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Die Demokratie scheint in Gefahr. Populisten und Autokraten genießen wachsenden Zuspruch und bieten vermeintlich einfache Lösungen für soziale Probleme an. Was können die Sozialwissenschaften zur Analyse dieser Probleme beitragen? Welche Empfehlungen können sie geben? Sind die von der Öffentlichkeit als zentral empfundenen Probleme überhaupt faktisch die wesentlichen? Einige Wissenschaftler sehen eine Entscheidung über Prioritäten als normativ und damit außerhalb ihres Fachgebiets liegend an. Die Teilnehmer am Zeitgespräch können sich dennoch auf wesentliche Problembereiche einigen – die ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung und eine drohende Altersarmut.

Chancengleichheit und eine inklusive Soziale Marktwirtschaft

„Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig“, schrieb Kurt Tucholsky 1931 mit einem Hauch Ironie über den Missbrauch des Grundgefühls der Menschen durch die Politik. Dieses Zitat lässt sich übertragen auf die Diskussion, die nicht nur in Politik und Gesellschaft, sondern auch unter Wirtschaftswissenschaftlern geführt wird: Ist die Ungleichheit in Deutschland gestiegen? Außer Frage steht, dass zumindest die wahrgenommene soziale Ungleichheit eine wichtige Ursache für drei der größten Herausforderungen unserer Zeit ist – das Aufkommen von Populismus, Protektionismus und Paralyse. Diese Herausforderungen werden jedoch nicht durch mehr Polarisierung und einen Verteilungskampf gelöst, sondern erfordern die Stärkung jener Elemente, die die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland in den vergangenen sieben Jahrzehnten erfolgreich gemacht haben.

Populismus, Protektionismus und Paralyse als Risiken

70% der Deutschen sagen in Umfragen, dass sie die soziale Ungleichheit als zu hoch empfinden. Immer mehr Menschen fühlen sich abgehängt. Sie haben das Gefühl, dass sich harte Arbeit immer weniger lohnt. Viele befürchten, dass ihre soziale Absicherung schwach ist und bei Krankheit, Arbeitslosigkeit oder im Rentenalter nicht reicht, um den gewohnten Lebensstandard zu halten. Andere verweisen zu Recht auf die gute wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Die Arbeitslosenquote ist derzeit so niedrig wie seit Jahrzehnten nicht. Die Erwerbsquote steigt, vor allem unter Frauen, Zugewanderten und älteren Menschen. Selbst Personen mit geringen Einkommen haben heute deutlich höhere Löhne als vor fünf Jahren und die Schere zwischen Arm und Reich ist zumindest nicht größer geworden, sondern hat sich stabilisiert oder ist in manchen Elementen gar zurückgegangen.1

Es lässt sich trefflich darüber streiten, welche Art von Ungleichheit zugenommen hat und welche nicht. Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass die soziale Spaltung und die gesellschaftlichen Konflikte in der gesamten westlichen Welt im vergangenen Jahrzehnt größer geworden sind.2 Von der Wahl eines fremdenfeindlichen und sexistischen Präsidenten Trump in den USA, über die Brexit-Abstimmung im Vereinigten Königreich bis hin zum Aufstieg rechts- und linksextremer Parteien in ganz Europa – die zunehmende Spaltung zeigt sich deutlich und stellt die westlichen Demokratien vor riesige Herausforderungen.

Die wirtschaftlichen Risiken dieser Entwicklung lassen sich als drei „P“ zusammenfassen: Populismus, Protektionismus und Paralyse. Beim Populismus des Donald Trump, wie auch der meisten populistischen Parteien in Europa, geht es weniger um Inhalte als um einen Politikstil, bei dem Demagogie und eine marktfeindliche und illiberale Wirtschafts- und Sozialpolitik im Mittelpunkt stehen. Diese Populisten in den USA und in Europa haben mit ihren Attacken gegen die politischen und wirtschaftlichen Eliten viele Stimmen gewinnen können – die Unterstützung gerade jener Menschen, die wirtschaftlich abgehängt sind oder Zukunftssorgen haben.

Eine solche Politik ist Gift für die Wirtschaft. Denn sie schafft Unsicherheit über wirtschaftliche Rahmenbedingungen, etwa wenn neue Handelsbarrieren angekündigt oder wirtschaftliche Konflikte mit China heraufbeschworen werden. Eine solche Unsicherheit wird die Nachfrage und das Wachstum reduzieren und Investitionen und Jobs ins Ausland treiben. Für Europa ist das sehr gefährlich, denn der Euroraum befindet sich nach wie vor in einer tiefen Krise, mit hoher Arbeitslosigkeit und vielerorts geringer Einkommen, vor allem in Südeuropa. Diese Unsicherheit könnte die wirtschaftliche Erholung des Euroraums zum Entgleisen bringen. Deutschland befindet sich zurzeit zwar in einer guten Lage, würde jedoch unweigerlich mit in den Sog einer erneuten europäischen Krise gezogen.

Das zweite wirtschaftliche Risiko ist Protektionismus, der auf Isolation, internationale Konfrontation und eine Renationalisierung der Wirtschaftspolitik setzt. Auch wenn Protektionismus in seiner schlimmsten Form abgewendet werden kann, so werden sich dennoch weltweit Währungskonflikte intensivieren, bei denen Regierungen versuchen, sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen.3

Europa und der Euro als Leidtragende

Größer noch als für die USA ist das Risiko des Protektionismus für Europa. Der europäische Binnenmarkt kann nur durch eine enge Kooperation seiner Mitgliedsländer funktionieren. Die Renationalisierung der Wirtschaftspolitik in Europa in den vergangenen Jahren hat bereits großen Schaden verursacht. Gerade die Positionen der deutschen Politik gegenüber Europa tragen die Handschrift einer solchen Renationalisierung. So wird Deutschland von den europäischen Nachbarn für seine Austeritätspolitik, seine Ablehnung der Einlagensicherung in der Bankenunion und seine Angriffe auf die Geldpolitik der EZB kritisiert – manchmal, aber nicht immer zu Unrecht. Protektionistische Tendenzen werden wohl dazu führen, dass der Euro und Europa zu einem Wahlkampfthema in Deutschland werden, bei dem nicht nur die rechtsextremen Parteien versuchen, mit scharfer Kritik Stimmen zu gewinnen.

Die größten Opfer des Protektionismus und der Renationalisierung könnten der europäische Binnenmarkt und der Euro werden. Deutschland und seine Wirtschaft würden darunter besonders leiden, denn kaum ein Land ist so stark von seiner Exportwirtschaft abhängig. Fast jeder zweite Job hängt hierzulande direkt oder indirekt von den Ausfuhren ab, von denen fast zwei Drittel nach Europa gehen. Die gemeinsame Währung ist kein Vorwand, um Kapital aus Deutschland in andere Länder zu transferieren, sondern sie hält den Kern Europas zusammen und sichert letztlich sehr vorteilhafte Rahmenbedingungen für deutsche Exporteure.

Die Paralyse, oder Lähmung, in vielen Politikbereichen ist das dritte große und zugleich das gefährlichste Risiko, sowohl in den USA, als auch in Europa. Wir leben heute in einer wirtschaftlich ungemein verflochtenen Welt, in der es de facto keine nationalen Volkswirtschaften mehr gibt. Diese Interdependenzen bedeuten, dass die wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen unserer Zeit nur gemeinsam gelöst werden können. Eine erfolgreiche Klima- und Umweltpolitik, ein Verhindern von Steuerflucht, die Regulierung der Finanzmärkte, die Reform der Europäischen Union bis hin zur Kontrolle der Migration – all dies erfordert zwingendermaßen eine enge globale Kooperation. Und genau dies scheint unter einem US-Präsidenten Trump ein Ding der Unmöglichkeit.

Auch in Deutschland und Europa wird eine solche Lähmung dringend notwendige Wirtschaftsreformen verhindern oder zumindest verzögern. Die Krisenländer Europas haben in den vergangenen Jahren wichtige und gute Reformen angestoßen, müssen aber weitere dringend umsetzen, um neue Jobs zu schaffen, Menschen eine Zukunftsperspektive zu geben und die hohe soziale Ungleichheit zu bekämpfen.

Gerechtigkeit versus Effizienz der Verteilung

Die etablierten Parteien in Europa und in Deutschland begehen einen großen Fehler, wenn sie versuchen, diesen drohenden Schaden selbst mit Populismus und Protektionismus zu bekämpfen. Die Politik kann diesen Schaden nur dann abwenden, wenn sie dessen Ursachen erkennt. Dies erfordert ein grundlegendes Umdenken in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Notwendig ist eine inklusive Wirtschaftspolitik, die über bessere Bildung und Qualifizierung, durch eine gezieltere Arbeits- und Sozialpolitik und durch Offenheit mehr Menschen mitnimmt und ihnen eine Zukunftsperspektive bietet.4

Die politischen Parteien beantworten die Frage der sozialen Ungleichheit grundlegend unterschiedlich. Die politisch Linken und die politisch Rechten sehen in der Ungleichheit von Einkommen und Vermögen ein großes Gerechtigkeitsproblem und wollen es durch mehr Staat, mehr Steuern und weniger Markt bekämpfen. Die politisch eher in der Mitte stehenden Parteien sehen die Ungleichheit nicht als ungerecht an, und wollen daher auch keinen größeren Sozialstaat, sondern eher niedrigere Steuern und einen kleineren Staat.

Beide Seiten liegen falsch. Es sollte in dieser Debatte nicht um die Frage der Gerechtigkeit gehen. Denn Gerechtigkeit ist etwas völlig Subjektives. Eine solche Debatte wird die Polarisierung der Gesellschaft, und damit das Gefühl der Ungerechtigkeit, eher verschärfen. Wenn Parteien von Gerechtigkeit reden, dann geht es ihnen meist um die Interessen ihrer eigenen Wählerklientel und nicht um die Frage, wie Wohlstand langfristig gesichert werden kann. So wird der Wahlkampf 2017 zunehmend zu einem Verteilungswahlkampf, in dem jede Partei versucht, über Wahlgeschenke potenzielle Wähler für sich zu gewinnen – mit Versprechen, die langfristig meist nicht gehalten werden.5 So ist die Kontroverse über Steuersenkungen oder -erhöhungen eine zwischen Arm und Reich. In der Diskussion um Rentenerhöhungen und Vorsorgeverpflichtungen stehen sich alte und junge Menschen gegenüber. Die Thematik zu Ehegattensplitting und Kindergeld erzeugt einen Interessenwiderspruch zwischen Familien und Menschen, die das Glück eines Familienlebens nicht haben oder andere Formen des Zusammenlebens verfolgen. Die Debatte über das Fordern und Fördern von Migranten spaltet die Gesellschaft in Einheimische und Zuwanderer. Und der Streit über Löhne und die Besteuerung von Unternehmen polarisiert zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern.

Chancengleichheit als Schlüssel

All diese Themen sind sicherlich relevant. Aber sie führen zu einer noch tieferen Spaltung der Gesellschaft, die schädlich ist. Deutschland hat kein grundlegendes Problem eines zu kleinen Sozialstaats oder einer zu ungleichen Steuerbelastung. Im Gegenteil, kaum ein Land auf der Welt hat einen so starken und leistungsfähigen Sozialstaat wie Deutschland. Die Steuerbelastung ist über Einkommen hinweg recht gleich verteilt, sodass keine Gruppe der Gesellschaft sich glaubhaft über eine systematische Benachteiligung beklagen kann.

Es sollte nicht um die Frage der Gerechtigkeit, sondern vielmehr um die Frage der Effizienz im politischen Streit der Parteien gehen – also wie durch bessere Chancengleichheit und Teilhabe der wirtschaftliche und soziale „Wohlstand für Alle“, um Ludwig Erhard zu zitieren, verbessert werden kann. Denn die Ungleichheit von Chancen, Einkommen und Vermögen hat in Deutschland heute ein Ausmaß erreicht, das wirtschaftlich und gesellschaftlich schadet, das Produktivität, Wachstum, Gesundheit und Innovation und letztlich den Wohlstand aller, nicht nur der direkt Betroffenen, beeinträchtigt.6

Wir Deutschen sind zu Recht stolz auf unsere Soziale Marktwirtschaft, die jahrzehntelang die Grundlage des Gesellschaftsvertrags und entscheidend für das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg war. Der Erfolg dieser Sozialen Marktwirtschaft gründete darauf, dass sie einen starken Sozialstaat, ein hohes Maß an Eigenverantwortung und eine funktionierende Marktwirtschaft nicht als Widerspruch, sondern als sich gegenseitig bedingende Voraussetzungen für Wohlstand und gesellschaftlichen Zusammenhalt vereint hat.

Vom Ideal der Sozialen Marktwirtschaft ist Deutschland heute jedoch weiter entfernt denn je. Chancengleichheit existiert für immer weniger Menschen. Immer mehr werden abgehängt oder befürchten dies. Die soziale Mobilität in Deutschland ist gering – wer heute in eine sozial schwache und bildungsferne Familie geboren wird, hat es ungleich schwerer als in der Vergangenheit, oder auch als in vielen anderen westlichen Ländern, eine gute Bildung und Ausbildung zu erlangen und den sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg zu schaffen.7

Immer mehr Menschen verlieren ihre wirtschaftliche Eigenständigkeit und sind von staatlichen Leistungen abhängig. Einer von drei Haushalten in Ostdeutschland bezieht heute die Hälfte oder mehr seines Einkommens vom Staat. Viele Menschen machen sich nicht zu Unrecht Sorgen darüber, ob sie im Alter ihren Lebensstandard halten können. Und immer mehr Eltern befürchten, dass ihre Kinder es nicht besser haben werden als sie selbst. Viele Frauen haben es nach wie vor ungewöhnlich schwer, auf dem Arbeitsmarkt die gleichen Chancen und im Job den gleichen Lohn und die gleiche Anerkennung zu erhalten wie Männer. Viele Migranten verzweifeln angesichts der Schwierigkeiten, sich die für eine Arbeitsaufnahme erforderlichen Qualifikationen anzueignen. All diese Fakten stehen in krassem Widerspruch zu dem Ideal einer Sozialen Marktwirtschaft.

Eine inklusive Soziale Marktwirtschaft als Gesellschaftsvertrag

Die zentrale Frage des politischen Widerstreits in Deutschland sollte sein, wie ein neuer Gesellschaftsvertrag aussehen soll, der das „Soziale“ mit der „Marktwirtschaft“ nicht nur für wenige, sondern für möglichst viele Menschen in Einklang bringt – eine inklusive Soziale Marktwirtschaft. Dies erfordert vor allem, die Chancengleichheit und soziale Mobilität in Deutschland zu verbessern – und zwar nicht, indem man eine Neiddebatte und einen Verteilungskampf initiiert, wie es die politischen Parteien gegenwärtig tun. Ziel muss es vielmehr sein, den Menschen häufiger als bisher gute Bildungschancen zu bieten, sie erfolgreich in den Arbeitsmarkt zu bringen, eine Teilhabe am technologischen Wandel und der Globalisierung zu ermöglichen und sie sozial besser abzusichern, damit sie Chancen genauso wahrnehmen können wie Verantwortung für sich selbst.

Eine solche inklusive Soziale Marktwirtschaft schafft Wohlstand für alle, sie dient nicht einigen wenigen, sondern der Gesellschaft als Ganzes. Menschen, die eine gute Bildung bekommen, ihre Talente entwickeln und ihre Fähigkeiten nutzen können, die auf dem Arbeitsmarkt gefördert werden und sozial abgesichert sind, helfen nicht nur sich selbst, sondern sie bringen sich in Wirtschaft und Gesellschaft ein – zum Wohle aller. Der Unternehmer profitiert von besser qualifizierten und gut bezahlten Arbeitnehmern genauso wie diese selbst. Der Staat kann weniger Steuern erheben und seiner Aufgabe der sozialen Sicherung trotzdem besser gerecht werden, wenn mehr Menschen die Chance bekommen, Eigenverantwortung zu übernehmen und nicht vom Sozialstaat abhängig zu sein. All dies würde die wirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit verbessern und wieder zu dem führen, was Deutschland in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg so erfolgreich gemacht hatte: zu einem hohen und geteilten Wohlstand.8

Für eine inklusive Soziale Marktwirtschaft müssen mindestens fünf Politikbereiche adressiert werden: Es braucht

  1. eine Bildungsoffensive, die die Qualität gerade in der frühkindlichen Bildung, aber auch im Schulsystem verbessert und für mehr Kinder öffnet;
  2. eine Familienpolitik, die vor allem Frauen, Alleinerziehenden und sozial schwächeren Menschen bessere Möglichkeiten sowohl im Beruf als auch im Privatleben verschafft;
  3. eine inklusivere Arbeitsmarktpolitik, die die Vergessenen der vergangenen Arbeitsmarktreformen, wie Langzeitarbeitslose, Menschen mit gesundheitlichen Problemen und Zuwanderer, stärker berücksichtigt;
  4. eine grundlegende Steuerreform, die Privilegien abschafft und damit mehr Markt und Wettbewerb und eine gleiche Belastung sicherstellt; und
  5. eine Reform der Sozialsysteme, die viel zielgenauer auf jene Menschen ausgerichtet ist, die Hilfe benötigen.

Die soziale Ungleichheit in Deutschland ist ein ernstes wirtschaftliches, soziales und politisches Problem. Sie ist eine der zentralen Ursachen für die wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit – das Aufkeimen von Populismus, Protektionismus und Paralyse. Die Lösung liegt jedoch nicht in einem Verteilungskampf über Steuern und Transfers. Die Politik sollte ihre Priorität und Anstrengungen auf mehr Chancengleichheit konzentrieren. Deutschland braucht eine inklusive Soziale Marktwirtschaft, die auf den Stärken der vergangenen sieben Jahrzehnte beruht, also auf Eigenverantwortung, einem starken Sozialstaat und einer funktionierenden Marktwirtschaft, und gleichzeitig mehr Menschen mitnimmt und ihnen eine Perspektive eröffnet.

  • 1 Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, April 2017; M. Fratzscher: Verteilungskampf – Warum Deutschland immer ungleicher wird, München 2016; OECD: In It Together, Paris 2015; S. Bach, M. Grabka, E. Tomasch: Steuer- und Transfersystem: hohe Umverteilung vor allem über die Sozialversicherung, in: DIW Wochenbericht, Nr. 8/2015, S. 147-156.
  • 2 A. B. Atkinson: Inequality: What Can Be Done?, Cambridge 2015; OECD: Divided We Stand: Why Inequality Keeps Rising, Paris 2011; T. Piketty: Capital in the 21st century, Cambridge 2014.
  • 3 M. Fratzscher: „Donald Trump paralysiert“, Kolumne „Fratzschers Verteilungsfragen“, Zeit Online vom 10.2.2017.
  • 4 Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, a.a.O.; OECD: The effects of pro-growth structural reforms on income inequality, Kapitel 2, Economic Policy Reforms, Paris 2015.
  • 5 J. Goebel, M. Grabka, C. Schröder: Einkommensungleichheit in Deutschland bleibt weiterhin hoch: junge Alleinlebende und Berufseinsteiger sind zunehmend von Armut bedroht, in: DIW Wochenbericht, Nr. 25/2015, S. 571-586; M. Fratzscher: Die Elite verschließt die Augen, Kolumne „Fratzschers Verteilungsfragen“, Zeit Online vom 23.12.2016.
  • 6 OECD: The effects of pro-growth ..., a.a.O.; M. Grabka, C. Westermeier: Reale Nettovermögen der Privathaushalte in Deutschland sind von 2003 bis 2013 geschrumpft, in: DIW Wochenbericht, Nr. 34/2015, S. 727-738; S. Bach, M. Grabka, E. Tomasch, a.a.O.
  • 7 Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, a.a.O.; D. Schnitzlein: Is It the Family or the Neighborhood? Evidence from Sibling and Neighbor Correlations in Youth Education and Health, SOEPpapers, Nr. 716, 2014; K. Spieß: Investitionen in Bildung: frühkindlicher Bereich hat großes Potential, in: DIW Wochenbericht, Nr. 26/2013, S. 40-47.
  • 8 Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, a.a.O.; M. Fratzscher: Die Elite verschließt die Augen, a.a.O.

Armutsfestigkeit der Rentenversicherung stärken und Umbau des Steuer- und Abgabensystems organisieren

Jeder Wissenschaftler hat ein Paradigma im Kopf, sein theoretisches Vorverständnis. Und diese Brillen der Theorie dienen nicht dazu, die Komplexität der Realität wahrzunehmen, sondern dazu, das besonders scharf zu erkennen, worauf das individuelle paradigmatisch geprägte Erkenntnisinteresse gerichtet ist. So wird ein marktliberaler Ökonom wie Hans-Werner Sinn bei einem Blick auf Griechenland nach wie vor zu hohe Löhne als Hauptübel des Landes erkennen, während ein Keynesianer wie Peter Bofinger Outputlücken sehen wird, die es durch kreditfinanzierte Investitionsprogramme zu schließen gilt. Und ein Historiker wird mutmaßlich die Ursache für die wirtschaftliche Misere und Vormodernität dieses Landes in den 400 Jahren Besatzung durch die Türken sehen. Denn diese Besatzung hätte dazu geführt, dass viele Griechen noch ein tiefes Misstrauen gegenüber staatlichen Autoritäten und vor allem Steuergesetzen hätten, aber gleichzeitig alles daransetzten, ihre Kinder im Staatsdienst unterzubringen. Zudem wird dieser Historiker sehen, dass diese Besatzung verhindert hat, dass es in Griechenland ein Zeitalter der Aufklärung gab oder sich Adelsstrukturen und damit regionale Verwaltungseliten herausbilden konnten. Entsprechend wird die Politikempfehlung dieses Historikers anders aussehen als die eines Armutsforschers oder eines Ökonomen.

Jeder Teilnehmer dieses „Zeitgesprächs“ wird daher die durch sein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse und/oder seine Lebenserfahrung vorgeprägte Wahrnehmung von Reformnotwendigkeit wiedergeben. Die intellektuelle Redlichkeit sollte es deshalb verbieten, eine politische Priorisierung der eigenen Empfehlungen einzufordern. In einer Demokratie wird soziale Gerechtigkeit nun einmal durch die jeweilige Diagonale im Parallelogramm der politischen Kräfte bestimmt – und nicht durch Wissenschaftler.

Dies gilt natürlich auch für die beiden sozialpolitischen Baustellen, die der Verfasser dieses Beitrags als vorrangige Aufgaben der nächsten Bundesregierung ansieht: zum einen die erhöhte Armutsfestigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung im Zusammenspiel mit einer Neuordnung der steuerlichen Kofinanzierung, und zum anderen ein Umbau des Steuer- und Abgabensystems mit dem Ziel, ohne eine Erhöhung der Steuersätze die Umverteilungsintensität des Einkommensteuertarifs zu erhöhen und zugleich über einen Freibetrag bei den Arbeitnehmer­anteilen der Sozialversicherungsbeiträge gezielt kleine und mittlere Einkommen von Zwangsabgaben zu entlasten.

Erhöhte Armutsfestigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung

Von den 82 Mio. Einwohnern Deutschlands sind 66% entweder als Beitragszahler oder Rentner Mitglieder der gesetzlichen Rentenversicherung. Im rentenpolitischen Fokus der nächsten Bundesregierung sollte daher die Erhöhung der Armutsfestigkeit dieses wichtigsten Alterssicherungssystems stehen. Auch wenn Altersarmut kein akutes gesellschaftliches Problem ist, bedarf es zur nachhaltigen Legitimation unserer gesetzlichen Rentenversicherung gerade auch im kommenden Zeitalter der Digitalisierung eines glaubwürdigen Schutzes gegen dieses Risiko. Der postindustrielle Arbeitsmarkt dürfte nämlich ungeachtet anderslautender politischer Versprechungen durch eine Entbetrieblichung der Arbeit gekennzeichnet sein. Zudem wird es zu einem Mix vielfältiger Erwerbsformen bei einer zunehmenden Polarisierung der Arbeitseinkommen sowie der Verfestigung eines großen Niedriglohnsektors kommen, kurzum einem schleichenden Bedeutungsverlust des derzeit dominierenden Normalarbeitsverhältnisses.

Ein valides Maß für die Verbreitung von Altersarmut ist die Zahl derjenigen, die im Alter auf staatliche Fürsorgeleistungen angewiesen sind. Bei den Sozialverbänden ist die Armutsgefährdungsquote das sehr viel beliebtere Maß. Allerdings ist der Prozentsatz der Haushalte mit einem Einkommen unterhalb von 60% des mittleren Einkommens aller Haushalte vor allem geeignet, die Ungleichheit der Verteilung der Einkommen zu messen. Es ist aber ein schlechtes Maß für die tatsächliche materielle Versorgung der armutsgefährdeten Haushalte – umso weniger, wenn sich diese Quote auf die äquivalenzgewichteten Einkommen bezieht.

Die Zahl der Bezieher von Grundsicherung im Alter ist seit Jahren leicht angestiegen, liegt allerdings immer noch auf einem auch im internationalen Vergleich sehr niedrigen Niveau, und zuletzt wurde sogar ein leichter Rückgang vermeldet. Derzeit beziehen 526 000 Personen diese Fürsorgeleistungen.1 Das sind 3% der Menschen im Rentenalter. Ein Viertel davon bezieht gar keine Rente, und 40% erhalten eine Rente von unter 400 Euro im Monat.2 Die wichtigsten Gründe der Bedürftigkeit sind gegenwärtig Erwerbsminderung und fehlende Beitragszeiten in der Rentenversicherung. Deshalb wären die meisten heute in Altersarmut lebenden Menschen selbst bei dem von der Partei „Die Linke“ geforderten Rentenniveau von 53% immer noch auf die staatliche Fürsorge angewiesen. Die Behauptung, eine Anhebung des derzeit bei 48% liegenden Sicherungsniveaus auf die 53% des Jahres 2001 würde die Rente „strukturell armutsfest“ machen, ist daher schlicht falsch.

Um den in der Bevölkerung verbreiteten Ängsten vor einer künftigen Altersarmut zu begegnen und um die Akzeptanz und die Legitimation der aus Zwangsbeiträgen finanzierten gesetzlichen Rente zu erhöhen, wäre es klug, das bislang sehr hoch gehaltene Äquivalenzprinzip zu lockern und dafür die Rente armutsfester zu machen. Denn das Äquivalenzprinzip zielt darauf ab, dass die persönliche Rente strikt nach der Dauer der sozialversicherungspflichtigen Erwerbsjahre und der Höhe des jeweiligen Lohnes bemessen wird. Wer lange hohe Beiträge zahlt, bekommt auch eine hohe Rente. Und wer in der Erwerbsphase einen geringen Lohn bezogen hat, der soll als Rentner nur eine kleine Rente bekommen. Ziel dieses Prinzips der Rentenfestsetzung ist, dass jeder Leistungsempfänger in der Pyramide der Rentenempfänger die gleiche relative Einkommensposition einnimmt, die er während seiner gesamten Versicherungsdauer in der Pyramide der Lohnempfänger hatte. In den meisten OECD-Staaten dagegen werden die Renten von langjährig im Niedriglohnbereich Beschäftigten höher festgesetzt. Und vom IWF oder der OECD wird seit Langem gefordert, nicht die Sicherung eines Lebensstandards in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Armutsvermeidung.3

Die Relativierung des Äquivalenzprinzips im Interesse einer hohen Armutsfestigkeit erfordert es, die Beteiligung des Bundes an den Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung neu zu ordnen. Seit 1957 werden die Ausgaben der Rentenversicherung durch Zuschüsse aus Steuermitteln des Bundes kofinanziert. Da für die Höhe der einzelnen Renten das Äquivalenzprinzip und damit die von den Versicherten während des Erwerbslebens gezahlten Beiträge maßgeblich sein sollen, gelten diese Steuergelder formal als Kompensation für die der Rentenversicherung im gesamtgesellschaftlichen Interesse übertragenen Ausgaben – die versicherungsfremden Leistungen. Doch was versicherungsfremde Leistungen sind, weiß niemand, es gab nie eine Legaldefinition oder auch nur eine regierungsamtliche Zusammenstellung. In unregelmäßigen Abständen werden zwar von der Rentenversicherung Kataloge dieser Leistungen veröffentlicht. Allerdings ändern sich diese Zusammenstellungen im Zeitverlauf. Und wie es der Zufall will, ist das Ausgabenvolumen für diese Leistungen immer exakt so hoch wie die tatsächlichen Steuerzuschüsse. Vollends zur Farce wurde das Argument der Kompensation von versicherungsfremden Leistungen spätestens ab dem Jahr 2000, als mit den Ökosteuereinnahmen der Rentenbeitrag gesenkt wurde. Nicht minder entlarvend sind die jüngst von Sozialministerin Andrea Nahles geforderten „Demografiezuschüsse des Bundes“ in Relation zu den Rentenausgaben, mit denen sie ihre Reformpläne finanzieren will. Es wäre daher ein Gebot der politischen Ehrlichkeit, sich vom Alibi der versicherungsfremden Leistungen zur Begründung einer steuerlichen Kofinanzierung der Rentenversicherung zu verabschieden. Eine saubere Antwort wäre, zu einem Bundesbeitrag in Form eines festen prozentualen Anteils an den Gesamtausgaben überzugehen. Gegenwärtig liegt dieser Anteil bei knapp 23%4 und ist die größte Position im Bundesetat.

Schließlich und endlich erfordert eine Politik, die auf ein verringertes Risiko der Altersarmut abzielt, den Versichertenkreis der gesetzlichen Rentenversicherung auszuweiten. Derzeit sind es im Wesentlichen die abhängig Beschäftigten, die dort obligatorisch versichert sind. Bis auf die Selbstständigen, die nicht Mitglieder eines der 91 Berufsständischen Versorgungswerke sind, müssen alle Erwerbstätigen über eines der zahlreichen bestehenden obligatorischen Alterssicherungssysteme abgesichert sein. Diese Gruppe der nicht obligatorisch versicherten Erwerbstätigen umfasst etwa 3 Mio. Personen und reicht vom soloselbstständigen Taxifahrer über die Inhaberin eines Nagelstudios mit einer Hilfskraft bis zu dem Eigentümer eines Großunternehmens. Hier sollte die Politik die Kraft finden, alle diese Selbstständigen zu Pflichtmitgliedern in der gesetzlichen Rentenversicherung zu machen – sofern sie noch in einem Alter sind, das es ermöglicht, nennenswerte Ansprüche zu erwerben. Versichert würden damit im Übrigen auch die Steuerzahler gegen sonst wahrscheinliche Belastungen aus Fürsorgeverpflichtungen.

Umbau des Steuer- und Abgabensystems

Aus dem Zusammenwirken der zunehmend weniger umverteilungsintensiven Einkommensteuer und der Sozialversicherungspflicht von Arbeitseinkommen ab dem ersten Euro resultiert eine im internationalen Vergleich außerordentlich hohe Zwangsabgabenbelastung für Arbeitnehmer – insbesondere für Alleinstehende. Dies ist das Ergebnis neuester Berechnungen der OECD.5 Nur aufgrund des anachronistischen Ehegattensplittings und der recht generösen steuerlichen Behandlung von Kindern nimmt diese Zwangsabgabenbelastung für Alleinverdienerhaushalte mit Kindern merklich ab, bleibt aber immer noch deutlich über dem Durchschnitt der anderen Industriestaaten. Fakt ist, dass bei der Belastung von Arbeitseinkommen mit staatlichen Zwangsabgaben Deutschland innerhalb der Industrieländer zu den Spitzenreitern zählt. Vor diesem Hintergrund spricht vieles für eine aufeinander abgestimmte Reform des Einkommensteuertarifs und eine neugeordnete Bemessung der Arbeitnehmeranteile an den Sozialabgaben mit dem Ziel, die geringen Arbeitseinkommen zu entlasten.

Prüfenswert wäre dabei ein bereits im vergangenen Jahrzehnt von den Gewerkschaften in die Diskussion gebrachter Freibetrag bei den Arbeitnehmer- und Rentner­anteilen zu den obligatorischen Sozialversicherungen. Bei einer Höhe von jeweils 1200 Euro im Jahr würden alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um gut 20 Euro im Monat und die Rentner um 11 Euro entlastet. Die Kosten dafür beliefen sich überschlagsmäßig auf etwa 11 Mrd. Euro6 – deutlich weniger Finanzmittel als für die gegenwärtig im Raum stehenden Steuersenkungen. Den Sozialkassen müssten die Ausfälle vom Bund erstattet werden, damit den Beitragszahlern keine Nachteile, etwa durch geringere Rentenansprüche oder höhere Beiträge auf Einkommen oberhalb des Freibetrags, entstünden. Ein Teil dieser Erstattungskosten würde sich selbst finanzieren, da Krankenkassenbeiträge ganz und Rentenbeiträge teilweise steuerlich geltend gemacht werden können. Mit einem solchen Freibetrag bei den Sozialabgaben könnte zudem der – im jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung herausgestellten – seit etwa 20 Jahren anhaltenden Abkoppelung der einkommensschwächeren unteren 40% der Beschäftigten vom durchschnittlichen Anstieg der Realeinkommen ein Stück weit begegnet werden.

Aber auch die Einkommensteuer selbst sollte reformiert werden. Sie galt lange Zeit als „Königin der Steuern“, weil sie aufkommensstark und mit ihrem Progressionstarif dem Umverteilungsziel verpflichtet ist. Aufkommensstark ist sie immer noch, dem Umverteilungsziel dagegen ist sie zunehmend weniger verpflichtet. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen wurde zu Beginn der 2000er Jahre der Spitzensteuersatz von 53% auf 42% gesenkt, und zum anderen wurde die Grenze, ab der der Spitzensatz gilt, spürbar verringert, um so die Steuerausfälle zu begrenzen. Vor 20 Jahren wurden die Einkommen eines Singles über 61 376 Euro mit 53% belastet. Heute greift der Spitzensteuersatz bereits ab 54 058 Euro. Sieht man von der 2007 dazugekommenen Reichensteuer ab, die nur das oberste knappe Prozent der Topverdiener trifft, so wurde der Tarif stark gestaucht.

Hinzu kommen die heimlichen Steuererhöhungen. Bekannt ist die „kalte Progression“, wenn infolge von Inflation Steuerzahler stärker belastet werden, obwohl ihr Realeinkommen konstant bleibt. Seit 2017 werden diese inflationsbedingten heimlichen Steuererhöhungen durch entsprechende Tarifkorrekturen rückwirkend kompensiert. Nicht berücksichtigt bleiben dagegen die die Progressionszone ebenfalls zusammenstauchenden und damit die Umverteilungsintensität des Tarifs verringernden Steuererhöhungen aufgrund allgemein steigender Realeinkommen. Dies hat zur Folge, dass immer mehr Steuerzahler den Steuertarif nach oben wandern, auch wenn ihre relative Einkommensposition in der Gesellschaft unverändert bleibt. Damit rutschen immer mehr Bezieher mittlerer Einkommen in den Bereich hoher, aber kaum mehr steigender Grenzsteuersätze. Musste man 1960 das Achtzehnfache des Durchschnittslohns verdienen und vor 20 Jahren immerhin noch fast das Zweieinhalbfache, um vom Spitzensatz betroffen zu sein, so ist es heute nur noch das Anderthalbfache. Das dämpft die steuerliche Umverteilung deutlich und lässt den Spitzensteuersatz bereits bei mittleren Einkommen greifen. Dass hier Reformbedarf besteht, müsste eigentlich über die Parteiengrenzen hinweg unstrittig sein.

Die Progressionszone, die heute nur noch 10% der Breite des Progressionsbereichs vor 60 Jahren umfasst, sollte wieder ausgedehnt und die Einkommensgrenzen gemäß der Nominallohnentwicklung dynamisiert werden. Zudem gehört die unsystematisch an den Tarif angeflanschte Reichensteuer in den Steuertarif integriert. Nicht zuletzt aber gilt es zu berücksichtigen, dass derzeit Arbeitnehmereinkommen zwischen 54 058 und 76 200 Euro sowohl mit dem Spitzensteuersatz als auch mit Beiträgen zur Renten- und Arbeitslosenversicherung belastet werden. Daher liegt es nahe, die Tarifkurve so abzuflachen und zu verlängern, dass der heutige Spitzensatz von 42% nicht vor dem Erreichen der dynamischen Beitragsbemessungsgrenze zur Rentenversicherung greift. Zudem sollte dieser Steuersatz kontinuierlich bis auf 45% steigen und – derzeit – für Alleinstehende nicht vor 80 000 Euro greifen.

Aus allen im Bundestag vertretenen Parteien gibt es Forderungen, die Abgeltungsteuer abzuschaffen und Kapitaleinkünfte wieder mit dem persönlichen Steuersatz zu belasten. Das ist steuersystematisch geboten, wäre aber unklug. Derzeit basieren drei Viertel des Abgeltungsteueraufkommens aus Dividenden. Eine deutlich höhere Besteuerung von Dividenden als mit 25% bis allenfalls 30% ist verfassungsrechtlich kaum möglich, da diese Gewinne ja schon beim Unternehmen besteuert wurden. Hinzu käme ein beachtlicher Verwaltungsaufwand, denn die gesamten Kosten für Berechnung und Abführung der Steuer auf die Kapitaleinkünfte würden von den Banken wieder auf Finanzämter verlagert. Außerdem müssten dann Verluste etwa aus Aktiengeschäften mit anderen Einkunftsarten verrechnet werden dürfen. Zudem wäre mit einem Wiederanstieg der Steuervermeidungsstrategien zu rechnen.

Fiskalisch und verteilungspolitisch klüger wäre es, den Abgeltungssatz moderat anzuheben. So ließen sich die zu erwartenden Steuerausfälle durch die Abflachung und Verlängerung des Tarifs ein Stück weit gegenfinanzieren. Gleichzeitig stiege die Umverteilungsintensität der Besteuerung, die Belastung mit Zwangsabgaben auf Erwerbseinkommen von abhängig Beschäftigten würde sinken, aber dennoch würde in der Summe nur eine begrenzte Zahl von Steuerzahlern zusätzlich belastet. Solch ein Paket sollte in allen realistischen Koalitionsvarianten der nächsten Bundesregierung realisierbar sein. Merkwürdig, dass man in den Parteizentralen der Unionsparteien, SPD, Grünen oder FDP noch nicht darauf gekommen ist.

  • 1 Statistisches Bundesamt, Stand Dezember 2016.
  • 2 B. Kaltenborn: Grundsicherungsleistungen im Alter: Zugänge und Rentenbezug, Forschungsbericht zum FNA-Projekt, Nr. 1/2016.
  • 3 OECD: Pensions at a Glance 2015, Key findings Germany, Dezember 2015.
  • 4 Deutsche Rentenversicherung.
  • 5 OECD: Taxing Wages 2017.
  • 6 Arbeitnehmeranteil an den Sozialbeiträgen: 20,5%; Rentneranteil: 10,95%; (1200 Euro x 32 Mio. sozialversicherungspflichtig Beschäftigten x 20,5%) + (1200 Euro x 21 Mio. Rentenempfänger x 10,95%) = 10,6 Mrd. Euro.

Zur Diskursethik in „postfaktischen Zeiten“

Insbesondere im Vorfeld von Wahlen ist der Anreiz für die Parteien stark, mit großzügigen Leistungsversprechen sozialpolitische Kompetenz zu signalisieren. Dabei scheint die Liste der Handlungsfelder nahezu endlos. Umso wichtiger ist eine Antwort auf die Frage nach den drängendsten Problemen, um angesichts der Knappheit der Ressourcen auch in der Sozialpolitik Orientierung zu behalten. Dabei drängt sich mit Blick auf die mediale Berichterstattung der Eindruck auf, dass Fragen der Einkommens- und Vermögensverteilung sowie der Alterssicherung als besonders problematisch wahrgenommen werden. Oft steht dabei allerdings weniger der nüchterne Befund im Fokus als das Anprangern von Missständen. Dazu werden Sachverhalte bisweilen mit emotionalen Bildern unterlegt, ohne im Einzelnen den Nachweis zu erbringen, ob die damit verbundenen Erwartungen und Sorgen einer empirischen Überprüfung standhalten. Das gilt z.B. für die Skandalisierungen der Einkommensverteilung oder die Appelle an diffuse Ängste vor steigender Altersarmut. Im gleichen Atemzug werden Begriffe wie Gerechtigkeit oder Solidarität bemüht, die eine Problemlösung suggerieren, ohne aber auszuführen, welche konkreten Vorstellungen sich hinter diesen Konzepten verbergen. Die wissenschaftliche Diskursethik verlangt dagegen eine Differenzierung zwischen Fakten und normativen Aussagen, wobei Werthaltungen nicht nur auszuweisen sind, sondern auch einer expliziten Begründung bedürfen.

Doch reicht allein der Wettstreit um das bessere Argument, um drängende Probleme zu identifizieren? Zur Diskussion stehen ja nicht Befunde und Bewertungen zu einem singulären Thema. Vielmehr erfordert die Beantwortung der Ausgangsfrage eine vergleichende Bewertung unterschiedlicher Problemlagen. Für den Ökonomen offenbart sich dabei ein grundlegendes Dilemma in der Auseinandersetzung mit sozialpolitischen Fragestellungen. Denn eine wissenschaftlich begründete Antwort erfordert nicht nur eine methodisch gesicherte Befundung, sondern auch ein Kriterium für die Abwägung zwischen den Verwendungsalternativen. Die Allokation knapper Ressourcen ist zwar ureigener Gegenstand ökonomischer Forschung. Deshalb scheint gerade die Volkswirtschaftslehre prädestiniert zu sein, soziale Probleme nach ihrer Dringlichkeit zu priorisieren. Doch sobald nicht allein nach dem Effizienzkriterium über die Mittelverwendung entschieden werden soll – das ist z.B. der Fall, wenn Sozialpolitik eine Korrektur von Marktergebnissen anstrebt –, vermag die Ökonomie kaum alternative Normen jenseits des ihr innewohnenden liberalen Werturteils zu begründen, nach denen sozialpolitische Handlungsfelder gegeneinander abgewogen werden können.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass im Folgenden keine Liste der drängendsten sozialpolitischen Probleme erwartet werden darf, ohne nicht auch exogene Wertvorstellungen einzubeziehen. Verzichtet man in diesem Forum aber auf eine Diskussion außerökonomischer Normen – das soll im Folgenden handlungsleitend sein –, so vermag die Disziplin dennoch Beiträge zur Eingrenzung möglicher Problemfelder zu leisten. In der hier gebotenen Kürze lassen sich dafür allerdings nur kursorisch Beispiele anbringen.

Wahrgenommene und tatsächliche Einkommensverteilung

So kommen in den verschiedenen Positionen zur Gestaltung der Steuer- und Transferpolitik auch die unterschiedlichen Vorstellungen über eine gerechte Einkommensverteilung zum Ausdruck. Im Kontext der hier behandelten Fragestellung ist von Bedeutung, wie diese Positionen begründet werden. Oftmals wird dazu auf die Entwicklung der Einkommensverteilung Bezug genommen. Dabei unterscheidet sich die Wahrnehmung in der Bevölkerung von den empirischen Befunden. Das gilt für viele Gesellschaften, ist aber unter anderem in Deutschland deutlich ausgeprägt. Dieser Tatbestand ist bedeutsam, weil die individuelle Bewertung von Einkommensunterschieden sowie die Umverteilungspräferenzen tendenziell stärker mit der subjektiv empfundenen Ungleichheit zusammenhängen als mit der empirisch belegten Einkommensverteilung.1 Umso wichtiger ist deshalb eine Argumentation auf Basis von Fakten, statt an „gefühlte Wahrheiten“ zu appellieren. Analysiert man die Einkommensverteilung im Zeitverlauf, dann wird zudem deutlich, dass der Befund von der Wahl des Betrachtungszeitraums abhängt. Denn seit der Wiedervereinigung lassen sich drei Phasen unterscheiden, in denen sich z.B. die gesellschaftliche Mitte in unterschiedliche Richtungen entwickelt hat. Demnach ist die Gruppe der Personen mit bedarfsgewichteten Nettoeinkommen zwischen 80% und 150% des Median von 1991 bis 1997 von 50,5% auf 54,8% angestiegen und danach wieder bis zum Jahr 2005 auf 49,7% gesunken. Seitdem ist das Schichtgefüge in einem Konfidenzintervall von 95% nahezu unverändert geblieben. Ähnlich stabil erweist sich deshalb auch der Anteil der armutsgefährdeten Personen seit 2005, insbesondere wenn man die Entwicklung am aktuellen Rand um den Einfluss der Bevölkerung mit jüngerem Migrationshintergrund bereinigt.2

Mithin lässt sich das Votum für oder gegen eine gegenüber dem Status quo abweichende Umverteilungspolitik nur schwerlich mit der Entwicklung gesellschaftlicher Schichten begründen. Denn allein das Feststellen von Stabilität oder Veränderung erlaubt noch keine Bewertung der Einkommensverteilung, weil offen bleibt, welches Referenzjahr den mehrheitlichen Verteilungspräferenzen entspricht. Wohlgemerkt, ein Votum für mehr oder weniger staatliche Umverteilung bleibt dem Einzelnen dabei unbenommen. Aber es lässt sich kaum aus der historischen Entwicklung der Einkommensverteilung herleiten und erfordert zumindest im wissenschaftlichen Kontext eine alternative Begründung. Dabei muss diese dem Einwand der tatsächlichen Verteilung der Abgabenlasten standhalten. Immerhin schultern die Haushalte des obersten Dezil, die rund 28% aller Haushaltsbruttoeinkommen beziehen, 48% des Einkommensteueraufkommens. Bezieht man die Verteilung der Mehrwertsteuerlast mit ein, dann reduziert sich zwar der Anteil am kumulierten Steueraufkommen, er bleibt aber mit 37% immer noch überproportional hoch.3

Alterssicherung und Armutsgefährdung im Alter

Im Kontext der Alterssicherung wird aber erst gar nicht mit der tatsächlichen Einkommensverteilung argumentiert, sondern mit der vermuteten künftigen Entwicklung von Armutsrisiken. Dabei machen sich die Protagonisten der unterschiedlichen Reformvorschläge einen Kunstgriff der Wirtschaftswissenschaften zu eigen und argumentieren unter ansonsten unveränderten Bedingungen. So erscheint es zunächst einleuchtend, dass bei einem sinkenden gesetzlichen Sicherungsniveau Ruheständler künftig mit höherer Wahrscheinlichkeit armutsgefährdet sein werden als heute. Dieser Argumentation stehen aber gleich mehrere Einwände entgegen: Zunächst unterliegen neben der gesetzlichen Rentenversicherung weitere relevante Einflussfaktoren einer Veränderung, die mithilfe der Ceteris-Paribus-Bedingung ausgeblendet werden. Da Armutsgefährdung im Haushaltskontext gemessen wird, sind sowohl die Einkommen aus der betrieblichen und privaten Altersvorsorge mit in die Betrachtung einzubeziehen als auch die Einkommen des Partners. Auf die künftige Entwicklung von Armutsrisiken im Alter wirken also Veränderungen des Erwerbsverhaltens, des Vorsorgeverhaltens sowie der Haushaltszusammensetzung ebenso ein wie die Veränderung des gesetzlichen Rentenniveaus. Zieht man des Weiteren die Möglichkeit einer gemeinsamen Vorsorgeplanung in Betracht, ist das Vorsorgeverhalten auf Haushaltsebene statt auf individueller Ebene zu diskutieren.4 Mehr noch muss für eine Prognose künftiger Armutsgefährdung auch eine Annahme über die Entwicklung der gesamten Einkommensverteilung getroffen werden, da das Risiko relativ zum Medianeinkommen definiert ist. Eine Begründung staatlicher Eingriffe steht mithin auf wackeligem Fundament, wenn sie sich allein auf das regelgebundene Absinken des gesetzlichen Sicherungsniveaus bezieht.5

Aber selbst dann lässt sich eine Stabilisierung oder gar Erhöhung des gesetzlichen Rentenniveaus kaum mit dem Ziel der Armutsprävention begründen. Zum einen wäre ein solches Instrument wenig treffsicher, da auch Ruheständler von einer verbesserten gesetzlichen Versorgung profitieren würden, die keiner Hilfe bedürfen. Zum anderen schützt ein höheres Sicherungsniveau nur dann wirksam vor Armut, wenn allein aufgrund dieser Anhebung die Schwelle zur Armutsgefährdung oder zum Grundsicherungsanspruch überwunden wird. Mit diesem Einwand soll das Problem der Altersarmut keineswegs bagatellisiert werden. Spezifische Lösungen z.B. für das Problem der verschämten Altersarmut sind unverändert gefragt. Wenn aber langfristige Armutsprävention für breite Bevölkerungsschichten im Mittelpunkt steht, muss dann der Blick nicht vielmehr auf die Befähigung der Individuen gelenkt werden, ein ausreichendes Erwerbseinkommen zu erzielen und abzusichern, statt die Statik einer funktionierenden Alterssicherung zu gefährden?6

Intergenerative Dimension des Solidaritätsbegriffs

Schließlich wird insbesondere im Kontext der gesetzlichen Krankenversicherung auf den Begriff der Solidarität verwiesen, um z.B. eine Erweiterung des Kreises der Pflichtversicherten sowie eine Verbreiterung der Beitragsbemessungsgrundlage zu begründen. Unabhängig von der inhaltlichen Positionierung suggeriert dieser Bezug, dass es sich dabei um ein eindeutig definiertes Konzept handele. Auch wenn die Zustimmung in der Bevölkerung zum Solidaritätsprinzip als hoch unterstellt werden darf, wird das Prinzip in der theoretischen Literatur nur abstrakt definiert. Einerseits gilt das Einstehen des Kollektivs für ein notleidendes Mitglied als zentral (der Stärkere hilft dem Schwächeren), andererseits werden aber auch die Verpflichtungen des Mitglieds betont, sowohl das ihm Mögliche zur Vermeidung des „Schadenfalls“ zu leisten als auch zur Hilfe Notleidender nach Maßgabe seiner eigenen Leistungsfähigkeit beizutragen. Wo aber die Verpflichtung endet, und unter welchen Voraussetzungen ein Anspruch gegenüber der Gemeinschaft entsteht, das lässt sich erst im Konkreten bestimmen.

Angewendet auf die gesetzliche Krankenversicherung zeigt sich in den Wirkungen, die aus der Beitragsfinanzierung erwachsen, dass das Solidaritätsprinzip hier in zwei Dimensionen zerfällt. Unter Solidarität im engen Sinne kann der Risikoausgleich zwischen Mitgliedern verstanden werden, die sich in ihrem Gesundheitsrisiko nach Geschlecht, Alter und Prädisposition unterscheiden, aber unabhängig von ihrer individuellen Risikoausprägung zur Beitragszahlung veranlagt werden. Mit Solidarität im weiten Sinne lässt sich dagegen ein sozialer Ausgleichsmechanismus abgrenzen, der sich aus einer einkommensbezogenen Beitragsfinanzierung ergibt, die selbst bei identischen Gesundheitsrisiken je nach individueller Leistungsfähigkeit zu unterschiedlich hohen Beitragsforderungen führt.7

Abstrahiert man zunächst von dem sozialen Ausgleich und unterstellt dazu, dass der Solidarausgleich über einen für alle Versicherten gleich hohen, risikounabhängigen Beitrag hergestellt werden soll, dann muss sich dieser nach der Höhe der durchschnittlich erwarteten Behandlungsausgaben im Kollektiv richten. Bei einem altersabhängig steigenden Gesundheitsrisiko zahlen also die Mitglieder jüngerer Kohorten einen höheren Beitrag als es ihrer altersgerechten Ausgabenerwartung entspricht; spiegelbildlich profitieren ältere Mitglieder. In der Solidargemeinschaft entsteht ein Risikoausgleich zwischen Jung und Alt.

Sobald aber das Versichertenkollektiv altert, werden die Altersklassen mit überdurchschnittlich hohen Ausgabenrisiken häufiger besetzt. Selbst wenn das Gesundheitsrisiko in jedem Lebensalter unverändert bleibt, steigt damit die durchschnittliche Ausgabenerwartung im Kollektiv – einfache Simulationen legen bis zum Jahr 2050 einen Anstieg um gut ein Fünftel gegenüber dem Status quo nahe. Damit steigen die Kosten des Risikoausgleichs für die Mitglieder jüngerer Kohorten im Vergleich zu den Mitgliedern vorangegangener Jahrgänge, ohne dass daraus für den Einzelnen ein höherer Versorgungsanspruch resultiert. Mithin bleibt Solidarität zwischen Jung und Alt im Querschnitt der Gemeinschaft zu jedem Zeitpunkt gewahrt. In einer alternden Bevölkerung erfolgt dies aber zulasten der Mitglieder nachfolgender Kohorten; der Solidarausgleich zwischen Jung und Alt erzeugt einseitige Belastungen.

In ähnlicher Weise wirkt der demografische Wandel auch auf den Teil des sozialen Ausgleichs, der sich auf die Einkommensumverteilung zwischen Jung und Alt bezieht. Denn bei lohnproportionalen Beiträgen ist der Finanzierungsbeitrag der Ruheständler systematisch niedriger als bei erwerbstätigen Mitgliedern, solange das beitragspflichtige Alterseinkommen lediglich einen Teil des entsprechenden Erwerbseinkommens ersetzt. Steigt der Anteil älterer Menschen, sinkt der über das gesamte Kollektiv erzielte Durchschnittsbeitrag unter ansonsten gleichen Bedingungen. Wird ein daraus resultierendes Finanzierungsdefizit über einen höheren Beitragssatz ausgeglichen, müssen die Mitglieder nachfolgender Kohorten eine höhere soziale Ausgleichslast schultern als die vorausgegangener Jahrgänge, ohne dass daraus für den Einzelnen ein höherer Versorgungsanspruch entsteht. Auch hier bleibt der Ausgleich zwischen Jung und Alt im Querschnitt der Solidargemeinschaft zu jedem Zeitpunkt gewahrt, während sich im Zeitverlauf Inkonsistenzen ergeben.

Diese modellhaften Überlegungen sprechen keineswegs gegen das Solidarprinzip. Sie decken aber auf, dass allein der Verweis auf eine etablierte sozialpolitische Norm nicht ausreicht, um eine Erweiterung der bestehenden Sicherungssysteme zu begründen. Im Gegenteil hilft die Analyse ökonomischer Effekte hier, Inkonsistenzen normativer Grundpositionen aufzuspüren.

Normatives Fazit

Der Beitrag mag jene Leser enttäuschen, die eine konkrete Antwort auf die Ausgangsfrage erwartet haben. Stattdessen zielen die Ausführungen auf die Metaebene und beantworten die Frage, was Ökonomen in Zeiten „postfaktischer“ Argumentationsmuster zur gesellschaftlichen Debatte beitragen können – nämlich Fakten zur Beschreibung und Einordnung sozialer Probleme, ökonomische Bewertungen zur Auswahl sozialpolitischer Instrumente sowie eine spezifische Perspektive bei der Diskussion gesellschaftlicher Werte. In einem normativen Sinne sind die Ausführungen deshalb nicht nur als Plädoyer zu verstehen, die ökonomische Perspektive systematisch in sozialpolitische Fragestellungen einzubinden, sondern dieses ist gleichsam verbunden mit der Aufforderung an den Ökonomen, Rechenschaft über die eigenen, auch impliziten Werthaltungen abzulegen, um in gesellschaftspolitisch relevanten Diskussionen einen rationalen Diskurs sowohl über Fakten als auch über Werte führen zu können. Denn möglicherweise besteht gerade in einer mangelnden Unterscheidung dieser Dimensionen eines der drängendste Probleme für die sozialpolitischen Debatten unserer Zeit.

  • 1 J. Niehues: Subjektive Ungleichheitswahrnehmung und Umverteilungspräferenzen – ein internationaler Vergleich, in: IW-Trends, 41. Jg. (2014), H. 2, S. 75-91.
  • 2 J. Niehues: Die Mittelschicht in Deutschland. Vielschichtig und stabil, in: IW-Trends, 44. Jg. (2017), H. 1, S. 3-20.
  • 3 M. Beznoska, T. Hentze: Die Verteilung der Steuerlast in Deutschland, in: IW-Trends, 44. Jg. (2017), H. 1, S. 99-116.
  • 4 M. Beznoska, J. Pimpertz: Neue Empirie zur betrieblichen Altersvorsorge – Verbreitung besser als ihr Ruf, in: IW–Trends, 43. Jg. (2016), H. 2, S. 3-19.
  • 5 S. Kochskämper, J. Pimpertz: Die gesetzliche Alterssicherung auf dem Prüfstand, IW-Analysen, Nr. 115, Köln 2017, S. 11 ff.
  • 6 J. Pimpertz: Gegen Alarmismus und Bagatellisierung – empirische Befunde zur Altersarmut und wirtschaftspolitische Empfehlungen, in: Sozialer Fortschritt, 62. Jg. (2013), H. 10-11, S. 274-282.
  • 7 S. Kochskämper, J. Pimpertz: Welche Umverteilungswirkungen deckt das Solidaritätsprinzip in der Gesetzlichen Krankenversicherung ab? in: IW-Trends, 42. Jg. (2015), H. 1, S. 105-119.

Weshalb die soziale Ungleichheit in Deutschland zunimmt und was politisch dagegen getan werden muss

Die soziale Ungleichheit ist für marktwirtschaftlich organisierte Industriegesellschaften konstitutiv, weil einem Teil der Bevölkerung die Produktionsmittel, Unternehmen und Banken gehören, während ein anderer Teil nur seine Arbeitskraft zu verkaufen hat. Im digitalen Finanzmarktkapitalismus der Zukunft bestehen die Interessengegensätze zwischen Kapital und Arbeit fort, der nicht darauf beschränkte Antagonismus von Arm und Reich verschärft sich allerdings erheblich, tritt noch deutlicher als in früheren Geschichtsperioden zutage und überlagert sie.

Seit geraumer Zeit bildet die wachsende soziale Ungleichheit das Kardinalproblem der Menschheit schlechthin. Im globalen Maßstab resultieren daraus Krisen, Kriege und Bürgerkriege, aber auch Flüchtlingsströme unbekannten Ausmaßes, denn Armut ist gewissermaßen die Mutter aller Migrationsbewegungen.1 Im nationalen Rahmen stiftet die zunehmende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen ebenfalls Unfrieden, obwohl es hierzulande aufgrund des gegenüber Staaten der sogenannten Dritten bzw. Vierten Welt erheblich höheren Wohlstandsniveaus bisher (noch) nicht zu größeren sozialen und politischen Verwerfungen gekommen ist, sieht man davon ab, dass sich Ärmere immer weniger an Wahlen beteiligen, wodurch es zu einer Krise der politischen Repräsentation kommt: Große soziale Ungleichheit führt die politische Gleichheit, Grundlage und Inbegriff der westlichen Demokratie, letztlich ad absurdum.2

Die zerrissene Republik

Betrachtet man die Sozialstruktur der Bundesrepublik, zeichnet sich eine Polarisierung ab, die auch im internationalen Vergleich extrem stark ausgeprägt ist. „In Deutschland sind Reichtum und Wohlstand nicht nur auf eine kleinere Bevölkerungsgruppe begrenzt als in anderen Ländern, sondern diese kleine Gruppe der Reichen hält auch einen deutlich größeren Anteil des Gesamtvermögens im Land.“3

Wie im Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung erneut dokumentiert, zeigt sich die Verteilungsschieflage vornehmlich beim Vermögen, das sich zunehmend bei wenigen Hyperreichen konzentriert, die über riesiges Kapitaleigentum verfügen und meistens auch große Erbschaften machen. Während die reichsten 10% der Bevölkerung laut dem Regierungsbericht 51,9% des Nettogesamtvermögens besitzen, kommt die ärmere Hälfte der Bevölkerung gerade einmal auf 1%.4 Stellt man die statistische Unsicherheit bei der Erfassung von Hochvermögenden in Rechnung, dürfte die reale soziale Ungleichheit noch viel größer sein, als es solche Zahlen erkennen lassen. Jedenfalls schätzt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), dass sich ein Drittel (31% bis 34%) des Gesamtvermögens beim reichsten Prozent der Bevölkerung und zwischen 14% und 16% des Gesamtvermögens beim reichsten Promille der Bevölkerung konzentriert.5 Über 40 Mio. Menschen leben hingegen quasi von der Hand in den Mund, pointiert formuliert: Sie sind nur eine Kündigung oder eine schwere Krankheit von der Armut entfernt.

Für das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem sind Armut und Reichtum bis zu einem bestimmten Grad funktional. „Armut oder, besser gesagt, relative Armut ist wahrscheinlich die notwendige Begleiterscheinung einer von ihrer Ausrichtung her meritokratischen Gesellschaft, in der sich ein jeder nach seiner Leistung einen Platz erobert.“6 Während die Armut als Drohkulisse, Druckmittel und Disziplinierungsinstrument gegenüber davon Betroffenen wirkt, erscheint Reichtum als Lockmittel, Motivator und Leistungsmotor für die Angehörigen der Mittelschicht. Armut wird nicht als gesellschaftliches Problem, vielmehr als selbst verschuldetes Schicksal begriffen, das im Grunde eine gerechte Strafe für den fehlenden Willen oder die Unfähigkeit darstellt, sich bzw. seine Arbeitskraft auf dem Markt mit ausreichendem Erlös zu verkaufen, wie der Reichtum umgekehrt als angemessene Belohnung für eine Leistung betrachtet wird, die im Falle eines Börsenspekulanten auch ganz schlicht darin bestehen kann, den guten Tipp eines Anlageberaters zu befolgen.

In der Bundesrepublik galt jahrzehntelang das soziale Aufstiegsversprechen, dem sie auch ihren großen wirtschaftlichen Erfolg verdankte: „Wer sich anstrengt, fleißig ist und etwas leistet, wird mit lebenslangem Wohlstand belohnt.“ Aufgrund der globalen Finanzkrise 2008/2009 ist es der Angst vieler Mittelschichtangehöriger gewichen, trotz guter beruflicher Qualifikation und harter Arbeit sozial abzusteigen. Da die soziale Aufstiegsmobilität spürbar nachgelassen hat,7 saugen rechtspopulistische Parteien wie die Alternative für Deutschland (AfD) und Gruppierungen wie die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) Honig aus der zunehmenden Verteilungsschieflage, die ihre demagogische Propaganda als Ergebnis der Machenschaften einer korrupten Elite und einer Welle der Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme („Flüchtlingskrise“) deutet. Arbeitsmigranten, Geflüchtete und Muslime werden hierdurch zu Sündenböcken für die Zunahme der sozialen Ungleichheit.

Für Julian Bank und Till van Treeck stellt die Ungleichheit in Deutschland hauptsächlich deshalb „ein Problem dar, weil sie eine ungleiche Verteilung von Freiheit und politischen Einflusschancen mit sich bringt, zu makroökonomischer Instabilität beiträgt und Teilhabechancen untergräbt. Somit ist die Ungleichheit gleich mit drei Krisen verwoben, die nicht getrennt voneinander betrachtet werden können: einer Krise der Demokratie, der sozialen Teilhabe und der ökonomischen Stabilität – eine Melange mit Sprengkraft, wie am wachsenden Erfolg demokratie- und menschenverachtender Ideologien deutlich wird.“8 Die soziale Ungleichheit fördert mithin Tendenzen der gesellschaftlichen Desintegration, der wirtschaftlichen Depression und der politischen Desorientierung.

Dass die Gesellschaft zunehmend in Arm und Reich zerfällt, ist kein unsozialer Kollateralschaden der Globalisierung, sondern „hausgemacht“, d.h. durch falsche Weichenstellungen der politisch Verantwortlichen bedingt. Die sozialen Polarisierungstendenzen lassen sich auf die öffentliche Meinungsführerschaft des Neoliberalismus und von ihm durchgesetzte oder beeinflusste Reformen zurückführen.9 Selbst die EU-Kommission attestierte der Bundesregierung in ihrem jüngsten Länderbericht, die soziale Spaltung vorangetrieben zu haben: „Im Zeitraum 2008-2014 hat die deutsche Politik in hohem Maße zur Vergrößerung der Armut beigetragen, was auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass die bedarfsabhängigen Leistungen real und im Verhältnis zur Einkommensentwicklung gesunken sind.“10 Als für die genannten Polarisierungstendenzen ursächlich erwähnt der Bericht auch den Verzicht auf die Erhebung der Vermögensteuer seit 1997, die Absenkung des Einkommensteuerspitzensatzes von 53% auf 42% und die Einführung der pauschalen Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge.

Politische Fehlentscheidungen

Hier seien Entwicklungsprozesse in drei Kernbereichen des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems angeführt, die auf politischen Fehlentscheidungen der Regierungen unterschiedlicher Zusammensetzung bzw. der sie tragenden Parteien beruhen:

  • Durch die Teilprivatisierung der Altersvorsorge und die Einführung der Riester-Rente kurz nach der Jahrtausendwende, also schon vor Gerhard Schröders berühmt-berüchtigter Bundestagsrede, die den Namen „Agenda 2010“ trägt, ist der Sozialstaat im Allgemeinen und die gesetzliche Rentenversicherung im Besonderen ein Stück weit demontiert worden.11 Trotz jahrzehntelanger Beschäftigung und Beitragszahlung können Arbeitnehmer ihren gewohnten Lebensstandard im Alter damit nicht mehr halten. Denn das Sicherungsniveau vor Steuern ist von seinerzeit 53% auf 48% des Durchschnittsverdienstes heute gesunken. 43% kann es im Jahr 2030 erreichen, ohne dass die Bundesregierung eingreifen muss; 41,7% hat Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles für das Jahr 2045 errechnen lassen, wenn dem nicht durch eine neuerliche Rentenreform begegnet wird.
  • Durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes wurde der wachsende Niedriglohnsektor, in dem mittlerweile fast ein Viertel aller Beschäftigten tätig ist, zum Haupteinfallstor für Erwerbs-, Familien- bzw. Kinder- und spätere Altersarmut. Mit den „Agenda“-Reformen wurde der Kündigungsschutz gelockert, die Leiharbeit liberalisiert und die Lohnarbeit prekarisiert (Einführung der Mini- und Midijobs sowie Erleichterung von Werk- und Honorarverträgen). Die mit dem im Volksmund „Hartz IV“ genannten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt drastisch verschärften Zumutbarkeitsregelungen und drakonische Sanktionen der Jobcenter insbesondere für Unter-25-Jährige, denen nach zwei Pflichtverletzungen (z.B. Ablehnung eines Bewerbungstrainings und Abbruch einer Weiterbildungsmaßnahme) die Geldleistung entzogen und die Miete nicht mehr bezahlt wird, setzten auch Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften unter enormen Druck. Unter dem Damoklesschwert von Hartz IV akzeptierten diese Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen und Senkungen der (Real-)Löhne. Niedrigere Löhne, beispielsweise von Leiharbeitern in der Automobilindustrie, führten zu höheren Unternehmensgewinnen. So bezieht das reichste Geschwisterpaar der Bundesrepublik, die Konzernerben Stefan Quandt und Susanne Klatten, im Frühsommer 2017 für das Vorjahr eine neuerliche Rekorddividende in Höhe von 1,074 Mrd. Euro nur aus BMW-Aktien.
  • Mit der Agenda 2010 war eine Reform der Einkommen- und der Unternehmensbesteuerung verbunden, die zur Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich beigetragen hat. Hohe (Kapital-)Einkommen und Unternehmensgewinne werden seither geringer als jemals zuvor nach 1945 besteuert, während die der rot-grünen Regierung folgende erste Große Koalition unter Angela Merkel die Mehrwertsteuer von 16% auf 19% erhöhte, obwohl die CDU-Vorsitzende im Wahlkampf nur eine Anhebung um zwei Prozentpunkte gefordert und die SPD gegen diese „Merkel-Steuer“ polemisiert hatte. Firmenerben wurden kaum noch besteuert, weshalb das Bundesverfassungsgericht von ihrer „Überprivilegierung“ sprach. Nach der Reform des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes durch CDU, CSU und SPD kann man jedoch unter bestimmten Voraussetzungen weiterhin einen ganzen Konzern erben, ohne auch nur einen Cent betriebliche Erbschaftsteuer zahlen zu müssen.12

Für eine Agenda der Solidarität als Grundlage einer inklusiven Gesellschaft

Wenn man Inklusion nicht bloß als (sonder-)pädagogisches Prinzip, sondern auch – in einem sehr viel umfassenderen Sinne – als gesellschaftspolitisches Leitbild begreift, muss ein inklusiver Wohlfahrtsstaat, der eine gleichberechtigte Partizipation aller Wohnbürger am gesellschaftlichen Reichtum wie am sozialen, politischen und kulturellen Leben ermöglicht, das Ziel sein. Nötig wäre ein Paradigmenwechsel vom „schlanken“ zum interventionsfähigen und -bereiten Wohlfahrtsstaat. Grundlage dafür müsste ein Konzept bilden, das unterschiedliche Politikfelder (Arbeitsmarkt-, Sozial- und Steuerpolitik) so miteinander verknüpft, dass die Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen gelingt.

Die vom SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Martin Schulz verlangte „Stabilisierung des Rentenniveaus“ reicht als Zielmarke nicht aus, weil dieses schon heute viele hunderttausend Arbeitnehmer im Alter kaum mehr vor Armut schützt. Neben einer Wiederherstellung des früheren Sicherungsniveaus vor Steuern und einer Überführung der Riester-Verträge in die gesetzliche Rentenversicherung wäre eine Umwandlung der dafür geeigneten Versicherungszweige in eine solidarische Bürgerversicherung nötig. Selbstständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister müssten einbezogen, neben Löhnen und Gehältern auch Kapitalerträge (Zinsen, Dividenden) sowie Miet- und Pachterlöse verbeitragt werden. Nach oben darf es im Grunde weder eine Versicherungspflichtgrenze noch Beitragsbemessungsgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben, in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen und sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte ganz oder teilweise zu entziehen. Auf der Leistungsseite könnte eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie (sanktionslose) Mindestsicherung dafür sorgen, dass alle Wohnbürger nach unten abgesichert sind, auch solche, die im bisherigen System keine oder unzureichende Anwartschaften erworben haben.

Nötig ist außerdem die Zurückdrängung des Niedriglohnsektors durch eine Reregulierung des Arbeitsmarktes, wozu neben der von Martin Schulz angeregten Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Beschäftigungsverhältnissen ein auf mehr als 10 Euro brutto pro Stunde erhöhter Mindestlohn ohne Ausnahmen (für Langzeitarbeitslose, Jugendliche ohne Berufsabschluss, Kurzzeitpraktikanten und Zeitungszusteller), eine Überführung der Mini- und Midijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse sowie ein Verbot oder eine starke Beschränkung der Leiharbeit gehören.

Hartz IV, d.h. jenes Gesetzespaket, das den institutionellen Kern der Agenda 2010 bildet und von Martin Schulz bisher nur im Hinblick auf das Schonvermögen (Forderung nach Verdoppelung des allgemeinen Freibetrages von 150 auf 300 Euro pro Lebensjahr) angetastet wurde, ist einer Generalrevision zu unterziehen. Vordringlich wären eine spürbare Erhöhung der Regelbedarfe, die schon 2005 nicht auskömmlich waren und seither nicht in dem Maße angehoben worden sind, wie die Lebenshaltungskosten stiegen, die Wiederherstellung des Berufs- und Qualifikationsschutzes, damit Hartz-IV-Betroffene nicht unabhängig von ihrer Ausbildung jeden Job annehmen müssen, was sie oft als demütigend empfinden, und die Abschaffung der Sanktionen (zumindest ein Moratorium, bis das Bundesverfassungsgericht sein Urteil dazu fällt), damit ihr soziokulturelles Existenzminimum gesichert bleibt.

Älteren Erwerbslosen im Falle einer Maßnahme der beruflichen Weiterbildung, Qualifizierung oder Umschulung ergänzend zu dem auf höchstens zwei Jahre begrenzten Arbeitslosengeld I ebenfalls bis zu 24 Monate lang ein „Arbeitslosengeld Q“ zu zahlen, wie Martin Schulz und Andrea Nahles vorschlagen, ändert nichts an dem Problem, dass immer weniger der sich arbeitslos Meldenden überhaupt Arbeitslosengeld I erhalten, weil sie wegen einer zu kurzen Versicherungszeit keinen Anspruch darauf erworben haben. Damit ein großer Teil der Erwerbslosen nicht mehr sofort Hartz IV anheimfällt, sollte die Rahmenfrist nach Ansicht der SPD von zwei Jahren auf mindestens drei Jahre verlängert werden, in der Anspruchsberechtigte weniger als zehn Monate lang versicherungspflichtig gewesen sein müssen, und/oder diese Anwartschaftszeit dauerhaft (auf die Hälfte oder ein Drittel) verkürzt werden. So sinnvoll die Wiedereinführung eines Rechtsanspruchs auf Weiterbildungsangebote und Qualifizierungsmaßnahmen wäre, so fragwürdig ist die Kopplung eines längeren beitragsfinanzierten Transferleistungsbezugs an die dem Tauschprinzip nachempfundene Aktivierungsphilosophie des „Förderns und Forderns“, weil damit Druck auf die Betroffenen, denen man Passivität und Desinteresse unterstellt, ausgeübt werden soll.

Wer den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und Armut wirksam bekämpfen will, muss die jahrzehntelange Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben beenden und für mehr Steuergerechtigkeit sorgen. Dazu sind die Wiedererhebung der Vermögensteuer, eine höhere Körperschaftsteuer, eine vor allem große Betriebsvermögen stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranziehende Erbschaftsteuer, ein progressiver verlaufender Einkommensteuertarif mit einem höheren Spitzensteuersatz und eine auf dem persönlichen Steuersatz basierende Kapitalertragsteuer (Abschaffung der Abgeltungsteuer) nötig. Umgekehrt sollte die Mehrwertsteuer, von der Geringverdiener und Transferleistungsbezieher mit Kindern stark betroffen sind, weil sie fast ihr gesamtes Einkommen in den Alltagskonsum stecken (müssen), möglichst gesenkt werden.

  • 1 Vgl. hierzu: C. Butterwegge, G. Hentges (Hrsg.): Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik, 4. Aufl., Wiesbaden 2009; B. Milanović: Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht, Berlin 2016; A. Deaton: Der große Ausbruch. Von Armut und Wohlstand der Nationen, Stuttgart 2017.
  • 2 Vgl. dazu: M. Linden, W. Thaa (Hrsg.): Die politische Repräsentation von Fremden und Armen, Baden-Baden 2009; dies. (Hrsg.): Ungleichheit und politische Repräsentation, Baden-Baden 2014; A. Schäfer: Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, Frankfurt a.M., New York 2015.
  • 3 M. Fratzscher: Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird, München 2016, S. 47.
  • 4 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.): Lebenslagen in Deutschland. Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bericht, April 2017, S. 132 und S. 510.
  • 5 Vgl. C. Westermeier, M. M. Grabka: Große statistische Unsicherheit beim Anteil der Top-Vermögenden in Deutschland, in: DIW-Wochenbericht, Nr. 7/2015, S. 123 ff.
  • 6 I. Kloepfer: Aufstand der Unterschicht. Was auf uns zukommt, o.O. 2008, S. 281.
  • 7 Vgl. O. Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, 3. Aufl., Berlin 2016. Es handelt sich bezogen auf Deutschland allerdings weder um einen „Fahrstuhleffekt“ (Ulrich Beck) noch um einen „Rolltreppeneffekt“ (Oliver Nachtwey), sondern eher um einen Paternostereffekt: Während die einen nach oben fahren, fahren andere nach unten, weil Armut und Reichtum strukturell miteinander verbunden sind.
  • 8 J. Bank, T. van Treeck: „Unten“ betrifft alle: Ungleichheit als Gefahr für Demokratie, Teilhabe und Stabilität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Nr. 10/2015, S. 46.
  • 9 Vgl. hierzu ausführlicher: C. Butterwegge, B. Lösch, R. Ptak: Kritik des Neoliberalismus, 3. Aufl., Wiesbaden 2016.
  • 10 Europäische Kommission: Länderbericht Deutschland 2017 mit eingehender Überprüfung der Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte, Brüssel, 22.2.2017 – Staff Working Document (2017) 71 final, S. 7
  • 11 Vgl. C. Butterwegge: Die Entwicklung des Sozialstaates, Reformen der Alterssicherung und die (Re-)Seniorisierung der Armut, in: C. Butterwegge, G. Bosbach, M. W. Birkwald (Hrsg.): Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung, Frankfurt a.M., New York 2012, S. 33 ff.; ergänzend: C. Butterwegge: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 5. Aufl., Wiesbaden 2014, S. 113 ff.
  • 12 Vgl. zur Verwässerung der Erbschaftsteuerreform: C. Butterwegge: Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung. Eine sozial- und steuerpolitische Halbzeitbilanz der Großen Koalition, Wiesbaden 2016, S. 30 ff.

„Involutionen“: Soziale Ursachen des Demokratierückbaus oder Drängende soziale Probleme und bedrängende Autokratisierung

Unser Beitrag zielt auf „The Shape of Things to Come“, so der Titel von H. G. Wells’ Dystopie von 1933 über das Jahr 2106, wobei Wells sich immerhin ein „Ende gut, alles gut“ erhoffte. Wir beobachten seit der Jahrtausendwende Veränderungen der politischen Systeme im Westen und drumherum, die vielerorts in eine autokratische, anti-rechtsstaatliche, die Demokratie rückbauende Richtung gehen. Im Dezember 2016 starrten wir auf Hofer/Van der Bellen, im November 2016 auf Trump/Clinton, im Januar 2017 auf Wilders/Rutte, im Frühjahr 2017 auf Le Pen und ihre drei zentraleren Konkurrenten. Zugleich warnt die OECD seit längerem und immer wieder vor zunehmender sozialer Ungleichheit in genau diesen Ländern, zuletzt 2015 mit „In it Together – Why Less Inequality Benefits All“. Aber wir haben im öffentlichen Bewusstsein, im politischen Handeln und in der wissenschaftlichen Betrachtung lange Zeit keine Zusammenhänge zwischen beiden Entwicklungen gesehen. Zu lange: erst jetzt, da das Kind schon beinahe in den Brunnen gefallen ist, merken einige auf.

Uns Deutschen sticht dabei vornehmlich im Zentrum des Westens der neu etablierte Donald Trump samt der älteren, weiter östlichen Rand-Konstante Wladimir Putin ins Auge, und als bislang jüngstes Extrem, wieder „am Rande“ (aber doch auch sehr in unserer Mitte), Recep Tayyip Erdoğan. Doch das Phänomen ist im Westen noch viel weiter verbreitet und weit endemischer. Ein besorgter Beobachter aus den USA, Peter J. Katzenstein (Cornell University), fasste das Anfang Januar 2017 in einem Gedankenaustausch mit einem von uns so zusammen: „This is not only an American story but a global one so the two flow together. And because of that German and European exceptionalism is being eroded from within – in France and Britain of course, in Hungary, Austria and Poland of course, in Southern Europe, of course. So how long Frau Merkel will stem the tide or be replaced or adjust to it remains to be seen. I think you have it just right, these things come gradually, and [the] second time as farce, and with history rhyming not repeating, they will look differently. But the ground is shifting. We [in the US] are drifting by the day toward a Latin American Presidential model – with the haze of sleaze within weeks becoming a dense fog.“

Die demokratischen Institutionen erweisen sich selbst in gefestigten Demokratien, wie den USA, als weit fragiler, als wir je gedacht haben. Aber die Veränderungen kommen nicht in einem „großen Ruck“ als Revolution oder Revolte, sondern schleichend, als „Involution“, als Rückbildung in kleinen Schritten, als Schwächung von Institutionen. Der Blick zurück in die Zwischenkriegszeit gibt diesen heutigen Geschehnissen weitere Schärfe und Tiefe, denn die USA balancierte in Roosevelts Zeiten schon einmal auf einem engen Grat am Rande dieses Abgrunds, in den die Weimarer Republik bekanntlich stürzte. Heute könnte man fast schon zu dem Schluss gelangen, Angela Merkel und Justin Trudeau seien die letzten Mohikaner eines gefestigten demokratischen Westens der alten Art.

Die autokratischen Besonderheiten

Was ist das Besondere an diesen autokratischen Entwicklungen hin zum Western Caudillo? Das Besondere scheint in den drei Merkmalen zu liegen,

  • dass die gesellschaftlichen Ursprünge in lange vernachlässigten sozialen Verwerfungen im jeweiligen Land liegen: Deindustrialisierung, Einwanderungsschübe, regionale Disparitäten, usf. Dabei nehmen diese Verwerfungen jeweils andere Formen an: in Frankreich wegen des Kolonialerbes und Algerienkrieges; in den USA wegen des Immigrationsdrucks aus Lateinamerika und des Bürgerkriegserbes; in Deutschland wegen der zwei Weltkriege, dem Nationalsozialismus und dem Wiedervereinigungserbe.
  • dass von den Populisten als politische Gegenmaßnahmen keine weiteren neoliberalen Rezepte des Sozialstaatsabbaus propagiert werden, sondern zum einen eine Reorientierung sozialstaatlicher Programme in Richtung sozialer Schließung gegen „Ausländer“, insbesondere Migranten, und zum anderen ein wirtschaftspolitischer Protektionismus/Nationalismus/Anti-Globalismus, der als Beschäftigungssicherungsprogramm, also auch als eine Art von Sozialpolitik, offeriert wird.
  • dass dahinter der Glaube steht, nur ein geschlossener Nationalstaat könne vor den weltweit drohenden Gefahren – vor allem der Migration und der internationalen Konkurrenz – schützen, weshalb auch die Europäische Union und der Euro abzulehnen sind.

Die „neue Rechte“ in Deutschland, die Alternative für Deutschland (AfD), profiliert sich genau so, aber auch Marine Le Pen, Donald Trump, Viktor Orbán, Jarosław Kaczyński und andere mehr. Am aufschlussreichsten für die Lage erweisen sich dabei in Frankreich Romane mit autobiografischer Färbung wie die von Didier Eribon (Rückkehr nach Reims, 2016), Aurélie Filippetti (Das Ende der Arbeiterklasse: Ein Familienroman, 2014) und Edouard Louis (Das Ende von Eddy: Roman, 2015) und in den USA intensive qualitative Feldstudien wie die von Arlie Hochschild (Strangers in Their Own Land: Anger and Mourning on the American Right, 2016). Sie lassen die individuellen Länderschicksale, die Umbrüche im System gesellschaftlicher Arbeit und gesellschaftlichen Reichtums und in der politischen Repräsentation erkennen. An solchen erfahrungsgesättigten, breit aufgegriffenen Selbstverständigungen aus der Bundesrepublik ist bislang Fehlanzeige.

Was nun?

Was lehrt uns diese Entwicklung? Offenbar setzt die westliche Demokratie eine wirtschaftlich halbwegs gefestigte Gesellschaft mit nicht zu viel Ungleichheit – und vor allem mit allseits greifbaren individuellen Aufstiegsperspektiven – voraus, also eine Gesellschaft in Mittellage mit tolerablem Gini-Koeffizienten. Gerät dieses Gleichheitsgefüge ins Wanken und ist keine Chance auf Re-Stabilisierung in Sicht, kann das schnell ins politische System durchschlagen und es umformen – zumal dann, wenn, wie 2007 bis 2009, eine Weltwirtschaftskrise die Unsicherheit darüber, ob ein sozialer Ausgleich überhaupt weiter machbar ist, sich fest in den Köpfen verankert hat.

Bei der heutigen Krise kommt erschwerend hinzu, dass sich die gesellschaftliche Ungleichheitsagenda seit den 1970er Jahren massiv verkompliziert hat. Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch und noch bis ans Ende des „goldenen Zeitalters“ (Eric Hobsbawm) in den 1970er Jahren stand im Westen die Einkommensungleichheit und ihre Begrenzung klar im Vordergrund – später kam die ihr vorgelagerte Ungleichheit im Zugang zu Bildung hinzu. Bildungschancen wurden ja vor allem als Chancen gesehen, Berufe ergreifen zu können, in denen man mehr verdiente. Seitdem haben sich aber vielfältige kulturelle Ungleichheiten in den Vordergrund geschoben, bei denen es um die Nicht-Anerkennung und Diskriminierung von Identitäten und Lebensweisen geht: Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderung oder „Ethnie“ – worunter genau besehen bestimmte, nicht alle, Nicht-Inländer und/oder Nicht-Christen gefasst werden, inklusive Flüchtlinge. Nicht zuletzt, weil der „kurze Traum immerwährender Prosperität“ (Burkart Lutz) und der „Fahrstuhl-Effekt“ (Ulrich Beck) Einkommensfragen eine Zeitlang weniger virulent erscheinen ließen, konnten „neue soziale Bewegungen“ mit diesen Anliegen auf die politische Bühne drängen, bald zusätzlich parlamentarisch durch die Grünen repräsentiert, die dann auch den anderen Parteien bis hin zu den Christdemokraten Beine machten.

So weit, so gut. Kaum jemand bestreitet, dass es sich um legitime Anliegen handelt, die politisch aufgegriffen werden sollten. Doch gleichzeitig kehrten die Einkommens­ungleichheiten zurück, vor allem für die unteren sozialen Schichten und die untere Mittelschicht. Als sie aber diese Nöte oder zumindest Ängste den Politikern nahe zu bringen versuchten, mussten sie feststellen, dass die Bühne dafür schon besetzt war und die „Altparteien“ sie quer durch die Bank enttäuschten. Die Frustration darüber, dass man – wie es den Betreffenden erschien – kein Gehör mehr findet, steigerte sich schnell in Ressentiments gegen Schwule, Ausländer, Behinderte, Frauen usf. und deren „Luxus“-Wehwehchen, wie die viel zitierten öffentlichen Toiletten für eine nach oben offene Zahl weiterer Geschlechtsidentitäten. Dagegen wird nun rabiat eingefordert, dass jetzt „wir“ „normalen“ „Deutschen“ mal wieder dran sind. Doch die unnormalen Anderen weisen ungerührt darauf hin, dass ihre Forderungsliste noch längst nicht abgearbeitet ist.

Verknäuelte Ungleichheiten

Und nun haben wir den Schlamassel unentwirrbar erscheinender ineinander verknäuelter ökonomischer und kultureller Ungleichheiten – insbesondere auch deshalb so unentwirrbar, weil ein und dieselbe Person in einer Hinsicht benachteiligt, in einer anderen bevorzugt sein kann, oder auch in beiden Hinsichten benachteiligt: Die lesbische Bankerin, der freigesetzte Industriearbeiter Anfang Fünfzig oder der prekär beschäftigte wissenschaftliche Mitarbeiter stehen für viele andere Ausprägungen dieser drei Grundmuster. Das politische Problem besteht darin, dass solche Problemknäuel – Ende der 1960er Jahre sprachen die Politikwissenschaften noch von „wicked problems“ – allzu leicht schrecklichen Vereinfacherern den Weg bahnen. So auch hier, und übrigens auf beiden Seiten: Der Rechtspopulismus der „guten Deutschen“ findet sein Gegenstück im eiskalten „Multikulti“-Desinteresse derer, die in ihren Wohnvierteln keine Asylantenheime dulden, an den Problemen des tagtäglichen Miteinanderlebens, die solche Einrichtungen zwangsläufig für die einheimischen Nachbarn mit sich bringen.

Und weil nun die kulturelle und politische Hegemonie derer, die – aus sehr unterschiedlichen Gründen – für Globalisierung optiert haben, droht, an der Globalisierungsverweigerung der Verängstigten und Verlierer zu scheitern, leben wir möglicherweise mitten in einer Umbruchzeit zu einer zweiten Epoche der Entglobalisierung. Die erste Welle der Globalisierung endete plötzlich, mit dem Ersten Weltkrieg. Es brauchte bis zu den 1960er Jahren, um eine zweite Welle anzustoßen. Die zweite Welle der Globalisierung endet nun nicht plötzlich, sondern in kleinen Schritten, „not with a bang but a whimper“ (T. S. Eliot): Hier ein nicht abgeschlossenes TTIP oder TPP, dort erhöhte Handelszölle, hier ein Brexit, dort eine unterwanderte NAFTA, hier ein nicht befolgter WTO-Schiedsspruch, dort ein Sonderdeal für eine untergehende Industrie.

Die Einhegung von Ungleichheit durch Vollbeschäftigung­(-spolitik) und sozialstaatliche Programme im „golden age“, einsetzend in der Mitte der 1950er Jahre, schuf diejenige soziale Sicherheit, die es zunächst erlaubte, die protektionistisch gewährten „alten“ Sicherheiten Schritt für Schritt abzubauen, sich offenen Märkten anzuvertrauen und dabei „externe Schocks“ intern sozial und universal abzupuffern. Das geschah zunächst innereuropäisch durch die Europäische(n) Gemeinschaft(en) und dann die Europäische Union und sodann weltweit durch das GATT und dann die WTO. Seit den 1980er bzw. 1990er Jahren findet ein Umbau von Sozialstaatlichkeit statt, der die Sozialausgaben – entgegen den Hoffnungen der Neoliberalen – quantitativ nicht zurückfährt, aber mit anderen Akzenten verteilt. Zum einen gibt es zahllose Maßnahmen, die den durch kulturelle Ungleichheiten Benachteiligten zugute kommen sollen – und nun den Zorn der ökonomisch Benachteiligten auf sich ziehen, die zudem von Kürzungen betroffen sind. Zum anderen wird ihr Zorn noch mehr dadurch geschürt, dass ihnen darüber hinaus noch zugemutet wird, ein „unternehmerisches Selbst“ (Ulrich Bröckling) zu werden, dass völlig einseitig Arbeitsmarktrisiken, die sich nicht zuletzt aus den Unternehmensstrategien ergeben, ohne zu murren schultert. Aus solchen Politiken erwachsen die Ängste und die Wut, wo­raus sich die Verschiebungen im politischen Spektrum speisen. In Ländern wie den USA, in denen der Sozialstaat viel selektiver ausgebaut ist als in Europa, wird das alles früher, schneller und brutaler greifbar.

Ist Demokratie also, was ihre Gegner immer wieder ins Feld geführt und ihre Anhänger immer wieder befürchtet haben, eine Schönwetter-Regierungsform? Dagegen lässt sich anführen, dass etwa Großbritannien die Angriffe durch Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg demokratisch durchgestanden hat – sicher auch, weil der für alle gemeinsame Feind eine Schicksalsgemeinschaft erzeugt hat. Braucht es also einen Krieg und externe Feinde, um Demokratie zu festigen? Das wäre eine höchst problematische Rückversicherung. Die USA zeigten in der New-Deal-Ära wenn auch nur knapp, dass auch nicht-kriegerische Anlässe dazu führen können, dass eine Nation über alle Interessenunterschiede hinaus zusammenhält, anstatt sich zu spalten. Deutschland in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg wäre vielleicht ein anderes Beispiel dafür.

Was könnte in der derzeitigen Situation sich konflikthaft immer weiter zuspitzender und demokratiegefährdender Ungleichheiten zur gemeinsamen Sache aller werden? Dass eine Antwort hierauf noch schwerer als in früheren Zeiten fällt, ist wiederum auf die Globalisierung zurückzuführen. Denn die Zunahme der Einkommensungleichheiten in den Gesellschaften des Westens liegt ganz entscheidend daran, dass das Großkapital zum global vagabundierenden „vaterlandslosen Gesellen“ geworden ist. Es entzieht sich der Schicksalsgemeinschaft – und ganz analog verziehen sich im Übrigen auch die Reichen und Superreichen in Steueroasen und „gated communities“. Das ist die Aufgabe, der sich Politik, auch international koordiniert, heute stellen muss: Wie gelingt es, die als Arbeitsplatzbereitsteller und Steuerzahler gleichermaßen unverzichtbaren Großunternehmen in Politiken einzubinden, die sowohl die ökonomischen als auch die kulturellen Ungleichheiten erträglicher machen?

Wissenschaftlich aufklärbar

Das ist eine ganz große Frage, die nicht nur politisch, sondern auch sozialwissenschaftlich völlig ungelöst ist – aber dringend auf Lösungsvorschläge wartet, die diskutiert werden können. Mit Blick auf die Sozialwissenschaften gilt leider, dass sie das alles so nicht in den Blick nehmen wollen. Sie sind häufig zu spezialisiert, um auf das große Ganze zu schauen. Die Soziologen widmen sich Teilphänomenen der „Gesellschaft“, die Politikwissenschaftler blicken aufs „politische System“ und seine Verwerfungen en detail, die Historiker rücken zwar als „neueste Geschichte“ immer näher an die Politikwissenschaftler und Soziologen heran, aber sie trauen sich dann häufig nur zu, über gegenwärtige Diskurse – zu denen es schriftliche Dokumente gibt – zu reden. Was tatsächlich jenseits des Redens getan worden ist, muss die Sperrfrist der Archive abwarten, bevor es historisch in Augenschein genommen wird. Das ist unbefriedigend.

Schließlich die Wirtschaftswissenschaften: Sie haben in den zurückliegenden Jahrzehnten in mehr und mehr sozialwissenschaftlichen Themenfeldern die Deutungsherrschaft übernommen. Unbestritten haben sie ein gewichtiges Wort mitzureden, wenn es um Ungleichheiten geht. Aber man muss auch festhalten, wo diese Disziplin an ihre Grenzen stößt: wenn es um andere als ökonomische Ungleichheiten geht; wenn man verstehen will, wie die Menschen Ungleichheiten – auch ökonomische – subjektiv deuten; und wenn, daran anschließend, die Praktiken des Umgangs mit Ungleichheitserfahrungen betrachtet werden. Hier verhalten sich reale Menschen und gesellschaftliche Gruppen bekanntermaßen keineswegs so, wie es der „homo oeconomicus“ uns nahelegt. Umso wichtiger, dass sich die Soziologie und die Politikwissenschaften wieder mit voller Kraft einschalten.

Wenn die Zeichen nicht trügen, sind wir mitten in einem Umbruch, der noch nicht „locked in“, also noch nicht fixiert, abgeschlossen und „endgültig“ ist. Es wäre also sehr lohnend, sich mit offenen Augen auf die „neueste Geschichte“ und ihre Entwicklungstrends mit Blick auf soziale Ungleichheit und Demokratieverformung im Westen zu konzentrieren. Das würde sich vor allem für die Bundesrepublik lohnen. Denn sie ist derzeit noch relativ stabil, wenn wir sie mit den Ländern um uns herum vergleichen – und sie wird in diese Stabilität auch rechtzeitig „investieren“ müssen, wenn sie nachhaltig bleiben soll. Wenn das keine „große Herausforderung“ für die Sozialwissenschaften ist, was dann?

Title:The Social Situation – What Are the Most Urgent Problems?

Abstract:Democracy seems to be at risk. People elect populists and autocrats, who offer simple solutions to social problems. Often, these problems are not even real ones but are only perceived as such. Economists have measures to determine which problems are fact-based, but they cannot draw a clear distinction between academic analysis and normative demand. If politics pursues a correction of a market outcome, any normative criteria other than efficiency have to be outlined explicitly. Nevertheless, some authors consider inequality one of the central contemporary social and economic challenges. Marcel Fratzscher emphasises that the solution is not found in more redistribution via taxes and transfers, but rather through greater equality of opportunity and social and educational mobility. Bert Rürup thinks that to stabilise the acceptance of the compulsory pension scheme, the dominance of the equivalence principle should be reduced. Further, the existence of different federal subsidy schemes should be replaced by a fixed federal contribution rate in alignment with the pension expenditures. In an international comparison, the fiscal burden for households with small and mid-level earned incomes is exceptionally high in Germany. In order to reduce this burden, Rürup suggests a contribution-free allowance for the social insurance contributions.

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DOI: 10.1007/s10273-017-2139-9

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