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Eine universelle Übereinkunft darüber, was Geld eigentlich ist, gibt es nicht. Geld wird in einem Prozess geschöpft, an dem die Zentralbank, Geschäftsbanken und Haushalte, der Staat und Unternehmen beteiligt sind. Deren Rolle wurde im Monatsbericht der Deutschen Bundesbank vom April 2017 erläutert. Damit wurde eine Diskussion vor allem zu zwei Fragestellungen ausgelöst: Benötigen Banken Sparer, um Kredite zu vergeben, oder schöpfen sie Geld einfach selbst? Welche Beziehung besteht zwischen Geldbasis und Geldmenge?

Die Deutsche Bundesbank nimmt im Monatsbericht vom April 2017 zur Rolle von Banken, Nichtbanken und Zentralbank im Geldschöpfungsprozess Stellung, übrigens nicht zum ersten Mal.1 Anlass ist diesmal der empirisch zu beobachtende Fakt, dass durch die expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) zwar die Zentralbankguthaben der Geschäftsbanken im Euro-Währungsgebiet stark angestiegen sind, sich dies aber nicht im gleichen Maße auf das Geldmengenaggregat M3 ausgewirkt hat, das Bargeld, kurz- und längerfristige Bankeinlagen sowie hochliquide Wertpapiere umfasst.2 Nun ist aber dessen beschleunigtes Wachstum das eigentliche Ziel anti-deflationärer und die Konjunktur stimulierender geldpolitischer Maßnahmen.3 Dieses Phänomen – das zumindest kurzfristige Versagen der Geldpolitik – habe „das Interesse an den Zusammenhängen zwischen der Schaffung von Zentralbankguthaben und dem Wachstum der breiter gefassten Geldmenge neu entfacht“4. Dieser Zusammenhang wird bekanntlich durch die makroökonomische Geldtheorie, insbesondere durch den Aussagenkomplex zum Geldmultiplikator, dargestellt. Die entsprechende Theorie ist der Hintergrund für die Kritik an einer Reihe von „Irrtümern“, die die Bundesbank explizit und durch die Darstellung der tatsächlichen Zusammenhänge stillschweigend berichtigen möchte. Es ist eine Besonderheit dieser Publikation, dass sich die Bundesbank kritisch gegen theoretische Darstellungen des Geldschöpfungsprozesses wendet, die man in bekannten Lehrbüchern finden kann. „Widerlegt“ wird der angeblich „weitverbreitete … Irrtum, wonach die (Geschäfts-)Bank im Augenblick der Kreditvergabe nur als Intermediär auftritt, also Kredite lediglich mit Mitteln vergeben kann, die sie zuvor als Einlage von anderen Kunden erhalten hat.“5. Als Untermauerung dieser These wird auf zwei Publikationen der Bank of England verwiesen. Während man die eine Veröffentlichung der Bank of England als unmittelbare Vorlage für den Monatsbericht ansehen kann,6 wird in der anderen7 die These, dass Banken zwischen Sparern und Kreditnehmern vermitteln, noch radikaler angegriffen – eine These, die nicht nur im Mainstream der modernen Makroökonomik, sondern auch von Randschulen vertreten wird.8

Ein weiterer Kritikpunkt richtet sich gegen den „Irrtum“, dass „ein mechanistischer Zusammenhang zwischen Geldpolitik und Geldmengenentwicklung unterstellt werden“9 kann. Ähnlich wird die Kritik in der englischen Vorlage formuliert.10 Angesprochen ist die Geldmultiplikator-Theorie. Diese ist im englischen Sprachraum offenbar derart omnipräsent, dass als Adressat der Kritik einfach „textbooks“ angegeben werden können.11 In ihnen wird sie meist in den einführenden Kapiteln zur Geldtheorie abgehandelt. Eine etwas konkretere Kritik an der Geldmultiplikator-Theorie findet man bei Wissenschaftlern, die mit der Lehrbuchliteratur vertraut sind und die Kritik an der makroökonomischen Geldtheorie für gerechtfertigt halten.

Kritik an der Intermediär-Theorie

Dirk Ehnts, einer der Hochschullehrer, die eine Revision der Lehrbücher fordern, beschreibt die Intermediär-Theorie wie folgt: „Dieses Märchen verbreitet z.B. der Harvard-Professor Gregory Mankiw, dessen Lehrbuch ‚Makroökonomie‘ weltweit millionenfach verkauft wurde und auch an deutschen Universitäten gern genutzt wird. Für Mankiw sind die Banken nur Zwischenhändler, ‚Intermediäre‘ genannt: Von ihren Sparern bekommen sie angeblich das Geld, das sie dann an andere Kunden weiterverleihen. Diese Idee mag einleuchtend klingen, hat aber mit der Realität absolut nichts zu tun. Die Banken benötigen überhaupt keine Sparer, um Kredite zu vergeben. Sie sind keine ‚Intermediäre‘, sondern schöpfen das Geld einfach selbst.“12

Trifft es zu, dass sich dieser „Irrtum“ im Lehrbuch von Mankiw findet? In der Tat beginnt dort die Darstellung der Geldschöpfung mit einer „Ersten Bank“, die lediglich das Geld ihrer Kunden verwaltet, aber keine Kredite vergibt.13 Dieses vereinfachte Modell wird auf den nächsten Seiten erweitert, indem der „Ersten Bank“ erlaubt wird, mit einem Teil der Einlagen Kredite zu vergeben. Nirgendwo wird behauptet, dass Kredite stets auf den Ersparnissen der Kunden beruhen. Vielmehr besteht die Standard-Darstellung der Geldschöpfung darin, dass die „Erste Bank“ sich das erste Geld bei der Zentralbank beschaffen muss. Mankiw könnte dafür kritisiert werden, dass er diesen primären Prozess nicht ausführlich darstellt. Im Unterschied zu Ehnts’ These der „Schöpfung von Giralgeld aus dem Nichts“ unterstellt Mankiws pädagogisch vereinfachtes Modell, dass Zentralbankgeld stets eine Voraussetzung für die Vergabe von Krediten ist. Das ist auch die Position der Bundesbank, auch wenn sie diese mit einer kritischen Attitüde gegen namentlich nicht bezeichnete Lehrbücher spickt: „Das Modell des Geldschöpfungsmultiplikators, das in vielen Lehrbüchern zur Geldtheorie dargestellt wird, unterstellt, dass einer Geschäftsbank zunächst zusätzliches Zentralbankgeld zugeflossen sein muss, bevor sie zusätzliche Kredite gewähren kann, aus denen ihr Zahlungsverpflichtungen in Zentralbankgeld entstehen können. In der Praxis ist dieser Zusammenhang nicht zwingend gegeben. So sind einzelne Geschäftsbanken normalerweise stets in der Lage, sich bei Bedarf Zentralbankgeld kurzfristig über den Geldmarkt zu beschaffen – das heißt, von anderen Geschäftsbanken zu leihen. Außerdem bietet das Eurosystem den Geschäftsbanken die Möglichkeit, sich – gegen Verpfändung von ausreichenden Sicherheiten – Zentralbankgeld über Refinanzierungsgeschäfte oder ständige Fazilitäten zu beschaffen.“14

Der Hinweis, dass „in der Praxis“ einer Geschäftsbank das zur Kreditvergabe benötigte Zentralbankgeld unterschiedliche Quellen haben kann, und nicht nur auf den Spareinlagen der Kunden beruht, und dass dieses Geld bei gegebenen Spielräumen auch nicht sofort beschafft werden muss, ist der sachliche Gehalt der Bundesbank-Kritik an der Intermediär-Theorie. Der Kernaussage dieser Theorie wird jedoch nicht widersprochen: „Um die Risiken aus der Kreditgewährung einzugrenzen, muss das Bankensystem bei seinen Kunden länger laufende Einlagen einwerben … In diesem Sinne stimmt es, dass Banken Ersparnisse ihrer Kunden benötigen, um Kredite vergeben zu können.“15

Nimmt man die geldtheoretische Perspektive ein und betrachtet den Bankensektor als Ganzes, so erkennt man leicht, dass dem Hinweis auf alternative Quellen keinerlei Beweiskraft gegenüber der Intermediär-Theorie zukommt. Das von Nichtbanken eingezahlte Zentralbankgeld steht dem gesamten Bankensektor unabhängig von internen Krediten oder direkt von der Zentralbank beschafftem Geld zusätzlich zur Verfügung, um weitere Kredite zu finanzieren. In einem regulatorisch vorgegebenen Rahmen (Liquiditätsrate, Eigenkapital, Reservesatz) können die Geschäftsbanken mit dem Geld ihrer Kunden „arbeiten“. Dieser Rahmen ist sachlich unter anderem durch die Menge an Zentralbankgeld bestimmt, über die eine Geschäftsbank verfügt und die es zum größten Teil bei ihren Kunden einwirbt.16 Was die Deutsche Bundesbank wirklich über die Vermittlerfunktion von Banken denkt, zeigen die drei DSGE-Modellvarianten (Dynamic Stochastic General Equilibrium Models), mit denen sie die voraussichtlichen Effekte der Politik des „Quantitative Easings“ berechnet: In ihnen spielen die Ersparnisse der Haushalte – gehalten als zusätzliche Einlagen bei den Geschäftsbanken – eine entscheidende Rolle.17

Wenn durch die Einzahlungen der Bankkunden die Kreditmöglichkeiten für einen niedrigen Zinssatz erweitert werden, wenn eine Nachfrage nach Krediten zu einem etwas höheren Zinssatz besteht und wenn noch all die anderen Bedingungen erfüllt sind, die eine nach den Prinzipien eines ehrbaren Kaufmanns handelnde Bank prüfen wird, bevor sie einen Kredit vergibt, dann werden auch die bereits angesammelten Ersparnisse der Haushalte zur Finanzierung herangezogen. Das ist eine elementare Einsicht, die man durch differenziertere Darstellungen ergänzen kann. Um ein Beispiel zu nennen: Steigt in unsicheren Zeiten das Bedürfnis der Bankkunden nach Liquidität, so wird ein größerer Teil des Geldes in Form von Bargeld und Sichteinlagen gehalten, die sich aus Sicht der Banken wegen ihrer kurzfristigen Abrufbarkeit weniger gut vermarkten lassen als beispielsweise längerfristige Termineinlagen. Ganz gleich, wie diese Geschäfte im Einzelnen abgewickelt werden, mit diesen Ergänzungen lässt sich die zugrundeliegende, simple Wahrheit nicht leugnen: Die Spareinlagen der Kunden sind es, die es den Banken ermöglichen, über das direkt von der Zentralbank bezogene Geld hinaus weitere Kredite zu vergeben. Eben das ist die Intermediär-Funktion der Banken. Sie bewirkt, dass in einem zweistufigen Bankensystem stets mehr Geld im Umlauf ist, als die Zentralbank ausgegeben hat. Das ist der Multiplikator-Effekt. Sein Ausmaß wird durch das Verhältnis der Geldmengen-Aggregate zueinander gemessen.

Geldmultiplikator-Theorie

Die Kritik der Deutschen Bundesbank an der Theorie des Geldmultiplikators ist nicht neu und von der EZB beispielsweise bereits 2011 vorgetragen worden: „How­ever, in a situation where nominal interest rates are at, or close to, their zero lower bound, it might be argued that the central bank could provide additional stimulus to the economy by engaging in large-scale provision of central banks reserves in order to engineer an increase in the supply of money in the economy through the money multiplier. While such policies can indeed have a stimulating impact on the economy, this does not arise from a mechanical link to the supply of broad money implied by the multiplier approach.“18

Worin besteht der „mechanical link“?: „According to this approach, the money supply process is essentially driven by the actions of the central bank, which conducts monetary policy by adjusting the level of outside money. The volume of broad money supplied to the economy is then simply determined as a multiple of the monetary base, depending on the size of the money multiplier.“19 Die „mechanische Beziehung“ besteht demnach darin, den Multiplikator konstant zu setzen und des Weiteren als einen kausalen Zusammenhang zwischen „outside money“ und „inside money“ zu unterstellen. In der Tat kann man Lehrbücher finden, deren geldtheoretische Darstellungen auf den ersten Blick in diesem Sinne interpretiert werden können. So liest man bei Blanchard und Illing: „Aus Vereinfachungsgründen betrachten wir den Spezialfall, dass die Wirtschaftssubjekte ausschließlich Sichteinlagen und kein Bargeld halten… In diesem Fall ergibt sich für den Multiplikator der Wert 1/θ (θ ist der Reservesatz). Eine Ausweitung der Zentralbankgeldmenge um einen Euro führt dann zu einer Ausweitung des gesamten Geldangebots um 1/θ Euro.“20 In der Sammlung makroökonomischer Lehrbücher für deutsche Studierende findet man allerdings auch andere Interpretationen. Nach der üblichen Darstellung des multiplen Geldschöpfungsprozesses schreibt Mankiw: „…nehmen wir an, dass eines Tages die Banken aufgrund einer verschlechterten Einschätzung der ökonomischen Situation vorsichtiger werden, weniger Kredite vergeben und höhere Überschussreserven halten. In diesem Fall kann der multiple Geldschöpfungsprozess im Bankensystem nur in geringerem Ausmaß wirken, es wird weniger Geld geschöpft.“21

Demnach steckt die Theorie des Geldmultiplikators den Spielraum ab, in dem sich die Geldschöpfung der Geschäftsbanken bewegen kann. Sie definiert eine obere Schranke, die allein von der Zentralbank kontrolliert wird und aus sachlichen Gründen nicht überschritten werden kann. Ist M die umlaufende Geldmenge und E die von der Geldmultiplikator-Theorie definierte obere Schranke, so gilt vom Standpunkt der Geldmultiplikator-Theorie: M ≤ E.

Die Bundesbank verweist auf eine Reihe von Restriktionen,22 die bewirken, dass dieser sachliche Rahmen bei Weitem nicht ausgeschöpft wird. So ist auch die Aussage zu verstehen, dass „…die Fähigkeit der Banken, Kredite zu vergeben und Geld zu schaffen, nicht davon ab[-hängt], ob sie bereits über freie Zentralbankguthaben oder Einlagen verfügen. Vielmehr wird der Geldschöpfungsprozess durch eine Reihe von ökonomischen und regulatorischen Faktoren begrenzt.“23 Im Kontext gelesen wollen die Autoren damit sagen, dass freie Zentralbankguthaben oder (Kunden-)Einlagen nicht automatisch zu einer höheren Buchgeldschöpfung führen – wie man denken könnte, wenn man die Geldmultiplikator-Theorie deterministisch auslegt. Keinesfalls wollen sie aber bestreiten, dass Zentralbankgeld eine Voraussetzung für die Kreditgewährung der Geschäftsbanken ist. Formal stellt sich der Sachverhalt wie folgt dar: Aufgrund vielfältiger regulatorischer Beschränkungen existiert ein R, so dass M < R < E.

Ist damit die Geldmultiplikator-Theorie widerlegt? Nein. Das wäre nur dann der Fall, wenn M > E. Wenn aber keine reale Situation E < R vorstellbar wäre, könnte man sagen, dass die Geldmultiplikator-Theorie durch die Existenz von R überflüssig geworden ist. Doch auch das ist nicht der Fall!

Variabilität des Multiplikators

Der Geldmultiplikator ist eine Beziehung zwischen Zentralbankgeld B und einem Geldmengenaggregat M, das – auf welche Definition man auch immer zurückgreifen mag – auf jeden Fall das Giralgeld einschließen muss, wobei sich Lehrbücher aus Gründen der Einfachheit eher auf M1 beziehen, und Zentralbanken wegen der höheren Parallelität zur Inflation auf M3. Aus ökonometrischer Sicht handelt es sich um einen messbaren Parameter. Sowohl im Monatsbericht der Deutschen Bundesbank,24 als auch bei Blanchard und Illing findet man Abbildungen,25 aus denen auf die zeitliche Variabilität des Multiplikators geschlossen werden kann. Den beiden Lehrbuch-Autoren kann man somit nicht unterstellen, ihren Lesern einen mechanischen oder mechanistischen Zusammenhang vermitteln zu wollen. Ähnlich wird die empirische Grundlage der Geldmultiplikator-Theorie auch in anderen Lehrbüchern dargestellt.

Wie kann man angesichts dieses seit langem bekannten Sachverhalts überhaupt auf die Idee kommen, einen variablen Parameter konstant setzen zu wollen? Das Bedürfnis dazu ergibt sich vor allem aus dem Wunsch, den weiteren Verlauf der Entwicklung zu prognostizieren. In jeder Prognose werden gewisse Parameter, von denen man annehmen kann, dass sie sich nur langsam verändern, konstant gesetzt.26 Doch spätestens seit der berühmten Lucas-Kritik27 weiß man, dass Parameter auf veränderte Rahmenbedingungen, insbesondere auf Maßnahmen der Politik, reagieren und deshalb nicht ohne Überprüfung ihrer Stabilität konstant gesetzt werden dürfen. Die „mechanische“ Interpretation der Geldmultiplikator-Theorie ist demnach bereits seit Jahrzehnten wissenschaftlich überholt. Die starke Reaktion des Multiplikators auf das Ankaufprogramm der EZB zeigt, dass in diesem Fall die Lucas-Kritik voll zutrifft und die Voraussetzungen einer Prognose nicht gegeben sind. Die wissenschaftliche Begründung des heute von den Zentralbanken vorrangig eingesetzten Instruments der Zinssteuerung stammt von William Pool, der bereits 1970 schrieb: „In principle what should be done is to treat each parameter as a random variable…“28

Deterministischer Gehalt der Geldmultiplikator-Theorie

Das zweite Element der kritisierten „mechanischen“ Interpretation besteht in der Annahme eines kausalen Zusammenhanges. Ökonomen, auch berühmte, neigen dazu, funktionelle und analytische Zusammenhänge kausal zu interpretieren. Das zeigt Gottfried Haberler für den analogen Fall des Keynes-Hicks-Multiplikators.29 Eine Konsequenz ist, dass die tatsächlich kausal wirksamen Multiplikatoren bei Weitem nicht so groß sind wie in der Theorie behauptet;30 außerdem kann sich die Wirkung bei funktionalen oder korrelativen Zusammenhängen auch in umgekehrter Richtung als theoretisch angenommen entfalten. Ähnliches gilt offenbar für den Geldmengenmultiplikator. So weisen die Kritiker durchaus berechtigt auf die in der Praxis genau umgekehrte Kausalität hin: „… the relationship between reserves and loans typically operates in the reverse way to that described in some economics textbooks.“31 Das heißt also M → B, die umgekehrte Kausalität – von der Nachfrage nach Sichteinlagen M zur Nachfrage nach Zentralbankgeld B, und nicht der „mechanische“ Zusammenhang B → M. Dies wird allerdings auch von Blanchard und Illing vertreten,32 deren Modell bei oberflächlicher Lektüre zunächst einen ganz anderen Eindruck macht.

Die kausale Interpretation eines funktionalen Zusammenhangs ist eine Hypothese, die speziellen Tests unterworfen werden müsste,33 und zwar besonders dann, wenn damit weitreichende handlungsrelevante Konsequenzen verbunden sind. Auf solche Tests wird in den kritisierten Lehrbüchern nicht verwiesen. Der Grund ist einfach: Es wird kein kausaler Zusammenhang vom Typ B → M unterstellt.34 Die „mechanische“ Interpretation findet man vielleicht in älteren Lehrbüchern; wenn nicht, ist sie eine Erfindung der Kritiker. Man muss allerdings die Lektüre weit über die einführenden Kapitel hinaus ausdehnen, um zu erkennen, dass die Lehrbuchliteratur keineswegs bei der Geldmultiplikator-Theorie stehen geblieben ist. Der einzige Kausalzusammenhang, der von der Geldmultiplikator-Theorie behauptet wird, besteht in der Beziehung M ≤ E. „No further expansion of loans and deposits can occur after this point because the ratio of reserves to deposits is at its minimum acceptable level.“35 In diesem eingeschränkten „kausalen“ Sinn wird die Geldmultiplikator-Theorie auch in der von deutschsprachigen Autoren verfassten Lehrbuch-Literatur reflektiert, hier zumindest ein Beispiel: „Als theoretisches Modell erläutert der sogenannte Geldangebotsmultiplikator, wie viel Geld (M) die Kreditinstitute mit einer gegebenen Menge Zentralbankgeld (B) maximal ‚produzieren‘ können.“36

Übrigens akzeptiert auch die Bundesbank diese Kausalität, wenn sie beispielsweise die Auffassung vertritt, dass im Fall einer 100%igen Deckung von Sichteinlagen durch Zentralbankgeld eine perfekte Kontrolle über die umlaufende Geldmenge möglich wäre – ein Szenario, das sie aber aus Gründen der Flexibilität des Geldmarktes ablehnt.37 Eine 100%ige Deckung hat den Multiplikator 1 und einen Multiplikator-Effekt von 0. In diesem Fall würde nach wie vor M ≤ E gelten. Insofern kann man die Geldmultiplikator-Theorie trotz ihrer aktuellen Bedeutungslosigkeit für die Geldpolitik nicht verschrotten. Für die Erklärung des Multiplikator-Effekts – der Tatsache, dass das umlaufende Geld stets größer ist als das Basisgeld – ist sie unverzichtbar. Und widerlegt ist sie bislang auch nicht.

Makroökonomische Sicht

An die Stelle einer populären Kritik an der „mechanischen“ oder „mechanistischen“ Interpretation der Geldmultiplikator-Theorie, die niemand ernsthaft behauptet oder verteidigt, tritt bei einer wissenschaftlichen Analyse des von den Zentralbankern aufgezeigten Problems das weniger populäre, aber empirisch weitgehend bestätigte IS-LM-Modell (IS-LM = Investment-Saving/Liquidity preference-Money supply).38 Demnach korreliert eine Erhöhung der Menge verfügbaren Zentralbankgeldes positiv mit sinkenden Zinssätzen auf den Geldmärkten. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass dieser Effekt auch auf andere Weise erzielt werden kann, nämlich durch die Leitzinsen, die die Kosten zur Refinanzierung der Geschäftsbanken über Zentralbankkredite oder über Kredite am Interbankenmarkt determinieren.39 Wichtig ist, dass zwischen dem Interbankenmarkt und dem gewöhnlichen Geldmarkt, an dem Bankkunden ihre Kredite aufnehmen, unterschieden wird. Das IS-LM-Modell thematisiert den letzteren. Die Theorie behauptet weiterhin, dass niedrigere Kreditzinsen die Rahmenbedingungen für Investitionen verbessern. Aber das ist nicht die einzige Determinante der Investitionen. Es muss eine erhöhte Nachfrage nach Gütern hinzukommen, um die Erwartungen der Unternehmer zu stabilisieren, dass sich ihre Investitionen auch lohnen werden. Diese erhöhte Nachfrage nach Gütern kann nicht allein durch eventuell angeregte zusätzliche Investitionen generiert werden – dazu ist dieses Aggregat im Vergleich zum Konsum zu klein. Um die Konjunktur zu beleben, müssen folglich verbesserte Geldmarktbedingungen mit einer steigenden Nachfrage nach Gütern Hand in Hand gehen. Eben daran hat es lange Zeit in Europa gefehlt.

Diesen Zusammenhang kennt auch die Bundesbank, denn sie schreibt: „Die Kreditnachfrage wird unter anderem von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung, der erwarteten Rentabilität von Investitionsprojekten und institutionellen Faktoren bestimmt.“40 Allerdings müsste die realwirtschaftliche Nachfrage viel deutlicher hervorgehoben werden, denn sie ist nicht einfach nur ein Faktor neben anderen, sondern der entscheidende Faktor für die Nachfrage nach Krediten und damit für das Schöpfen von Giralgeld, also für die Vergrößerung von M3, die eine wichtige Rolle spielt, um deflationären Tendenzen entgegenzuwirken. Dass sich die für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlichen Autoren der Bundesbank mehr für die vielfältigen Wirkungskanäle interessieren, über die sich eine Senkung der Leitzinsen oder eine Erhöhung der Geldmenge positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken können, ist angesichts ihrer institutionellen Einbindung verständlich. Das darf aber nicht dazu verleiten, die realwirtschaftlichen Determinanten geringzuschätzen. Und schon gar nicht dazu, der modernen makroökonomischen Geldtheorie ein Zerrbild ihrer selbst zu unterstellen. Versteckt in einer Fußnote erkennt die Bundesbank an, dass ihre Kritik doch ein wenig relativiert werden müsste: „Das Verhältnis zwischen Geldmenge und Geldbasis (Zentralbankguthaben zzgl. Bargeldumlauf) wird als ‚Geldmultiplikator‘ bezeichnet. Dieser darf jedoch nicht generell im Sinne einer Kausalbeziehung zwischen Zentralbankguthaben und Geldmenge interpretiert werden. Der Geldmultiplikator ist eine reduzierte Form, die sich aus der Interaktion der verschiedenen Sektoren bei der Bestimmung von Geldmenge und Geldbasis ergibt … Für bestimmte analytische Zwecke kann die damit verbundene Vereinfachung nützlich sein. Für andere Fragestellungen ist es aber hilfreich, auf die Bestimmungsfaktoren hinter dem Multiplikator zu schauen.“41

Zusammenfassung

Die Bundesbank kritisiert zu Recht eine Interpretation der makroökonomischen Geldtheorie, die wissenschaftlich seit 40 Jahren widerlegt ist. Als Adressat werden „viele Lehrbücher“ angegeben, wobei drei prominente Beispiele belegen, dass die in Deutschland verwendeten Lehrbücher eine durchaus aktuelle und realistische Darstellung der Giralgeld-Schöpfung enthalten. Eine Reihe von Formulierungen im Monatsbericht der Bundesbank vom April 2017 sind derart unglücklich gewählt, dass sie einigen Autoren als Grundlage wissenschaftlich unhaltbarer Thesen dienen können und tatsächlich auch gedient haben. Interpretiert man diese missverständlichen Formulierungen im Kontext, so zeigt sich, dass sie sich durchaus im Rahmen der modernen makroökonomischen Geldtheorie bewegen.42 Die Kritik der Bundesbanker macht jedoch deutlich, dass die von der Geldtheorie dargestellten grundlegenden Zusammenhänge ihren Steuerungsbedürfnissen nicht mehr genügen. Denn auch die Zinssteuerung – ergänzt durch Quantitative Easing – führt nur langsam und in zu großen Bandbreiten zu der gewünschten Steigerung der Geldmenge M3, wobei deren Wirkung auf die Inflationsrate ebenfalls unsicher ist. Für Geldtheoretiker könnte es eine spannende Aufgabe sein, die zahlreichen Restriktionen der Giralgeld-Schöpfung, die von den redaktionellen Autoren der Bundesbank lediglich verbal dargestellt werden, in die Geldtheorie formal korrekt zu integrieren. Das wäre eine echte Weiterentwicklung der Theorie, die bewährte Einsichten nicht über Bord wirft, sondern vertieft. Aber auch wenn sich niemand dieser Aufgabe annähme, dürfte die These, dass Banken Geld aus Nichts schöpfen, weil es ja nur eines Federstrichs oder eines Mausklicks bedarf, um einen Kredit auf einem Konto gutzuschreiben, durch zahlreiche anderslautende Aussagen in dem zitierten Monatsbericht widerlegt sein. Irgendwie hat Mankiw schon vor vielen Jahren vorhergesehen, dass der Multiplikator-Effekt als eine Schöpfung aus dem Nichts bzw. aus Luft missverstanden werden könnte: „Auf den erste Blick mag diese Geldschöpfung innerhalb eines partiellen Reservesystems zu schön sein, um wahr zu sein, denn es scheint so, als hätte die Bank Geld aus der Luft gezaubert.“43

  • 1 Für eine einführende Darstellung der Prinzipien des europäischen Bankensystems hatte die Deutsche Bundesbank im Frühjahr 2015 eine Veröffentlichung mit dem Titel „Geld und Geldpolitik“, die in dem hier im Vordergrund stehenden Monatsbericht vom April 2017 zitiert wird; vgl. Deutsche Bundesbank: Die Rolle von Banken, Nichtbanken und Zentralbank im Geldschöpfungsprozess, Monatsbericht, 69. Jg. (2017), Nr. 4, S. 17. Daneben gibt es zahlreiche Darstellungen von Teilaspekten des Geldsystems, z.B. im Monatsbericht vom Juni 2013 (Deutsche Bundesbank: Die Umsetzung von Basel III in europäisches und nationales Recht, Monatsbericht, 65. Jg. (2013), Nr. 6), im Monatsbericht vom April 2013: (Deutsche Bundesbank: Makroprudenzielle Überwachung in Deutschland: Grundlagen, Institutionen, Instrumente, Monatsbericht, 65. Jg. (2013), Nr. 4) und im Monatsbericht vom September 2008 (Deutsche Bundesbank: Zur Steuerung von Liquiditätsrisiken in Kreditinstituten, Monatsbericht, 60. Jg. (2008), Nr. 9).
  • 2 Zur exakten Definition der Geldmengenaggregate vgl. European Central Bank: Euro area monetary aggregates and their role in the Eurosystem’s monetary policy strategy, ECB Monthly Bulletin, Februar 1999, S. 29 ff.
  • 3 „Dabei wird angenommen, dass die von Nichtbanken gehaltene Geldmenge kurz- bis mittelfristig für die Nachfrage von Gütern und Dienstleistungen verwendet werden kann und damit in engem Zusammenhang mit aggregierter Nachfrage, BIP und Preisentwicklung steht.“ Deutsche Bundesbank: Die Rolle von Banken ..., a.a.O., S. 17.
  • 4 Ebenda, S. 15.
  • 5 Ebenda, S. 20.
  • 6 Bank of England: Quarterly Bulletin, 2014 Q1, S. 3-27.
  • 7 Z. Jakab, M. Kumhof: Banks are not intermediaries of loanable funds – and why this matters, BoE Working Paper, Nr. 529, Mai 2015.
  • 8 Beispielsweise von der New Austrian School of Economics, vgl. R. W. Garrison: Time and Money. The Macroeconomics of Capital Structure, London, New York 2001, S. 50.
  • 9 Deutsche Bundesbank: Die Rolle von Banken ..., a.a.O., S. 26.
  • 10 Bank of England, a.a.O., S. 15.
  • 11 Ebenda, S. 14 f.
  • 12 D. Ehnts: Das Geld kommt aus dem Nichts, in: taz online vom 2.7.2017, http://www.taz.de/%215422477/ (22.8.2017). Der Autor beruft sich auf die oben zitierte Stelle des Monatsberichts der Deutsche Bundesbank: Die Rolle von Banken ... a.a.O., S. 20.
  • 13 Vgl. N. G. Mankiw: Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 3. Aufl., Stuttgart 2004, S. 688.
  • 14 Deutsche Bundesbank: Häufig gestellte Fragen zum Thema Geldschöpfung, https://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/FAQ_Listen/faq_zum_thema_geldschoepfung.html (22.8.2017).
  • 15 Vgl. Deutsche Bundesbank: Geld und Geldpolitik, Frühjahr 2015, Kapitel 3, S. 81; sowie Deutsche Bundesbank: Die Rolle von Banken ..., a.a.O., S. 19, Fn. 13.
  • 16 Vgl. Deutsche Bundesbank: Die Rolle von Banken ..., a.a.O., S. 17.
  • 17 Vgl. Deutsche Bundesbank: Zu den gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der quantitativen Lockerung im Euro-Raum, Monatsbericht, 68. Jg. (2016), Nr. 6, S. 42 f., vgl. auch Fn. 45.
  • 18 European Central Bank: The Supply of Money. Bank Behaviour and the Implications for Monetary Analysis, ECB Monthly Bulletin, Oktober 2011, S. 66.
  • 19 Ebenda. Die EZB erklärt auf S. 65: „Outside money“ wird von der Zentralbank bereitgestellt, „inside money“ wird von den Banken geschöpft und besteht hauptsächlich aus Einlagen.
  • 20 O. Blanchard, G. Illing: Makroökonomie, München 2004, S. 130.
  • 21 N. G. Mankiw, a.a.O., S. 694.
  • 22 Vgl. Deutsche Bundesbank: Die Rolle von Banken ..., a.a.O., S. 23 ff.
  • 23 Ebenda, S. 15.
  • 24 Ebenda, S. 16.
  • 25 Vgl. O. Blanchard, G. Illing, a.a.O., S. 112.
  • 26 Vgl. P. G. Allen: Econometric Forecasting, in: J. S. Armstrong (Hrsg.): Principles of Forecasting. A Handbook for Researchers and Practitioners, Boston, Dordrecht, London 2001, S. 317 f.
  • 27 R. E. Lucas: Econometric Policy Evaluation, in: K. Brunner, A. Meltzer: The Phillips Curve and Labor Markets, Carnegie-Rochester Conference Series on Public Policy 1, New York 1976, S. 19-46.
  • 28 W. Poole: Optimal Choice of Monetary Policy Instruments in a Simple Stochastic Macro Model, in: The Quarterly Journal of Economics, 84. Jg. (1970), H. 2, S. 215.
  • 29 G. Haberler: Mr. Keynes’ Theory of the „Multiplier“: A Methodological Criticism, in: Zeitschrift für Nationalökonomie, VII. Bd. (1936), H. 3, S. 299-305.
  • 30 Vgl. G. Quaas, M. Klein: Einnahmen- und ausgabenseitige Multiplikatoren der deutschen Volkswirtschaft, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 10, S. 692-698, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2012/10/multiplikatoren-der-deutschen-volkswirtschaft/ (22.8.2017).
  • 31 Bank of England, a.a.O., S. 15.
  • 32 O. Blanchard, G. Illing, a.a.O., S. 122.
  • 33 W. Saris, H. Stronkhorst: Causal Modelling in Nonexperimental Research, Amsterdam 1984, S. 297. Die Einschätzung, dass mehr als die Hälfte der publizierten ökonometrischen Modelle gar nicht zu den Daten passe, lässt sich aktualisieren, wenn man bedenkt, dass auch moderne Zeitreihenmodelle nur selten Kausalhypothesen aufgrund von „common causes“ testen.
  • 34 Die von der Bundesbank herangezogene Wavelet-Analyse betrifft den Zusammenhang zwischen Kreditvergabe und der Geldmenge M3, hat also mit dem hier diskutierten Zusammenhang nichts zu tun. Vgl. Deutsche Bundesbank: Die Rolle ..., a.a.O., S. 21 f.
  • 35 A. Abel, B. Bernanke, R. McNabb: Macroeconomics. European Edition, Harlow 1998, S. 573.
  • 36 R. Neubäumer, B. Hewel (Hrsg.): Volkswirtschaftslehre. Grundlagen der Volkswirtschaftstheorie und Volkswirtschaftspolitik, Wiesbaden 2001, S. 500.
  • 37 Vgl. Deutsche Bundesbank: Die Rolle von Banken ..., a.a.O., S. 33 ff.
  • 38 Die folgende Darstellung basiert im Wesentlichen auf O. Blanchard, G. Illing, a.a.O.
  • 39 Deutsche Bundesbank: Die Rolle von Banken ..., a.a.O., S. 27.
  • 40 Ebenda, S. 24.
  • 41 Deutsche Bundesbank: Die Rolle von Banken ..., a.a.O., S. 29, Fn. 35.
  • 42 Vgl. G. Quaas: Irrungen und Wirrungen im Umfeld der Geldtheorie, Wohin einseitige Darstellungen der Zentralbanken führen, MPRA Paper, Nr. #79735, 16.6.2017.
  • 43 N. G. Mankiw, a.a.O., S. 690.

Title:The Current Critique of the Macroeconomic Theory of Money

Abstract:There is no universal agreement on what money actually is. Money is created and used by the modern bank system, which can be split into the central bank, the commercial banks and the remaining sector of households, companies and states. The article focuses on bank deposits, which are created by commercial banks themselves. Bank deposits count as money in a modern economy such as Germany, where the bulk of money held by the public is in the form of deposits with banks. The other part is currency – bank notes and coins. Not accessible to the public (with some exceptions) are central bank reserves held by commercial banks with the central bank. There are two main problems which are currently being discussed by the Deutsche Bundesbank and by some more or less academic authors. First, what kind of relationship exists between base money (currency and reserves) and bank deposits? This relationship plays a crucial role in controlling and steering inflation and investment. Second, are banks lending the savings of their customers to other customers? This relationship is a cornerstone of the money multiplier theory. The answers to these two questions are not as trivial as they seem to be. Textbooks are of no help because they are the targets of the criticism made by central bank authors.

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DOI: 10.1007/s10273-017-2194-2