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Vielfältige Krisenerscheinungen des europäischen Integrationsprozesses lassen die Frage nach den Bestimmungsgründen von „europäischer Identität“ aufkommen. Aktuelle Eurobarometer-Daten zeigen empirisch positive und negative Determinanten europäischer Identität. Auf diese Weise ist es möglich, Zielgruppen und Aspekte zu identifizieren, die Hinweise für aussichtsreiche Ansatzpunkte zur Förderung europäischer Perspektiven geben können. Beispielhaft werden sechs mögliche Projekte skizziert: ein Erasmus-Programm für Senioren (Pensioner’s Erasmus), ein Austauschprogramm für Beschäftigte (Europäische Walz), ein öffentlich-rechtlicher EU-Fernsehsender, eine EU-Bürgerversammlung, transnationale Listen für Wahlen zum Europäischen Parlament und gemeinsame EU-Konsulate.

Die politische und wirtschaftliche Integration Europas hat entscheidend dazu beigetragen, dass der Kontinent nach dem Zweiten Weltkrieg Frieden und Wohlstand erreicht hat. Auch bei der Überwindung des Ost-West-Konflikts und der Transformation der ehemals kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas haben europäische Institutionen eine wichtige Rolle gespielt. Trotz dieser Erfolge ist der europäische Integrationsprozess in eine schwere Krise geraten. In vielen europäischen Ländern nehmen Nationalismus und Populismus zu. Während der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 haben die EU-Staaten kaum kooperiert, und die Differenzen in der Migrationspolitik scheinen unüberbrückbar. Großbritannien hat beschlossen, die EU zu verlassen. Bei dieser Abwendung von europäischen Institutionen und politischen Einigungsprozessen spielt die mangelnde Identifikation vieler Menschen mit Europa eine wichtige Rolle. Bis in die 2000er Jahre hinein herrschte die Erwartung vor, dass Europa bei wachsendem Wohlstand und zunehmender ökonomischer Konvergenz friedlich zusammenwachsen und auch politisch immer enger zusammenarbeiten würde. Diesem optimistischen Szenario zufolge hätten sich Integration, Wohlstandsmehrung und Identifikation der Menschen mit Europa fortlaufend wechselseitig verstärkt.1

Die Entwicklungen seit der Finanzkrise und der Schuldenkrise im Euroraum weisen aber in eine andere Richtung. Statt einer positiven Selbstverstärkung ist eine Abwärtsspirale aus ökonomischen Krisenphasen, wachsender Skepsis über das europäische Projekt, steigendem Misstrauen zwischen den EU-Mitgliedstaaten und einer Rückwendung zum Nationalismus und der Absage an europäische Problemlösungen in Gang gekommen. Das Szenario eines Zerfalls der EU scheint dabei nicht mehr ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund erscheint es dringlich zu fragen, wie sich die Identifikation der europäischen Bürger mit Europa entwickelt und was getan werden kann, um diese zu stärken. Daher diskutieren wir, welche Faktoren die Identifikation der Bürger mit Europa beeinflussen und welche Maßnahmen ergriffen werden können, damit mehr Menschen sich für Europa interessieren und sich stärker zugehörig und beteiligt fühlen. Dabei geht es nicht darum, auf paternalistische Weise Bürger dazu zu erziehen, die europäische Integration oder die EU zu unterstützen, sondern vielmehr zu zeigen, wie sich etwa eine bessere Einbindung der Bürger in demokratische Prozesse oder vermehrte Möglichkeiten zur grenzüberschreitenden Begegnung auf das europäische Bewusstsein auswirken. Zudem sollen Wege zur besseren und neutralen Information über Europa beschrieben werden. Eine positive Entwicklung Europas erfordert eine breite, gut informierte, kritische und konstruktive Beteiligung der Bürger an der Gestaltung der europäischen Institutionen und Beziehungen.

Begriffsabgrenzung und Messung

Den Begriff „europäische Identität“ kann man wie folgt beschreiben: „Das Gefühl, Europäer zu sein ist integraler Bestandteil unserer sozialen Identität“2. Manche Autoren unterscheiden zwischen der „Identifikation als Europäer“ und der „Identifikation mit Europa“.3 Die Identifikation als Europäer bezieht sich nach diesem Konzept auf eine Selbsteinschätzung und die individuelle Positionierung zu bestimmten Ideen, während Identifikation mit Europa auf Verhaltensweisen verweist, die belegen, dass europäische Ideen „gelebt werden“. Während diese Form der Identifikation mit Europa schwer zu quantifizieren ist, kann man Identifikation als Europäer vergleichsweise leicht anhand von Umfragen messen.4 Die Umfrage „Eurobarometer“ enthält dazu umfangreiche empirische Informationen, insbesondere die sogenannte Moreno-Frage:5

„In der nahen Zukunft, sehen Sie sich da

  1. nur als [Nationalität]
  2. als [Nationalität] und Europäer/in
  3. als Europäer/in und [Nationalität]
  4. nur als Europäer/in.“6

Eine Stärke dieser Frage liegt darin, dass sie Raum lässt für duale, also nationale und europäische Identitäten, und dass sie erlaubt, diese beiden Identitäten unterschiedlich zu priorisieren. Eine starke Identifikation als Europäer ist nicht gleichbedeutend damit, die EU, ihre Institutionen, eine Vertiefung der politischen Integration oder bestimmte europäische Politiken wie etwa die EU-Regionalpolitik, die Agrarpolitik oder die gemeinsame Währung zu unterstützen. Identifikation mit Europa kann mit sehr kritischen Haltungen zur EU oder zum Euro sowie sehr unterschiedlichen Auffassungen darüber einhergehen, welche Politiken die EU verfolgt und wie sie in Zukunft weiterentwickelt werden sollten. „Unterstützung für die EU“ ist also von der Variable „europäische Identität“ klar abzugrenzen, sie ist im Rahmen dieser Untersuchung aber ebenfalls sehr relevant. Im Eurobarometer wird mit der folgenden Formulierung nach der Unterstützung für die EU gefragt:

„Ist die Mitgliedschaft (unseres Landes) in der Europäischen Union Ihrer Meinung nach

  1. eine gute Sache
  2. eine schlechte Sache
  3. weder gut noch schlecht?“7

Befragungsergebnisse: Entwicklung im Zeitablauf

Wie haben sich die Identifikation als Europäer und die Unterstützung für die EU, gemessen an Ergebnissen von Befragungen im Eurobarometer, im Zeitablauf entwickelt? Abbildung 1 illustriert die Entwicklung der Identifikation als Europäer im Zeitraum von 1992 bis 2017, für die EU insgesamt. Über den gesamten Betrachtungszeitraum hinweg sehen sich rund 90 % aller EU-Bürger primär als ihren Nationalstaaten zugehörig. Rund die Hälfte davon gibt an, sich aber auch als Europäer zu betrachten. Der Anteil der Bürger, die von einer rein nationalen Identität sprechen, hat in den Jahren der Wirtschafts- und Finanzkrise zugenommen, ist seitdem aber wieder gefallen. Der Anteil der Bürger, die sich als Bürger ihrer Nationalstaaten, aber auch als Europäer sehen, ist in den Jahren nach der Finanzkrise stetig gestiegen, heute liegt er bei über 50 %. Nimmt man diejenigen hinzu, die sich zuerst als Europäer und erst nachrangig als den Nationalstaaten zugehörig sehen und die kleine Gruppe, die sich ausschließlich europäisch fühlt, dann ergibt sich eine deutliche Mehrheit an Bürgern, bei denen man (auch) vom Vorliegen einer europäischen Identität sprechen kann. Hinter dieser Entwicklung in der EU insgesamt verbergen sich sehr unterschiedliche Trends in den einzelnen Mitgliedstaaten. In Abbildung 2 wird die seit 2005 eingetretene Veränderung illustriert.

Abbildung 1
„Moreno-Frage“ zur europäischen Identität
„Moreno-Frage“ zur europäischen Identität

Quelle: Eurobarometer 1992-2017, Moreno-Frage, gewichteter Durchschnitt für die Europäische Union insgesamt.

Abbildung 2
„Moreno-Frage“ zur europäischen Identität, Vor-Nach-Krisen-Veränderung (2005/2017)
in Prozentpunkten
„Moreno-Frage“ zur europäischen Identität, Vor-Nach-Krisen-Veränderung (2005/2017)

in Prozentpunkten

Quelle: Eurobarometer 2005 und 2017. „Europäer/in“ als Summe aller drei Antworten, die europäische Identität beinhalten.

In Staaten, die in den letzten Jahren eine schlechte Wirtschaftsentwicklung durchlaufen haben und von der Verschuldungskrise im Euroraum besonders stark betroffen waren, darunter Griechenland und Italien, hat die Identifikation mit Europa abgenommen. Überraschend ist, dass das auch für Frankreich gilt. Ebenfalls erstaunlich ist, dass in Staaten mit sehr EU-kritischen Regierungen und öffentlichen Debatten – hervorzuheben sind hier Großbritannien und Ungarn, aber auch Polen –, die Identifikation mit Europa zugenommen hat. Hier wird deutlich, dass die Identifikation mit Europa nicht gleichbedeutend mit Unterstützung für die EU ist.

Wie sich die Unterstützung für die EU entwickelt hat, zeigt Abbildung 3. Interessant ist, dass vor dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 die Unterstützung der Bürger für die EU erheblich höher war als heute und einen steigenden Trend aufwies. Dieser Trend endete 1991, als noch gut 70 % aller Befragten die Mitgliedschaft in der EU als „gute Sache“ bewerteten. Der in den frühen 1990er Jahren eingetretene Rückgang kann nicht einfach durch die Erweiterungen und den sich damit vergrößerten Kreis der befragten Nationen erklärt werden. Der Rückgang trat bereits ein, bevor es 1995 zur Nord- und 2004/2007 zur Osterweiterung gekommen ist. Eine denkbare Erklärung ist, dass mit dem Ende des Kalten Krieges die politische Einigung (West-)Europas als weniger dringlich angesehen wurde.

Abbildung 3
Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft
Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft

Quelle: Eurobarometer 1973-2017, gewichteter Durchschnitt für die Europäische Union insgesamt aus allen jeweiligen Mitgliedstaaten.

Finanz- und Eurokrise hatten einen deutlich negativen Effekt auf die Unterstützung für die EU. Aktuell steigt die EU-Unterstützung wieder. Die negativen Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die Unterstützung der Bürger für die EU wird besonders deutlich, wenn man die Zustimmung zur EU in den einzelnen Mitgliedstaaten vor der Finanzkrise 2007 mit der Zeit unmittelbar nach der Finanzkrise 2011 vergleicht, was gleichzeitig den Höhepunkt der Eurokrise markiert (vgl. Abbildung 4).

Abbildung 4
Veränderung Zustimmung EU-Mitgliedschaft, Vor-Nach-Krisen-Vergleich (2007/2011)
in Prozentpunkten
Veränderung Zustimmung EU-Mitgliedschaft, 
Vor-Nach-Krisen-Vergleich (2007/2011)

in Prozentpunkten

Quelle: Eurobarometer 2007 und 2011.

Die Unterstützung für die EU hat in diesem Zeitraum in fast allen Mitgliedstaaten abgenommen, besonders stark in den Ländern, die mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, darunter Griechenland und Spanien sowie die baltischen Staaten. Gelitten hat die Unterstützung für die EU aber auch in Ländern, die sich schnell von dem wirtschaftlichen Einbruch des Jahres 2009 erholt haben, darunter Deutschland, die Niederlande oder Tschechien.

Europäische Identität und Unterstützung für die EU?

Ob Menschen sich als Europäer fühlen und ob sie der Meinung sind, dass die EU-Mitgliedschaft ihres Heimatlandes gut oder schlecht ist, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Dazu gehören individuelle Eigenschaften, aber auch das individuelle soziale und institutionelle Umfeld sowie Entwicklungen auf nationaler und europäischer Ebene. Tabelle 1 gibt einen Überblick über Faktoren, die nach vorliegenden Untersuchungen eine wichtige Rolle spielen.8 Dabei ist zu beachten, dass die Faktoren nicht als kausal für die Entwicklung von europäischer Identität und Unterstützung für die EU zu interpretieren sind; vielmehr interagieren diese Faktoren mit individuellen Einstellungen zu europäischen Fragen. Beispielsweise werden Menschen, die eine positive Einstellung zu Europa haben, mehr transnationale Kontakte suchen, sodass sich diese Kontakte und die europäische Identität, möglicherweise auch die Unterstützung für die EU, gegenseitig verstärken.

Was die individuellen Faktoren angeht, spielt „kognitive Mobilisierung“ eine zentrale Rolle. Dazu gehören der allgemeine Bildungsstand und das Interesse und die Beteiligung an politischen Diskussionen. Kontakte über Ländergrenzen hinweg gehen mit mehr Toleranz und Verständnis für kulturelle Unterschiede einher. Sozioökonomischer Hintergrund und Alter spielen ebenfalls eine Rolle. Stärkere europäische Identität ist mit bestimmten Wertvorstellungen verbunden, darunter eine kosmopolitische und liberale Einstellung. Pessimistische Menschen fühlen sich im Durchschnitt weniger als Europäer. Zwischen europäischer Identität und Religiosität besteht empirisch kein eindeutiger Zusammenhang. Mit zunehmendem Alter sinkt die Identifikation mit Europa. Kontakte und transnationale Verbindungen in der Familie oder im Freundeskreis gehen mit stärkerer europäischer Identität einher.

Tabelle 1
Determinanten für europäische Identität und EU-Zustimmung in der Literatur
Determinanten für … … europäische Identität … EU-Zustimmung Kanäle und Sonstiges
Individualebene
Kognitive Mobilisierung positiv positiv Beide: Bildung, EU-Wissen, Information, Interesse, häufige Diskussion über Politik
Transnationaler Kontakt positiv positiv Beide: Austausch mit Ausländern, Auslandsaufenthalte, möglicherweise indirekte Effekte der „sozialen Schichtung“
Charakterzüge und Werte positiv positiv Europäische Identität: Optimismus, Extrovertiertheit, Risikofreude, liberale Werte, Kosmopolitismus. EU-Zustimmung: Altruismus, Kosmopolitismus, multikulturelle Orientierung, Postmaterialismus
Nationale Identität negativ negativ Europäische Identität: Wahrnehmung eines Konkurrenz- verhältnisses, Nationalstolz EU-Zustimmung: wahrgenommene Bedrohung

Regionale Orientierung positiv (politisch) negativ Beide: kulturelle und politische regionale Identität und Zugehörigkeit
negativ (kulturell)
Haltung zur EU (Unterstützung) positiv --- Europäische Identität: besonders sichtbare Politiken
Politische Haltung (weit rechts) negativ --- Europäische Identität: Positionierung am weit rechten Rand des politischen Links-Rechts-Spektrums
Sozioökonomischer Status positiv positiv Europäische Identität: Vermögen, Beschäftigung EU-Zustimmung: persönlicher ökonomischer Vorteil oder Aussichten
Alter negativ   ---
Geschlecht (männlich) positiv   ---
Regionale und nationale Besonderheiten
Ökonomische Situation (Utilitaristische Hypothese) nicht eindeutig positiv Europäische Identität: EU-Nutzen, Nettozahlerposition EU-Haushalt. EU-Zustimmung: eigene ökonomische Situation, wahrgenommener Nutzen für die eigene Region/das eigene Land
Qualität nationaler Institutionen nicht eindeutig nicht eindeutig Europäische Identität: Vertrauen in nationale Institutionen, Zufriedenheit mit Demokratie EU-Zustimmung: Effizienz der Verwaltung, Zufriedenheit mit Demokratie
Elite dafür oder kritisch positiv (dafür) negativ (kritisch) Europäische Identität: Verbindung zur Elite EU-Zustimmung: Debatten innerhalb der Eliten, Parteiidentifikation, Massenmedien
EU-weite Entwicklungen      
Vertrauen in EU-Institutionen positiv   Europäische Identität: Vertrauen, Zufriedenheit mit Demokratie
Gemeinsame Werte positiv   Europäische Identität: Vertrauen in EU-Bürger, wahrgenommene kulturelle Nähe
EU-Symbole positiv   ---

Quelle: S. Ciaglia, C. Fuest, F. Heinemann: What a feeling?! How to promote European Identity, EconPol Policy Report, Nr. 9, Oktober 2018.

Eine starke regionale oder nationale Identität ist nicht systematisch mit weniger europäischer Identität verbunden. Viele Menschen, die sich ihrer Region und ihrem Heimatland stark zugehörig fühlen, sehen sich gleichzeitig als Europäer. Wie bereits diskutiert wurde, sind europäische Identität und Unterstützung für die EU nicht gleichbedeutend, aber sie sind auf der individuellen Ebene positiv korreliert.

Zwischen der allgemeinen wirtschaftlichen Situation per se und der europäischen Identität besteht kein eindeutiger Zusammenhang. Menschen, die der Auffassung sind, dass ihr Land von der europäischen Integration direkt profitiert, zeigen eine stärkere europäische Identität. Wenn die wirtschaftliche Lage positiv ist, aber dies als unabhängig von der EU betrachtet wird, könnte die Einbindung in die EU auch mit der Sorge einhergehen, die Früchte wirtschaftlichen Erfolgs teilen zu müssen. Relevant für europäische Identität ist auch die Haltung der Eliten in einem Land. In Ländern mit europafreundlichen Eliten ist die Identifikation der Bevölkerung mit Europa stärker und umgekehrt. Menschen, die ihre nationale öffentliche Verwaltung für korrupt halten, identifizieren sich stärker mit der EU, weil sie eine positive Wirkung der EU auf die heimischen Institutionen erhoffen. Schließlich spielen auch Einschätzungen der EU und der Nachbarländer für die europäische Identität eine Rolle. Vertrauen in EU-Institutionen und in Bürger aus Nachbarländern sowie das Gefühl kultureller Nähe zu anderen Europäern sind mit einer stärkeren europäischen Identität verbunden.

Europäische Identität: empirische Ergebnisse 2017

Die Forschungsergebnisse zu Korrelationen zwischen europäischer Identität und individuellen Charakteristika der Befragten oder Ländermerkmalen beruhen auf Daten, die teils viele Jahre alt sind. Im Folgenden beschreiben wir Zusammenhänge zwischen europäischer Identität und einigen der in der Literatur diskutierten Variablen für Daten aus dem Jahr 2017. Es ist nicht auszuschließen, dass heute, nach prägenden Ereignissen wie der Verschuldungskrise im Euroraum, der Brexit-Entscheidung Großbritanniens und der Veränderung des europäisch-amerikanischen Verhältnisses seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten, Befragungsergebnisse zu europäischer Identität anders ausfallen als zuvor.

Die abhängige Variable der zugrundeliegenden Regressionen9 ist das Vorliegen europäischer Identität. Wir betrachten drei Gruppen von erklärenden Variablen: erstens individuelle Charakteristika wie Alter, Geschlecht, Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Lage, Beschäftigung (Student, selbständig, Rentner usw.), Wohnort in einer städtischen oder ländlichen Gegend, im Haushalt lebende Kinder usw. Zur zweiten Variablengruppe gehören individuelle Auffassungen und bestimmte Aktivitäten; dazu gehören Reisen ins EU-Ausland in den letzten zwölf Monaten, Wissen über die EU, die Beteiligung an Diskussionen über die EU sowie allgemeiner Optimismus und Altruismus. Wichtig sind auch die Einschätzung der wirtschaftlichen Lage des eigenen Landes sowie die eigene politische Orientierung (moderat, linksradikal, rechtsradikal). Wir berücksichtigen auch eine Variable, in der folgende Frage beantwortet wird: Wodurch entsteht unter den EU-Bürgern ein Gemeinschaftsgefühl? Aus verschiedenen Antworten stellen wir drei Gruppen heraus: Kultur, Wirtschaft oder Rechtsstaatlichkeit.

Die dritte Variablengruppe enthält Charakteristika der Heimatländer der jeweils Befragten, darunter die Arbeitslosenquote als Indikator für die Wirtschaftslage, der Nettobeitrag zum EU-Budget und der Globalisierungsindex der Konjunkturforschungsstelle Zürich (KOF) als Indikator für die wirtschaftliche Offenheit. Zudem kommt eine Reihe weiterer Ländereigenschaften. Dazu wird berücksichtigt, ob ein Land ein neues oder altes EU-Mitglied ist, seine geografische Lage und die Größe des Landes gemessen an Stimmgewichten im Europäischen Rat. Die wichtigsten Resultate lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  1. Studenten bilden die Gruppe in der Bevölkerung, in der europäische Identität am stärksten vorhanden ist. Unter älteren Menschen und Rentnern ist diese Identität schwächer ausgeprägt. Selbständige fühlen sich eher als Europäer als abhängig Beschäftigte. Arbeitslos zu sein hat keinen messbaren Effekt auf die gefühlte Zugehörigkeit zu Europa; positiv wirkt es allerdings, wenn die eigene wirtschaftliche Lage und die des eigenen Landes als gut eingeschätzt werden.
  2. Wie zu erwarten, sind Reisen ins EU-Ausland und Kontakte mit EU-Ausländern positiv mit europäischer Identität korreliert, ebenso wie das individuelle Bildungsniveau und der Umfang des eigenen Wissens über die EU.
  3. Bemerkenswert ist, dass auf die Frage, was Gemeinschaftsgefühl unter den EU-Bürgern schafft, die Antwort „Rechtsstaatlichkeit“ stärker mit europäischer Identität korreliert ist als die Antworten „Kultur“ und „Wirtschaft“. Menschen, die großen Wert auf die Durchsetzung europäischer Regeln und Standards im Hinblick auf rechtsstaatliche Prinzipien legen, haben häufiger eine europäische Identität als jene, die Wirtschaft oder Kultur in den Vordergrund stellen oder sonstige Antworten gaben.
  4. Wenn das eigene Land wirtschaftlich gut dasteht, fühlen sich seine Bürger häufiger als Europäer. Europäische Identität ist allerdings negativ korreliert mit dem Nettobeitrag des eigenen Landes zum EU-Budget, sodass es in Bezug auf den Wohlstand von Mitgliedstaaten gegenläufige Effekte gibt.
  5. Es gibt Hinweise auf ein Süd-Nord-Gefälle. In Südeuropa ist europäische Identität besonders stark ausgeprägt und in den Ländern im Zentrum der EU immer noch vergleichsweise hoch. Hingegen ist die Identifikation mit Europa in den Staaten Nordeuropas, in Skandinavien und im Baltikum weniger stark ausgeprägt.

Initiativen zur Stärkung europäischer Identität

Was bedeuten diese empirischen Einsichten für die Gestaltung von Initiativen zur Stärkung europäischer Identität? Welche Zielgruppen sollte man ansprechen und welche Instrumente einsetzen? Viele der Faktoren, die mit europäischer Identität korrelieren, sind nicht oder kaum beeinflussbar. Es gibt aber eine Reihe von Punkten, an denen die Politik ansetzen kann. Folgende Zielgruppen und Inhalte sollten im Mittelpunkt stehen:

  1. Ältere Menschen und Rentner: Da bei älteren Menschen und Rentnern europäische Identität wenig ausgeprägt ist, liegt es nahe, ihnen als Zielgruppe besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
  2. Bildung und Information betonen (kognitive Mobilisierung): Zielgruppe sollten Bürger mit mittlerem und niedrigem Bildungsniveau und eher geringen Kenntnissen über die EU und die Politik im Allgemeinen sein. Ziel sollte sein, diese Gruppen besser über die EU zu informieren und Diskussionen über eigene Anliegen dieser Gruppen und den Zusammenhang zu EU-Angelegenheiten anzuregen.
  3. Transnationale Kontakte: Zielgruppe sollten Bürger sein, die wegen mangelnder Ressourcen oder Gelegenheiten bislang wenig grenzüberschreitende Kontakte haben. Man kann von positiven Erfahrungen mit dem Erasmus-Programm lernen, das aber bislang eher eine ohnehin europafreundliche Zielgruppe anspricht.
  4. Sozioökonomische Situation: Zielgruppe sollten bildungsferne und einkommensschwache Bürger sein. Ziel sollte es auch für diese Gruppen sein, transnationale Kontakte und die Auseinandersetzung mit europäischen Themen zu fördern.
  5. Vertrauen in EU-Institutionen und Zufriedenheit mit Demokratie: Hier geht es darum, ausgewogene Informationen zu Europa und europäischen Institutionen verfügbar zu machen und mehr Möglichkeiten für Engagement und Teilhabe zu schaffen. Wichtig ist außerdem die stärkere Durchsetzung europäischer Standards für Rechtsstaatlichkeit.
  6. Kulturelle Nähe und gemeinsame Werte: Wünschenswert ist es, durch geeignete Ansätze Sprachkenntnisse und Verständnis für kulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen EU-Staaten zu fördern.

Wie kann man diese Überlegungen in konkrete Initiativen und Maßnahmen zur Stärkung europäischer Identität übersetzen? Wir stellen beispielhaft Maßnahmen und Programme zur Diskussion:10

  1. Erasmus-Programm für Senioren (Pensioner’s Erasmus): Dieses Programm greift die positiven Erfahrungen mit dem Erasmus-Programm auf, adaptiert dieses für Senioren und damit für eine Zielgruppe, die zumindest zum Teil oftmals nicht über die Ressourcen und Gelegenheiten für europäische Begegnungen verfügt. Die Grundidee ist die finanzielle Unterstützung von Reisen in andere europäische Länder, wobei die Reisen nicht einfach einem touristischen Zweck ohne wirkliche Begegnungen mit Menschen und der Kultur des Ziellandes dienen sollten. Dazu wäre die Teilnahme an kulturellen, historischen oder sozialen Projekten oder aber eine sprachliche Fortbildung nachzuweisen. Um Mitnahmeeffekte vermögender und vielreisender Senioren auszuschließen, wären Einkommensgrenzen angebracht.
  2. Austauschprogramm für Beschäftigte (Europäische Walz): Auch die Idee einer „Europäischen Walz“ setzt an der Grunderkenntnis an, dass sich europäische Identität vor allem durch grenzüberschreitende Begegnungen ausbilden kann und dass europäische Programme nicht nur die ohnehin besonders mobilen Gruppen der Bevölkerung erreichen sollten. Im Rahmen der „Europäischen Walz“ könnten Berufstätige insbesondere aus Branchen mit wenig grenzüberschreitendem Austausch adressiert werden. Zu denken ist hier unter anderem an den Gesundheitssektor, den öffentlichen Dienst, das Rechtswesen, die Gastronomie und das Handwerk. Gefördert würden berufliche Aufenthalte von einigen Wochen oder Monaten in einem anderen EU-Staat. Dies würde nicht nur dem Austausch und der Mehrung von beruflichem Wissen dienen, sondern außerdem europäische Erfahrungen vermitteln. Wichtig für ein funktionsfähiges Modell wäre es, europäische Berufsverbände einzubeziehen.
  3. Ein öffentlich-rechtlicher EU-Fernsehsender: Ein europäischer öffentlicher Sender sollte darauf abzielen, ausgewogen und unabhängig von der Politik und nationalen Sonderinteressen über Europa zu informieren und auf diese Weise die „kognitive Mobilisierung“ für europäische Themen voranzutreiben. Europäische Politikdebatten würden dabei naturgemäß eine große Aufmerksamkeit erfahren. Ein solcher Sender sollte von den nationalen Rundfunkanstalten gegründet werden. Sein primärer Auftrag läge im Bereich der informativen Sendeformate. Angemessene institutionelle Vorkehrungen nach dem Vorbild entsprechender nationaler Lösungen wären zu treffen, um die Unabhängigkeit des Senders von politischen Akteuren und eine journalistisch neutrale Berichterstattung zu gewährleisten. Die Nachrichtensendungen müssten in allen Amtssprachen der EU produziert werden.
  4. Eine EU-Bürgerversammlung: Die Idee der EU-Bürgerversammlung greift die Erkenntnis auf, dass die Akzeptanz eines demokratischen Systems entscheidend durch die prozedurale Mitwirkung der Bürger und die Wahrnehmung von unverzerrter Meinungsbildung gemehrt werden kann. In der EU-Bürgerversammlung würden ähnlich wie in jüngsten Modellen in Irland eine repräsentativ bestimmte Auswahl von Menschen zusammenkommen und Entscheidungsempfehlungen oder Berichte zu konkreten Fragen erarbeiten. Diese könnten nicht für die EU-Organe verbindlich sein, hätten aber durch die Art ihrer Erarbeitung und die öffentliche Wahrnehmung einen hohen Stellenwert im anschließenden politischen Entscheidungsprozess. Für eine funktionsfähige Versammlung sollte sich die Größenordnung der Versammlung zwischen 100 und 200 Menschen bewegen. Die logistische Unterstützung kann durch das Europäische Parlament erfolgen. Als Tagungsort empfiehlt sich etwa der Straßburger Sitz des Europäischen Parlaments außerhalb der dortigen Sitzungswochen.
  5. Transnationale Listen für Wahlen zum Europäischen Parlament: Transnationale Parteienlisten als Ergänzung zu der bisherigen nationalen Wahl der Sitze im Europäischen Parlament wurden aktuell im Kontext der Nutzung der frei werdenden britischen Sitze bereits diskutiert, aber noch verworfen. Die Idee verdient aus mehreren Gründen eine weitere intensive Prüfung: Gesamteuropäische Parteilisten würden Kandidaten dazu zwingen, in ihren Wahlkämpfen tatsächlich europäische Politikentwürfe zu präsentieren, während nationale Kandidaten naturgemäß in ihren Kampagnen versuchen mit Politiken zugunsten des oftmals sehr eng verstandenen nationalen Interesses zu punkten. Die europäische Perspektive würde auch der oftmals einseitigen Fixierung auf nationale Rückflüsse ins eigene Land (Nettosaldendenken) entgegenwirken und damit den Weg für die Bereitstellung wirklicher europäischer öffentlicher Güter durch den EU-Haushalt frei machen.
  6. Gemeinsame diplomatische Vertretungen im Ausland (EU-Konsulate): Gemeinsame EU-Konsulate wären für ins Ausland reisende EU-Bürger ein sichtbares Zeichen dafür, dass die EU Leistungen mit hohem praktischem Nutzen bereitstellt. Schon heute arbeiten kleinere Mitgliedstaaten in gemeinsamen Botschaften und Konsulaten zusammen. An dieser Erfahrung lässt sich bei der Errichtung von EU-Konsulaten „mit 28 Flaggen“ (nach dem Brexit 27 Flaggen der Mitgliedstaaten plus EU-Flagge) anknüpfen. Dabei bestehen Aussichten auf Kostensenkungen im Vergleich zum gegenwärtig wenig abgestimmten Netz an nationalen EU-Vertretungen an vielen Orten der Welt. Die rechtlichen Voraussetzungen sind aufgrund der weit fortgeschrittenen Normierung des Visa- und Passwesens innerhalb der EU weitgehend gegeben. Wichtig bei der konkreten Ausgestaltung ist, dass EU-Bürger weiterhin Ansprechpartner in ihren Landessprachen antreffen.

Schlussfolgerungen und Ausblick

Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die aktuelle Krise der europäischen Integration, die durch den Brexit, die Zweifel am rechtsstaatlichen Kurs einiger osteuropäischer Staaten und zunehmende Konflikte über Migrations-, Fiskal- und Wirtschaftspolitik im Euroraum sowie aufkommendem Nationalismus geprägt ist. Eine Überwindung dieser Krise und erfolgreiche Fortsetzung des europäischen Integrationsprozesses erfordert neben anderen Dingen eine hinreichende Identifikation der europäischen Bürger mit Europa. Das Ziel der ins Spiel gebrachten Maßnahmen besteht dabei nicht darin, die Bürger Europas auf paternalistische Weise im Rahmen eines „Nudgings“ dazu zu bringen, bestimmte Formen der Integration Europas zu akzeptieren oder bestimmte EU-Politiken oder die EU-Institutionen im Allgemeinen zu unterstützen. Es geht vielmehr darum, Informationsbarrieren zu beseitigen, die Aufmerksamkeit der Bürger für die Bedeutung europäischer Entwicklungen zu gewinnen und durch mehr Informationen und Beteiligung rationalere und demokratischere Entscheidungen zu ermöglichen.

* Wir danken Lutz Helmig für die finanzielle Unterstützung dieses Forschungsvorhabens.

  • 1 Dieser Beitrag beruht auf der Studie S. Ciaglia, C. Fuest, F. Heinemann: What a feeling?! How to promote European Identity, EconPol Policy Report, Nr. 9, Oktober 2018.
  • 2 L. Hooghe, S. Verhaegen: The Effect of Political Trust in European Citizens on European Identity, in: European Political Science Review, 9. Jg. (2017), H. 2, S. 163, Übersetzung durch die Autoren.
  • 3 So etwa L. Cram: Does the EU Need a Navel? Implicit and Explicit Identification with the European Union, in: Journal of Common Market Studies, 50. Jg. (2012), H. 1, S. 71-86.
  • 4 Die Literatur zur Abgrenzung und Konzeption von „europäischer Identität“ ist sehr umfassend. Zu nennen sind unter anderem: H. Friese, P. Wagner: Survey Article – The Nascent Political Philosophy of the European Polity, in: The Journal of Political Philosophy, 10. Jg. (2002), H. 3, S. 342-364; S. Carey: Undivided Loyalties – Is National Identity an Obstacle to European Integration?, in: European Union Politics, 3. Jg. (2002), H. 4, S. 387-413; V. Kaina: How to Reduce Disorder in European Identity Research, in: European Political Science, Bd. 12, Nr. 2, 2013; J. White: A Common European Identity is an Illusion, in: H. Zimmermann, A. Dür (Hrsg.): Key Controversies in European Integration, The European Union Series, Basingstoke 2012, S. 103-111; V. Kaina, I. P. Karolewski, S. Kühn (Hrsg.): European Identity Revisited – New Approaches and Recent Empirical Evidence, London 2016. Auch zeigt die Literatur, dass Menschen sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, was „Europäer sein“ bedeutet. Vgl. J. T. Checkel, P. J. Katzenstein (Hrsg.): European Identity, Cambridge 2009; T. Risse: A Community of Europeans – Transnational Identities and Public Spheres, New York 2010; P. Bayley, G. Williams: European Identity: What the Media Say, Oxford 2012; D. Lichtenstein, C. Eilders: Konstruktionen europäischer Identität in den medialen Debatten zur EU-Verfassung – Ein inhaltsanalytischer Vergleich von fünf EU-Staaten, in: Publizistik, 60. Jg. (2015), H. 3, S. 277-303; M. Banjac, T. Pušnik: Making Citizens, Being European? European Symbolism in Slovenian Citizenship Education Textbooks, in: Compare – A Journal of Comparative and International Education, 45. Jg. (2015), H. 5, S. 748-771.
  • 5 European Commission: Standard Eurobarometer 87.3 May 2017 – Public Opinion in the European Union, Brüssel 2017.
  • 6 Ebenda.
  • 7 Ebenda.
  • 8 Für eine ausführliche Verankerung dieser Übersicht in der empirischen Literatur siehe S. Ciaglia, C. Fuest, F. Heinemann, a. a. O.
  • 9 Details der empirischen Analyse einschließlich aller Informationen über die verwendeten empirischen Modelle finden sich in S. Ciaglia, C. Fuest, F. Heinemann, a. a. O.
  • 10 Für weitere Details zu diesen Vorschlägen siehe S. Ciaglia, C. Fuest, F. Heinemann, a. a. O.

Title:European Identity: Concept, Determinants, and Policy Approaches

Abstract:Against the background of various European crises, this study looks into the determinants of ‘European Identity’. After a conceptual clarification of terminology, the article describes ongoing trends both in European identity and EU support. The subsequent survey comprehensively summarizes the existing literature’s insights on significant positive and negative determinants of European identity and summarizes findings from a recent study based on Eurobarometer data. These insights help identify target groups and aspects that may guide strategies that foster a European perspective. We elaborate six proposals in more detail: transnational party lists, an EU Citizens’ Assembly, EU consular offices, Pensioners’ Erasmus, a ‘European Waltz’ program and an EU public service broadcaster.

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DOI: 10.1007/s10273-018-2379-3