Energiewende: Erst reden, dann roden!
Derzeit tobt der Kampf um Strom. In Nordrhein-Westfalen wird der Kampf um den Kohleausstieg entschieden. Das lange Festhalten an der Kohle hat dazu geführt, dass Deutschland seine selbst gesteckten Klimaziele bis 2020 nicht erreicht. Wenn ein Kohleausstieg nicht heute eingeleitet wird, ist auch das Klimaziel bis 2030 nicht zu erreichen. Das Zeitfenster des Handelns schließt sich immer weiter. Im Stromsektor dürfen nur noch maximal 1,5 Giga-Tonnen CO2 emittiert werden, wenn die Pariser Klimaziele überhaupt noch erreicht werden sollen. Ein „Weiter so“ können wir uns nur noch höchstens sieben Jahre leisten, sonst erreichen wir die Klimaziele nicht.
Kohlekraftwerke passen nicht in eine nachhaltige Energiewende, sie produzieren zu große Mengen Treibhausgase und sind vor allem in Kombination mit erneuerbaren Energien zu inflexibel. Gerade die „Grundlastfähigkeit“, was übersetzt „Inflexibilität“ heißt, machen sie ungeeignet für die Energiewende. Die Energiewende, die auf erneuerbaren Energien basiert, braucht flexible, dezentrale, intelligente Systeme. Inflexible und behäbige Braunkohlekraftwerke sind nicht nötig, um sicher Strom zu produzieren, sondern: mehr erneuerbare Energien, intelligentes Energiemanagement und mittelfristig mehr Speicher. An der Braunkohle festzuhalten bedeutet, die Energiewende zu verhindern!
Die Klimaziele von Paris geben das maximale Emissionsbudget auch im Stromsektor vor, das nicht überschritten werden sollte. Ähnlich wie beim Atomausstieg könnte mit der Einführung eines maximalen Emissionsbudgets ausreichend Flexibilität geschaffen werden, um die Kraftwerksbetreiber im Rahmen des Strukturwandels und Umbaus zu unterstützen. Die ältesten und ineffizientesten Kohlekraftwerke, d. h. solche, die vor 1990 gebaut wurden, sollten möglichst rasch vom Netz. Dies würde weder in Nordrhein-Westfalen noch im restlichen Deutschland die Lichter ausgehen lassen: Deutschland produziert derzeit mehr Strom als es verbraucht. In der zweiten Phase sollte die Leistung der existierenden Kraftwerke gedrosselt werden, bis das letzte Kraftwerk vom Netz geht. Dies würde den Umbau erleichtern. Die erneuerbaren Energien müssen weiter wachsen, am besten lastnah und dort, wo es dem System am meisten nützt. Es bedarf dezentraler Netze samt intelligenter Steuerung, um die Energiewende so kosteneffizient wie möglich zu gestalten. Dies gelingt natürlich nur, wenn der Strukturwandel klug begleitet wird. Anstelle von „Kohleabwrackprämien“ für das Stilllegen von Kraftwerken zu bezahlen, die ohnehin vom Netz gegangen wären, sollten besser Finanzhilfen für betroffene Regionen und Beschäftigte bereitgestellt werden.
Derzeit tagt die Kohlekommission und ringt um Kompromisse für den Kohleausstieg und die Bewältigung des Strukturwandels. RWE setzt auf maximale Eskalation und provoziert medienwirksam einen Streit mit den Umweltverbänden. Dies ist nicht sehr klug. Man hätte als Zeichen des guten Willens die Abholzung des Hambacher Forsts aussetzen sollen, bis man in der Kohlekommission einen Ausstiegsfahrplan erarbeitet hat. Erst reden, dann roden! Denn je früher alte und ineffiziente Kohlekraftwerke vom Netz gehen, desto weniger Braunkohle muss aus den Tagebauen noch gefördert werden. Dies gilt insbesondere für den Hambacher Forst, dessen Braunkohle für die Kraftwerke in Niederaußem und Neurath genutzt wird – zwei Kraftwerke, die aufgrund ihres Alters ohnehin Abschaltkandidaten des Kohleausstiegs wären. Sollte der Streit weiter eskalieren, platzt die Kommission. Das wäre ein Desaster. Mag sein, dass sich so mancher Teilnehmer der Kohlekommission dieses Szenario wünscht, um den Kohleausstieg zu verschieben. Nun ist sowohl die Landes- als auch die Bundesregierung gefragt, dies zu verhindern und den Streit zu schlichten. Dies scheint jedoch nicht die größte Stärke der jetzigen Regierung zu sein …
Grundsteuerreform: Eine funktionsgerechte Steuer
Der Handlungsdruck bei der Grundsteuerreform ist durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom April 2018 nochmals stark gestiegen, denn es fordert eine verfassungskonforme Neuregelung bis zum 31.12.2019. In der Diskussion sind Reformvorschläge, die bis zur völligen Abschaffung und dem Ersatz durch einen kommunalen Einkommensteuerzuschlag reichen, auf eine alleinige Besteuerung des Bodenwerts oder auf eine eher schlichte rein flächenbezogene Grundsteuer ohne Wertkomponente abzielen. Im Koalitionsvertrag wird nur das mögliche Zusatzelement einer Baulandsteuer C zur Mobilisierung baureifer Grundstücke erwähnt, die Richtung der Reform selbst aber völlig offengelassen. Nicht erörtert wurde bisher die Möglichkeit, die Argumentation des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen in seiner Stellungnahme von 2010 und den bereits vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrats vom 4. November 2016 zu nutzen, um schnell eine befriedigende politische Lösung zu erreichen.
Nach Auffassung des Beirats ist die Grundbesteuerung ein unverzichtbares Instrument der Allokationspolitik. Und zwar hat sie zwei konkreten Aufgaben zu dienen: Sie muss erstens die Eigenwirtschaftlichkeit der Kommunen stärken. Und sie muss zweitens helfen, bei Infrastrukturinvestitionen die natürlichen Interessengegensätze zwischen begünstigten und nicht-begünstigten Grundstückseigentümern abzumildern und die kommunalen Entscheidungsprozesse dadurch zu erleichtern. Daher muss die reformierte Grundsteuer beide Elemente enthalten: den Bodenwert und den Gebäudewert. Die Besteuerung des Bodenwerts hilft, Interessengegensätze zu entschärfen, indem bei Grundstücken, die durch kommunale Investitionen Aufwertung erfahren, höhere Steuern fällig werden. Die Besteuerung des Gebäudewerts ist erforderlich, um die Kosten der Ansiedlung von Haushalten und Betrieben verursachungsgerecht anzulasten.
In der Diskussion um die Reform der Grundbesteuerung spielt der drohende Aufwand einer rechtssicheren Neubewertung von Grundstücken eine zentrale Rolle. Diesem Problem trägt der Gesetzentwurf des Bundesrats Rechnung, der im November 2016 eingebracht, aber nicht beschlossen wurde. Er stellt einen tragbaren Kompromiss zwischen den aufgezeigten allokationspolitischen Erfordernissen und den zu beachtenden administrativen Restriktionen dar. Das geschieht dadurch, dass beim Bodenwert auf Bodenrichtwerte zurückgegriffen werden soll, was sowohl allokationspolitisch funktionsgerecht als auch praktikabel erscheint. Der Gebäudewert soll dagegen schematisch, aber dennoch wertorientiert bemessen werden, um die einmaligen Erhebungskosten niedrig zu halten.
Der vorliegende bis ins Detail ausformulierte Bundesratsentwurf erfüllt damit weitgehend die Erfordernisse, die an eine zeitgemäße Grundsteuer zu stellen sind. In Hinblick auf die Kosten ist zu beachten, dass zu den damals 14 Bundesländern, die den Gesetzentwurf getragen hatten, alle nicht-finanzstarken Länder gehörten. Diese hätten allen Grund gehabt, zu hohe Kosten für ihre Gemeinden zu verhindern, und befanden daher die Lösung auch unter Kostenaspekten für richtig. Man kann jetzt von der im Gesetzentwurf gefundenen Lösung ausgehend zwar vielleicht beim Gebäudewert noch etwas vereinfacht und weniger wertorientiert vorgehen. Aber vor allem – und das sollte im Vordergrund stehen – hatte sich die große Mehrheit der Länder der Verantwortung gestellt, ihren Gemeinden wieder eine gute Steuer zu sichern und sich nicht unter kurzfristigen politischen Gesichtspunkten auf eine minderwertige Lösung einzulassen.
Leistungsschutzrecht: Postfaktische Politik
Am 12.9.2018 hat sich das Europäische Parlament mit großer Mehrheit dafür ausgesprochen, im Zuge der laufenden Urheberrechtsreform auch ein Leistungsschutzrecht für Presseverleger (LSR) einzuführen. Praktisch alle neutralen Kommentatoren und Experten warnten dagegen in erstaunlichem Einvernehmen mit der Zivilgesellschaft und der Internetwirtschaft vor einem solchen Schritt. Die Kritiker beriefen sich unter anderem auf handfeste empirische Belege. In zwei europäischen Ländern (Deutschland, Spanien) waren schon fünf Jahre zuvor LSR eingeführt worden. Sie sind krachend gescheitert. Gegen diese geballte Macht von Meinung, belegten Fakten und Fachwissen kämpften – weitgehend allein auf weiter Front – die Presseverlage und ihre Verbände. Ihre Strategie bestand darin, Fakten und diejenigen, die sie vorbrachten und verteidigten, zu diskreditieren. Zu diesem Zweck wurde stetig behauptet, dass sämtliche Gegenargumente und diesbezügliche Fakten falsch und von den „Internet-Giganten“ erfunden und gekauft seien. Das LSR sei unabdingbare Existenzgrundlage für die Zukunft des europäischen Qualitätsjournalismus und als Waffe gegen Fake-News (!) absolut unerlässlich. Die Leistungen der Presseverlage seien – mangels Rechtsschutz – Freiwild im Internet und würden massenhaft kopiert und gestohlen. Wer diese Behauptungen als den Unsinn entlarvte, der sie sind, wurde zumindest suggestiv als Ignorant, Lügner und verkappter Lobbyist für Google und Facebook dargestellt. Immerhin zählten hierzu einige hundert der prominentesten europäischen Ökonomen und Rechtswissenschaftler, eine gewaltige Allianz der renommiertesten Forschungsinstitute, mehrere Dutzend europäische Abgeordnete und hunderttausende Bürger.
Dass die großen Presseverlage ausgerechnet für das LSR mit Methoden streiten, mit denen sie ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen, ist erstaunlich. Selbst wenn es für die Presse um etwas wirklich Existenzielles ginge, wäre die unter dem Deckmantel von Journalismus und unabhängiger Berichterstattung geführte Meinungskampagne so mancher „Leitmedien“ unerträglich und kaum zu rechtfertigen. Aber es geht hier um das LSR, ein Recht, das bislang nur Schaden und keinen Nutzen erzeugt hat. Die erhofften Einnahmen, vor allem von Google sind ausgeblieben. Stattdessen haben alle Verlage dem Suchmaschinenanbieter eine Gratis-Lizenz zur kostenlosen Nutzung erteilt. Dagegen hat das LSR vor allem kleinen Verlagen massive Reichweitenverluste eingebracht und innovative (europäische) Online-Dienstleister vom Markt verdrängt. Es hat allein in Deutschland schon Abermillionen Rechtsverfolgungskosten verursacht. Somit hat es sämtliche Ziele verfehlt und massive Kollateralschäden erzeugt, aber trägt nichts zum Erhalt der Qualitätspresse bei.
So unklug und kurzsichtig das Verhalten der Presseverlage auch ist – es ist in gewisser Weise erklärbar. Sie machen sich schlicht falsche Hoffnungen, schätzen die Situation falsch ein und sind beratungsresistent. Das ist insoweit legitim. Jede privatwirtschaftliche Interessengruppe darf für sich fordern, was sie will, auch wenn die Forderung dumm ist. Problematisch wird es, wenn Politiker alle Warnungen und Argumente ignorieren, um plumpe Klientelpolitik zu machen. Wenn sie sich gegen die Öffentlichkeit, die Wissenschaft, die Zivilgesellschaft wenden und ihnen vorwerfen, Lügen zu verbreiten und auf Lügenkampagnen hereinzufallen. Wenn Politiker unsere Zukunft gestalten, denen das Gemeinwohl scheinbar wenig und Partikularinteressen (nicht zuletzt: die eigenen) alles bedeuten. Mit solcher Politik macht sich Europa unglaubwürdig. Solche Politik spielt Populisten in die Hände. Führt die EU gegen allen Widerstand das LSR ein (und in diesem Zuge noch andere gefährliche Elemente der Urheberrechtsreform), können ihre Gegner eine Geschichte mehr darüber erzählen, wie korrumpiert und von der Gesellschaft und der Realität der Menschen abgekoppelt das politische Establishment ist.
Organspende: Nudging rettet Leben
Ende September 2018 wandte sich der Verein „Sportler für Organspende“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit einem offenen Brief an die Mitglieder des Deutschen Bundestags. Kern dessen war die Forderung, den „Tod auf der Warteliste für Organspender zu stoppen“. Ermöglicht werden soll dies einerseits durch eine bessere Unterstützung der Kliniken und Transplantationsbeauftragten sowie durch eine verbesserte Vergütung von Organentnahmen. Andererseits wird eine veränderte Gesetzgebung im Sinne einer sogenannten Widerspruchslösung gefordert, für die sich auch Gesundheitsminister Jens Spahn Anfang September in einem Zeitungsinterview ausgesprochen hat. Hintergrund der Debatte ist die Tatsache, dass die Zahl der Organspenden in Deutschland nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation in den letzten Jahren weiter rückläufig war und 2017 mit nur 797 Spendern einen neuen Tiefpunkt erreicht hat: der niedrigste Stand seit 20 Jahren. Die Nachfrage nach Organen ist dabei ungleich größer als das Angebot: 2017 warteten in Deutschland mehr als 10 000 Menschen auf ein Spenderorgan.
Wie das Spenden von Organen geregelt ist, also wann und unter welchen Umständen die Organe einer verstorbenen Person entnommen werden dürfen, unterscheidet sich von Land zu Land. In Deutschland gilt bisher die sogenannte Entscheidungslösung. Danach ist eine Organentnahme nur dann zulässig, wenn eine Zustimmung vorliegt. Die Bürger sollen sich beispielsweise durch Informationsmaterialien der Krankenkassen (und damit auf Grundlage fundierter Informationen) mit der eigenen Spendenbereitschaft auseinandersetzen und selbst konkrete Schritte unternehmen, also z. B. einen Organspendeausweis ausfüllen. In anderen europäischen Ländern gilt hingegen eine sogenannte Widerspruchslösung. Danach können Organe zur Transplantation entnommen werden, wenn die verstorbene Person einer Organspende zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat.
Die verhaltensökonomische Forschung konnte in der Vergangenheit eindrucksvoll zeigen, dass zwar viele Menschen zur Organspende bereit sind, aber nicht die notwendigen Schritte unternehmen, um potenzielle Spender zu werden. So konnten Johnson und Goldstein 2003 für die USA in einem Experiment deutlich machen, welche unterschiedlichen Folgen die Entscheidungs- und die Widerspruchslösung haben können: Mussten sich die Befragten im Sinne der Entscheidungslösung aktiv als Organspender zur Verfügung stellen, entschieden sich nur 42 % dafür. Bei einer Widerspruchslösung, bei der sie explizit erklären mussten, dass sie nicht spenden möchten, behielten 82 % ihren Status als Spender bei. Auch in der Realität ist die Wirkung der gesetzlichen Ausgestaltung von Organspenden enorm: In Österreich sind nur 0,5 % der Bevölkerung in einem Widerspruchsregister eingetragen, in Deutschland besitzen 36 % der Bevölkerung einen Organspendeausweis. Es scheint also so, dass zwar viele Menschen grundsätzlich zu einer Spende bereit sind. Wenn es um die konkrete Umsetzung geht, sind sie aber doch träge und scheuen den organisatorischen Aufwand. Die vom Wirtschaftsnobelpreisträger Richard Thaler geprägten Nudges als Verhaltensanstöße nutzen wiederum genau diese menschliche Trägheit aus: Durch eine veränderte Entscheidungsarchitektur unterstützt die Standardvorgabe „Spender bis zum Widerspruch“, dass deutlich mehr Organe gespendet werden. Die Spenden retten Leben und entsprechen in den meisten Fällen auch dem Wunsch des potenziellen Spenders. Die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen bleibt gewahrt, wenn jedem Bürger die Möglichkeit eingeräumt wird, problemlos zu widersprechen. In Österreich reicht dazu auch ein Zettel im Portemonnaie oder ein einfaches „Nein“ im Gespräch mit Angehörigen.