an Glaubwürdigkeit.10 Zwar findet sich die Formulierung im Bericht der fünf Präsidenten, dass die Stellungnahmen der Ausschüsse bei Tarifverhandlungen als Richtschnur dienen sollten, in der Empfehlung so nicht mehr. An ihre Stelle tritt jedoch die Forderung, als Faktor der Wettbewerbsfähigkeit auch die Arbeitskosten zu überwachen. Diese Forderung gewinnt dadurch an Gewicht, dass als separate zweite und eigene Aufgabe im Lastenheft der Ausschüsse gefordert wird: „Bereitstellung einschlägiger Informationen für die Lohnbildungsprozesse auf nationaler Ebene“. Beides zusammengenommen kann den Eindruck erwecken, dass die Kommission eine Verbesserung der (preislichen) Wettbewerbsfähigkeit schwerpunktmäßig zumindest auch von einer Anpassung der Entwicklung der Lohn- und Lohnstückkosten nach unten erwartet. Die Gefahr eines Lohnsenkungswettbewerbs ist dann nicht mehr fern.

Schließlich und vor allem bleibt es nach wie vor bei einer separaten Betrachtung und Behandlung – bis hin zur Auslassung – wirtschaftspolitisch zusammengehöriger Teilbereiche. Die Fiskalpolitik wird im Stabilitäts- und Wachstumspakt und Fiscal Compact behandelt, die makroökonomischen Ungleichgewichte in der VMU und die Wettbewerbsfähigkeit in der Empfehlung. Die Rolle von Geld- und Währungspolitik wird über Art. 127 AEUV hinaus nicht weiter thematisiert. Die Rolle von Wettbewerbsintensität und Monopolgrad, die für den Zusammenhang zwischen Löhnen bzw. Lohnstückkosten und Preisen und damit für die Einkommensverteilung und -verwendung zentral ist, bleibt ausgeklammert. Weiterhin werden makroökonomische Wirkungszusammenhänge und Standortpolitik in Gestalt von Strukturreformen miteinander vermischt. Deutlich wird dies insbesondere bei Arbeitsmarkt und Beschäftigung. Einer solchen partiell-disjunkten Sicht fehlt auch die Erkenntnis, dass z.B. die Lohnentwicklung – selbst auch bei kollektiver Lohnfindung – nicht nur Ursache, sondern auch Ergebnis des gesamten makroökonomischen Policy-Mix ist.11

Eine bessere wirtschaftspolitische Überwachung

Wettbewerbsfähigkeit und Binnendynamik

Einige Mängel und Defizite lassen sich schneller beheben, andere sind grundsätzlicher Natur. Bei der VMU kann man relativ leicht eine Symmetrie zwischen den Ober- und Untergrenzen der Indikatoren herstellen. Konzeptionelle Mängel bedürfen dagegen einer gründlichen Analyse und Beseitigung.12 Hier soll dagegen auf die empfohlene Einrichtung von nationalen Ausschüssen für die Wettbewerbsfähigkeit näher eingegangen werden. Diese zielt primär auf den Außenbeitrag. Wenn, wie im Bericht der fünf Präsidenten offengelassen, die Nominallöhne in ihrer Entwicklung der Produktivität entsprechen, bleiben die nominalen Lohnstückkosten konstant. Entwickeln sich die Preise wie die nominalen Lohnstückkosten, wird dieser Zusammenhang oft auch als Goldene Regel der Lohnentwicklung bezeichnet. In einer Währungsunion entsprechen dann die nominalen Lohnstückkosten dem realen Wechselkurs. Bleibt – bei unverändertem Verhalten der Handelspartner – der reale Wechselkurs aufgrund der Regel konstant, bleibt auch die preisliche Wettbewerbsfähigkeit unverändert. Insbesondere treten keine überschießenden Divergenzen auf.

Bei dieser außenwirtschaftlichen Betrachtung gerät aus dem Blick, dass die Entwicklung der nominalen, aber auch der realen Lohnstückkosten genauso die Binnennachfrage beeinflusst, die bei größeren Volkswirtschaften ein mehrfach höheres Gewicht für das Wachstum hat als der Außenbeitrag. Wenn die nominalen Lohnstückkosten und das Preisniveau konstant bleiben, ändert sich die Einkommensverteilung nicht. Konstanz der Einkommensverteilung bedeutet aber – bei unveränderter gesamtwirtschaftlicher Sparquote – eine tendenziell gleichbleibende Aufteilung des Einkommens in Sparen und Konsum, damit auch relative Stabilität der Binnennachfrage und der Importe. Unter den zuvor getroffenen Annahmen ist Konstanz der Wettbewerbsfähigkeit dann außenwirtschaftlich der preisliche Ausdruck der Produktivitätsorientierung der Nominallöhne, stabile Importe sind der mengenmäßige Ausdruck der Produktivitätsorientierung der Reallöhne.

Die Goldene Regel kann folgendermaßen verletzt werden: Weicht z.B. die Preisentwicklung in einem Mitgliedstaat gegenüber einer stabilen Preisentwicklung in den anderen Mitgliedstaaten nach oben ab, sind Verluste bei der preislichen Wettbewerbsfähigkeit nach außen sowie ein relativ niedrigerer Realzins – und damit eine stärkere Binnennachfrage und Importe – die Folge, beides mit additiver Wirkung auf eine relative Passivierung der Leistungsbilanz. Wird das Preisstabilitätsziel zwar von allen eingehalten, aber liegt die Preisentwicklung in einem Mitgliedstaat unter dem Anstieg der nominalen Lohnstückkosten, d.h. verbessert sich dort die Einkommensverteilung zugunsten der Löhne, dann kann es zu einer Stärkung der Binnennachfrage und der Importe kommen, was auch zu einer Passivierung der Leistungsbilanz führt. Kommen beide zuvor beschriebenen Effekte zusammen, fällt die Passivierung der Leistungsbilanz entsprechend stärker aus.13

Mit Blick auf die gesamtwirtschaftliche Dynamik kommt es deshalb bei der Goldenen Regel vor allem auf die Binnenwirtschaft an. Im Ergebnis sollten sowohl die Zielsetzung als auch die Bezeichnung der Ausschüsse dem Rechnung tragen und ein entsprechend breiteres Überwachungsmandat erhalten. Dazu gehört ausdrücklich auch, die Überwachung der Wettbewerbsintensität und bisher separat behandelte Regelungen wie z.B. der Stabilitäts- und Wachstumspakt oder die VMU – gegebenenfalls durch geeignete Reformen – in ihren gesamtwirtschaftlichen Kontext zu stellen und daran auszurichten.

Rolle der Sozialpartner

Verbesserungsbedürftig ist vor allem die Rolle der Sozialpartner bei der Überwachung. Die Lohnentwicklung beeinflusst entscheidend sowohl Wettbewerbsfähigkeit als auch Binnendynamik. Gleichzeitig betonen und wiederholen alle speziellen Regelungen der Economic Governance die in den Verträgen und der Charta festgeschriebene Autonomie der Sozialpartner, insbesondere die Wahrung der Tarifautonomie. Damit werden Kompetenz und Verantwortung für Lohnpolitik und -entwicklung nach wie vor als in den Händen der Sozialpartner liegend angesehen. Angesichts dieses Einflusses auf Ziele und Ergebnisse der Wirtschaftspolitik kann es nicht genügen, die Sozialpartner im Rahmen der speziellen und generellen Überwachung der wirtschaftlichen Entwicklung nur konsultativ einzubeziehen. Wenn die Sozialpartner Politik verantworten sollen, müssen sie als makroökonomische Akteure auf Augenhöhe mit Geld- und Fiskalpolitik auch direkt an der Gestaltung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Politik beteiligt werden.

Die Sozialpartner beeinflussen aber über die Lohnpolitik nicht nur die gesamtwirtschaftliche Politikausrichtung und -entwicklung, sondern werden in ihren Zielen und Ergebnissen von dieser auch selbst beeinflusst. Denn sie entscheiden in ihren Tarifverhandlungen nur über nominale Tariflöhne; die Entwicklung der nominalen Effektivlöhne liegt schon nicht mehr allein in ihrer Hand. Schon gar nicht gilt das für die Reallöhne, die nominalen Lohnstückkosten oder gar die realen Lohnstückkosten, die am Ende über die Einkommensverteilung bestimmen. Insofern sind die Sozialpartner aktive und passive Beteiligte am gesamtwirtschaftlichen Policy-Mix, auf einer Ebene und im Zusammenspiel mit Geld- und Währungs- sowie Fiskalpolitik. Dies ist auch deshalb zielgerecht, weil kein Instrument in Bezug auf sein eigenes Ziel autark und in Bezug auf die Ziele der jeweils anderen Instrumente neutral ist. Der Europäische Rat hat konsequenterweise dieser wechselseitigen Interdependenz durch die Einrichtung des Makroökonomischen Dialogs der EU 1999 Rechnung getragen. Unter Wahrung ihrer Unabhängigkeit und Autonomie diskutieren Vertreter des Rates, der Kommission, der EZB und der Nicht-Euro-Notenbanken sowie der Spitzenorganisationen der europäischen Sozialpartner zweimal jährlich über die Lage und Perspektiven der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, identifizieren die wirtschaftspolitischen Herausforderungen und tauschen sich darüber aus, was der eigene Beitrag sein kann und was sie von den jeweils anderen Akteuren zur Bewältigung der Herausforderungen erwarten. Der Makroökonomische Dialog auf politischer Ebene wird durch ein entsprechendes Gremium auf technischer Ebene vorbereitet.

Makroökonomischer Dialog auf der Ebene der Eurozone

Die Eurozone bedarf wegen der gemeinsamen Geld- und Währungspolitik einer erhöhten Koordinierung. Das hat zuletzt die Krise deutlich gezeigt, war aber schon vor und nach Beginn der Eurozone offensichtlich.14 Leider hat der wissenschaftliche Mainstream zu lange an seinem Glauben an eine Korrektur von schädlichen Divergenzen durch die Marktkräfte festgehalten. Die politisch Verantwortlichen haben erst durch die Krise belehrt Konsequenzen durch eine verstärkte Überwachung in Form der VMU und nun der Wettbewerbsfähigkeit gezogen. Um dem erhöhten Koordinierungsbedarf nicht nur bei der Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch bei der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Rechnung zu tragen, ist die Einrichtung eines Makroökonomischen Dialogs auf der Ebene der Eurozone, wie auch von den fünf Präsidenten angeregt, unabdingbar.15

Seine Teilnehmer sollten annähernd dieselben wie die des Makroökonomischen Dialogs auf EU-Ebene sein. Seine Aufgaben sollten jedoch um die speziellen zusätzlichen Koordinierungsnotwendigkeiten der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion angereichert werden, wie sie sich aus der VMU und der vorgesehenen Überwachung der Wettbewerbsfähigkeit ergeben. Entscheidend ist, dass die partiellen Verfahren zur Überwachung von makroökonomischen Ungleichgewichten, der Wettbewerbsfähigkeit, aber auch von Defiziten und Schulden in den Kontext und die Förderung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und eines spannungsfreien, dynamischen Zusammenspiels ihrer Akteure gestellt werden. Dazu bedarf es nicht unbedingt einer neuen Institution. Zu überlegen wäre, die Eurogruppe, an der auch der Präsident der EZB teilnimmt, z.B. zweimal jährlich im informellen Rahmen eines Dialogs um die Sozialpartner als Teilnehmer zu erweitern.

Für den Fall, dass an den geplanten Ausschüssen festgehalten wird, ist zu erwarten, dass ihre einzelnen nationalen Berichte zu einem die Eurozone umfassenden Bericht auf rein technischer Ebene vor Erstellung des Jahreswachstumsberichts zusammengeführt werden. Denn die Kommission will sie für das Europäische Semester und das Verfahren im Rahmen der VMU nutzen. Die Zusammenführung muss auf eine Analyse von Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder Beseitigung begrenzt werden; sie darf keine wirtschafts- und insbesondere lohnpolitischen Empfehlungen umfassen. Die gesammelten Befunde der Ausschüsse müssen stattdessen anschließend Gegenstand einer politischen Diskussion werden, die im Makroökonomischen Dialog in der Eurozone und im Kontext der gesamtwirtschaftlichen Politikausrichtung geführt werden muss.

Einrichtung nationaler makroökonomischer Gremien

Gemäß der Empfehlung zur Überwachung der Wettbewerbsfähigkeit sollen die Ausschüsse einzelne oder Gruppen nationaler wirtschaftspolitischer Akteure einschließlich der Sozialpartner konsultieren.16 Um der Aufgabe einer Überwachung der Wettbewerbsfähigkeit und der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Verantwortung gerecht zu werden, kann es auch auf nationaler Ebene nicht nur um Konsultation gehen. Auch hier soll das Mandat des jeweiligen nationalen Ausschusses auf eine Analyse von Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder Beseitigung begrenzt werden, jedoch keine wirtschafts- und (lohn-)politischen Empfehlungen enthalten.17 Zur anschließenden und ausschließlichen politischen Bewertung wird – wie für die Eurozone – ein gemeinsamer Dialog zwischen allen nationalen makroökonomischen Akteuren gefordert. Dieses Gremium setzt sich aus den nationalen Counterparts der Mitglieder des Makroökonomischen Dialogs auf EU- bzw. Eurozonen-Ebene zusammen.18 Wie für den Dialog auf Eurozonenebene vorgeschlagen, soll auch auf nationaler Ebene die Beachtung von Ungleichgewichten, Wettbewerbsfähigkeit und fiskalischer Stabilität als Ausdruck und im Rahmen einer positiven Gestaltung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erfolgen. Ausdrücklich soll auch die Beobachtung der Entwicklung der internen Wettbewerbsintensität und der Einkommensverteilung in die Tagesordnung eines nationalen Makroökonomischen Dialogs aufgenommen werden.

In Deutschland gibt es schon seit Beginn der Eurozone solch ein Gremium auf fachlicher Ebene, der den nationalen Beitrag für die Teilnehmer auf EU-Ebene durch eine Diskussion der nationalen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Wirtschaftspolitik vorbereitet. Die dort vertretenen nationalen Institutionen entsprechen deshalb auch denen auf EU-Ebene. Allerdings fehlt bisher auch hier die politische Dimension. Deshalb muss der nationale Makroökonomische Dialog auf fachlicher Ebene durch einen auf politischer Ebene ergänzt werden.19 Nicht in allen Mitgliedstaaten finden sich vergleichbare Strukturen und Beziehungen zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Wirtschaftspolitik wie in Deutschland. Organisationsgrad von Gewerkschaften und Abdeckungsgrad von Tarifabschlüssen sind oft nur rudimentär. In diesen Fällen fehlt es an Strukturen, so dass Sozialpartner bei der Ausrichtung der makroökonomischen Entwicklung nur unzureichend beteiligt werden könnten. In der Vergangenheit haben Rat, Kommission und EZB aber eher auf eine weitere Dezentralisierung der Lohnfindung hingewirkt, zuletzt im Rahmen der sogenannten Programmländer. Wer jedoch die Sozialpartner verantwortlich und kompetent einbeziehen will, muss starke Strukturen, d.h. zentrale, kollektive Lohnfindung und Flächentarifver­träge fordern und fördern. Solange dies nicht der Fall ist, ist es auch Aufgabe der Fiskalpolitik, auf das gewünschte Ergebnis ersatzweise oder korrigierend hinzuwirken. Klar ist dabei aber, dass Fiskalpolitik die Rolle gesamtwirtschaftlich verantwortlicher und steuerbarer Lohnfindung nicht ersetzen kann und es in der Regel auch nicht sollte.

Optionen für das weitere Vorgehen

Es handelt sich bei der Empfehlung zur Einrichtung von nationalen Ausschüssen für die Wettbewerbsfähigkeit um das erste konkrete „Produkt“ auf der Basis des Berichts und mit dem Gewicht der Präsidenten von fünf Organen der EU. Gleichzeitig gibt es gegen dieses Vorhaben massive Vorbehalte bis hin zu einer vollständigen Ablehnung. In dieser Situation könnte ein Ausweg darin gesucht werden, die Empfehlung so zu modifizieren, dass einerseits durch die Ausdehnung des Mandats auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und alle Politikakteure auch ihr ursprüngliches engeres Ziel erreicht wird, andererseits die Empfehlung für die Sozialpartner akzeptabel wird. Dazu bieten sich folgende Alternativen an:

  1. Die Ausschüsse für Wettbewerbsfähigkeit werden auf eine analytische Funktion im gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang beschränkt. Makroökonomische Dialoge auf nationaler Ebene und in der Eurozone bewerten die Ergebnisse der Ausschüsse auf politischer Ebene.
  2. Separate Ausschüsse für die Wettbewerbsfähigkeit entfallen. Makroökonomische Dialoge auf nationaler und Eurozonenebene übernehmen die Aufgaben der geplanten Ausschüsse im gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang. Wie beim Makroökonomischen Dialog auf EU-Ebene werden die neu zu schaffenden politischen Gremien durch fachliche Gremien vorbereitet. Dabei können diese umfangreichere, quantitative Analysen und Szenarien möglicher gesamtwirtschaftlicher Entwicklungen durch ein Sekretariat oder einen Stab – analog dem Stab des deutschen Sachverständigenrats – ausarbeiten lassen oder an geeignete Institute oder Institutionen auslagern.

Die Einrichtung eines Makroökonomischen Dialogs sowohl auf der Ebene der Eurozone als auch auf nationaler Ebene hätte in jedem Fall eine weitere wichtige vermittelnde Funktion. So kommen Höpner und Lutter in einer Studie zu den Unterschieden in den Lohnfindungssystemen in der Eurozone zu dem Ergebnis, dass diese eine entscheidende Rolle für die Divergenzen sowohl vor als auch nach der Krise der Eurozone spielen.20 Sie sehen kurz- bis mittelfristig keine Besserung in Permanenz, Persistenz und Prozyklik der Divergenz zwischen zentraler und dezentraler Lohnfindung, ohne dass entweder die Währungsunion in der bisherigen Form aufgelöst oder massiv in die Tarifautonomie eingegriffen wird.

Ein Makroökonomischer Dialog, der die Unabhängigkeit und Autonomie seiner Teilnehmer mit der Verpflichtung auf Konvergenz der wirtschaftlichen Entwicklung verbindet, könnte hier Mittler sein. Gerade wenn die Lohnfindungsregime noch so unterschiedlich wie derzeit sind, hat nicht zuletzt die nationale Fiskalpolitik eine eigene, konvergenzfördernde Rolle zu spielen.21 Auch für ein derartiges konvergentes Zusammenspiel wäre ein Makroökonomischer Dialog der geeignete Ort.

Für eine erfolgreiche Vertiefung der wirtschaftlichen Konvergenz in der Eurozone kommt es auf deren Ausfüllung an. Dazu bedarf es zielführender makroökonomischer Paradigmen, daraus abgeleiteter Regelungen, quantitativ-empirisch basierter Handlungsoptionen und deren konsequente Umsetzung durch die Politik. Dazu gehört materiell die zielgerechte Überprüfung und Einbettung von bisher partiellen Verfahren zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte, zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und der fiskalischen Stabilität in den Kontext und die Förderung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, institutionell die Umsetzung dieser Konzeption in einem erweiterten und vertieften Makroökonomischen Dialog aller Akteure.

  • 1 Dabei kann offenbleiben, ob die Lohnstückkosten Ursache oder Ergebnis (oder beides) der divergenten gesamtwirtschaftlichen Entwicklung waren. Die Antwort hängt auch von der Verfassung des Lohnfindungsprozesses ab. Bei zentralisierter, kollektiver Lohnfindung ist eine exogene Beeinflussung der Lohnentwicklung eher gegeben als bei dezentraler Lohnbildung ohne starke Tarifvertragsparteien.
  • 2 Gleichzeitig verliefen die nominalen Lohnstückkosten verteilungswirksam über längere Zeit unterhalb der nationalen Preissteigerungsrate (BIP-Deflator), und dies sowohl in Überschussländern wie Deutschland als auch in Defizitländern wie Spanien mit Auswirkungen auf Binnennachfrage, Importe, Leistungs- und Kapitalbilanz.
  • 3 J.-C. Juncker, D. Tusk, J. Dijsselbloem, M. Draghi, M. Schulz: Die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden, Bericht der fünf Präsidenten vom 22.6.2015.
  • 4 Vgl. S. Körzell: EU-Kommission bereitet Angriff auf Tarifautonomie vor, Deutscher Gewerkschaftsbund, DGB-Pressemitteilung vom 27.10.2015.
  • 5 Vgl. European Commission: On steps towards Completing Economic and Monetary Union, Communication from the Commission to the European Parliament, the Council and the European Central Bank, Brüssel, 21.10.2015.
  • 6 „…, only covering key priority issues of macro-economic and social relevance …“. Vgl. European Commission, a.a.O., S. 3.
  • 7 Europäische Kommission: Empfehlung der Kommission für eine Ratsempfehlung zur Einrichtung von nationalen Ausschüssen für die Wettbewerbsfähigkeit im Euro-Währungsgebiet, Brüssel, 21.10.2015.
  • 8 Vgl. European Commission, a.a.O., S. 6.
  • 9 „Überprüfung der Lohnbildungsverfahren und erforderlichenfalls des Grads der Zentralisierung im Verhandlungsprozess und der Indexierungsmechanismen, unter Wahrung der Autonomie der Sozialpartner in den Tarifverhandlungen“, vgl. Europäischer Rat: Der Euro-Plus-Pakt, Stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz, Schlussfolgerungen 24./25.3.2011, Anlage I, S. 16.
  • 10 Interessant ist die Wortwahl im begleitenden Fact­sheet der Kommission: „Die Ausschüsse würden keinen Einfluss auf die Rolle der Sozialpartner nehmen. Ihre Empfehlungen würden u.a. in die Tarifverhandlungen einfließen, aber sie streben weder eine Einflussnahme auf diese Verhandlungen noch eine Harmonisierung nationaler Lohnfindungssysteme an.“ Vgl. Europäische Kommission: Factsheet, Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion, Brüssel, 21.10.2015 (Kursiv durch den Autor).
  • 11 Auch der DGB kritisiert in seiner generell ablehnenden Haltung diese partiell-eindimensionale Ausrichtung der Empfehlung: „Statt sich endlich darum zu kümmern, die Ungleichgewichte zwischen den Ländern zu reduzieren, soll es nun nur noch um die Wettbewerbsfähigkeit gehen.“ Vgl. Deutscher Gewerkschaftsbund, a.a.O. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) geht nicht so weit, die Empfehlung gänzlich abzulehnen, sondern macht Vorschläge zu ihrer Verbesserung, die generell auf die Wahrung der Tarifautonomie, speziell auch über Löhne und Arbeitskosten hinaus auf eine umfassende Überwachung von Wettbewerbsfähigkeit zielen. Vgl. European Trade Union Confederation (ETUC): ETUC position on National Competitiveness Boards, adopted at the ETUC Executive Committee, 28.-29.10.2015.
  • 12 Für grundlegende Überlegungen zur Überwachung der Wettbewerbsfähigkeit in der Eurozone vgl. V. Hallwirth: Überwachung der Wettbewerbsfähigkeit in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, in: Wirtschaftsdienst, 94. Jg. (2014), H. 11, S. 798-805.
  • 13 Bei einem Preisziel der EZB von unter, aber nahe 2% dürfen die Lohnstückkosten und Preise nicht konstant bleiben, sondern müssen mit dieser Rate steigen. Bezüglich der beschriebenen Abweichungen gilt das Gleiche. Die im Bericht der fünf Präsidenten genannte Regel ist nicht hinreichend zur Vermeidung binnen- und außenwirtschaftlicher Divergenzen. Entscheidend ist, dass die Produktivitätsorientierung der Nominallöhne mit Preisstabilität für alle Mitgliedstaaten einhergeht und das Preisziel der EZB beachtet. Bei unterschiedlichen Preiskomponenten käme es auch bei Einhaltung der Regel nicht nur zu Preisdivergenzen, sondern u.a. über unterschiedliche Realzinsen auch zu Mengendivergenzen. Ein gemeinsames Preisziel, das aber vom Preisziel der EZB abweicht, würde geldpolitische Reaktionen hervorrufen. Allerdings bleibt bei bestehendem Anpassungsbedarf in der Eurozone ein Abweichen von der Goldenen Regel erforderlich, auch für eine lohnpolitische Korrektur bei einer einseitigen Entwicklung der Einkommensverteilung.
  • 14 Der Entwurf für ein Mandat für einen Makroökonomischen Dialog für die Eurozone war bereits im Herbst 2006 vom Autor als Mitglied des Makroökonomischen Dialogs auf EU-Ebene informell an andere Mitglieder herangetragen worden, fand aber nicht die Zustimmung aller Mitglieder. Zur Begründung war im Entwurf ausdrücklich auf die bisher schon aufgelaufenen Divergenzen in der Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten hingewiesen worden. Zu „verpassten Chancen“ für eine Vermeidung oder Korrektur schädlicher Divergenzen vgl. W. Koll: Neue Wirtschaftsregierung und Tarifautonomie in der Europäischen Union, Makroökonomische Koordinierung im Dialog, Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Study 30, März 2013, S. 36 ff.
  • 15 Vgl. hierzu ebenda, S. 71 ff.
  • 16 „Competitiveness Boards should consult relevant stakeholders (e.g. national actors or group of actors, including social partners, who participate in the economic and social dialogue of the Member States on a regular basis)“, vgl. Europäische Kommission: Factsheet ..., a.a.O., Nr. 7, (kursiv durch den Autor).
  • 17 Dies entspricht auch hier dem Mandat des deutschen Sachverständigenrats, wobei die Abgrenzung zwischen Analyse und Politikempfehlung bisweilen offenbar schwer zu ziehen ist.
  • 18 Vgl. hierzu W. Koll, a.a.O., S. 69 ff.
  • 19 In Vorbereitung des Jahreswachstumsberichts der deutschen Bundesregierung gibt es nach § 3 StabG von 1967 die Verpflichtung der Bundesregierung, „Orientierungsdaten für ein gleichzeitig aufeinander abgestimmtes Verhalten (konzertierte Aktion) der Gebietskörperschaften, Gewerkschaften und Unternehmensverbände zur Erreichung der Ziele des § 1 zur Verfügung (zu stellen)“. Allerdings findet dieser Gedankenaustausch bisher nur getrennt mit Vertretern der Gewerkschaften bzw. dem Gemeinschaftsausschuss der Deutschen Wirtschaft statt. Auch ist die Deutsche Bundesbank als Mitglied des ESZB erst im Wirtschaftskabinett zum Jahreswirtschaftsbericht vertreten. Insbesondere wird eine politische Bewertung der gesamtwirtschaftlichen Analyse, wie hier durch einen nationalen Makroökonomischen Dialog gefordert, nur durch die in § 2 StabG vorgesehene Stellungnahme der Bundesregierung zum Jahresgutachten des Sachverständigenrats geleistet. Alle diese bisher separaten Elemente könnten zu einem integralen Makrodialog auf politischer Ebene weiterentwickelt werden.
  • 20 Vgl. M. Höpner, M. Lutter: One Currency and Many Modes of Wage Formation – Why the Eurozone is Too Heterogeneous for the Euro, MPIfG Discussion Paper, Nr. 14/14, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, August 2014, S. 18-21.
  • 21 Eine mögliche konvergenzfördernde Rolle der Fiskalpolitik wird bei Höpner/Lutter nicht angesprochen.

Title:Deepening the Economic Convergence in the Euro Zone

Abstract:In a draft recommendation, National Competitiveness Boards should be established which inter alia should monitor the developments in labour costs. The German and European Trade Unions have refused this proposal strictly. Here, as a way out, an alternative proposal is presented extending the agenda to the macroeconomic development and policy as a whole. In implementing the agenda, social partners should be included together with the other macroeconomic actors such as monetary and fiscal policy in a Macroeconomic Dialogue forum on both the national and Eurozone levels.

Beitrag als PDF

DOI: 10.1007/s10273-016-1990-4