Das Brexit-Referendum vom 23. Juni 2016 stellt einen zentralen Wendepunkt in der britischen Nachkriegsgeschichte dar. Bei der Analyse der Wahlergebnisse zeigt sich, dass das Abstimmen für den EU-Austritt offenbar wenig mit der Handels- und Wirtschaftspolitik der EU zusammenhängt. Stattdessen scheint die Furcht vor Einwanderung, insbesondere in Gebieten, in denen diese kaum auftritt, entscheidender zu sein. Unzufriedenheit mit den allgemeinen wirtschaftlichen Zuständen und dem öffentlichen Versorgungsangebot spielen auch eine wesentliche Rolle.
Die Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens ist ein zentraler Moment in der Geschichte der europäischen Integration. Es wurde erwartet, dass das Ergebnis des Referendums knapp ausfallen würde. Dennoch hatten weder die Finanzmärkte noch die Wettbüros damit gerechnet, dass die Seite, die für den EU-Austritt geworben hatte („Leave“-Seite), gewinnen würde. Auch fast zwei Jahre nach dem Referendum bleibt Großbritannien in der EU-Frage gespalten. Zwar steigt in der Bevölkerung das Empfinden, dass die Brexit-Verhandlungen schlecht verlaufen. Allerdings kreiden die Brexit-Befürworter dies eher der „Unfähigkeit“ der Politiker an (sowohl auf britischer als auch auf EU-Seite). Dementsprechend zeigen Umfragen, dass sich die grundsätzliche Einstellung, ob Großbritannien aus der EU austreten soll, bisher im Durchschnitt kaum geändert hat.
Viele Beobachter zeigten sich unmittelbar nach dem Referendum überrascht. Das Interesse an der Frage, warum die Wähler für den Brexit stimmten, war und bleibt groß. Viele Zeitungen und Blogs haben direkt nach dem Referendum Daten zusammengetragen, um die Korrelationen zwischen dem Anteil der „Leave“-Stimmen in Teilen Großbritanniens mit diversen Faktoren (wie etwa der zugrundeliegenden Demografie von Landkreisen) zu analysieren.1 Es wurde ebenfalls hervorgehoben, dass die Zustimmung zum Brexit mit individuellen sozioökonomischen Faktoren (wie etwa der Klassenzugehörigkeit) und allgemeinen sozialen Ansichten zusammenhängt (wie etwa die Einstellung zur Todesstrafe).2 Darüber hinaus besteht in vielen Lagern die Sorge, dass Populismus und Unzufriedenheit mit der EU in Zukunft auch in anderen Mitgliedstaaten zu ähnlichen Entwicklungen führen könnten. EU-skeptische Parteien schnitten 2017 in mehreren Ländern bei Wahlen stark ab, insbesondere in Frankreich, Österreich und Deutschland. Polen und Ungarn werden bereits von EU-kritischen Regierungen angeführt.
Das Brexit-Referendum
Wir untersuchen das Brexit-Referendum in systematischer und umfassender Weise.3 Wir analysieren das EU-Referendum in England, Wales und Schottland mit regional feingliedrigen Daten, die systematisch in 380 Landkreisen (local authorities) gesammelt wurden. Darüber hinaus untersuchen wir Daten auf Ebene von 107 Stadtbezirken innerhalb vier englischer Städte. Dieser Fundus von Variablen wurde aus verschiedenen Quellen zusammengetragen. Die einzelnen Variablen können grob in vier Kategorien aufgeteilt werden:
- Verbindung eines Landkreises zur EU, in Form von Migration von EU-Bürgern, Handel mit der EU und EU-Strukturförderung;
- Variablen, die die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen und die Konsequenzen der Sparpolitik messen;
- Demografie und Bildungsstand;
- Variablen, die die ökonomische Struktur und deren Entwicklung messen.
Insgesamt stimmten 51,9 % der Wähler für den Austritt aus der EU. Die Wahlbeteiligung betrug 72,2 % und war damit verglichen mit anderen Wahlen auf nationaler Ebene relativ hoch. Abbildung 1 zeigt die Stimmenanteile der „Leave“-Seite in den verschiedenen Landkreisen Großbritanniens (ohne Nordirland und Gibraltar). Einige ländliche Landkreise an der Ostküste Englands stimmten mit über 70 % für „Leave“. Gebiete um London und in Schottland stimmten hingegen mit deutlicher Mehrheit für den Verbleib in der EU.
Abbildung 1
„Leave“-Anteile im EU-Referendum 2016 auf Landkreisebene
in %
Quelle: S. O. Becker, T. Fetzer, D. Novy: Who Voted for Brexit? A Comprehensive District-Level Analysis, in: Economic Policy, 32. Jg. (2017), H. 92, S. 601-650.
Abbildung 2 veranschaulicht den „Leave“-Stimmenanteil auf der wesentlich feineren Ebene von Stadtbezirken in vier englischen Städten. Es ist deutlich sichtbar, dass auch innerhalb von Städten – oft in kurzer Laufdistanz – enorme Unterschiede im Abstimmungsverhalten bestehen. So stimmten beispielsweise im westlichsten Bezirk von Greenwich, London weniger als 25 % der Wähler für den Brexit. Aber nur wenige Kilometer südlich stimmten über 55 % für den EU-Austritt.
Basierend auf unserem Datensatz identifizieren wir die Faktoren (= Variablen), die das Resultat des Referendums am besten voraussagen. Dazu verwenden wir „maschinelles Lernen“ (machine learning) – eine einfache Methode, die die vorhersagekräftigsten Variablen ermittelt. Natürlich ist dies eine hypothetische Übung, nachdem die Abstimmung bereits erfolgte. Diese Methode erlaubt zudem keine kausale Erklärung des Referendums, weil das Wahlergebnis offensichtlich multikausal und facettenreich ist. Die Ergebnisse spiegeln also ein breites Spektrum an Korrelationsmustern wider. Dennoch kann die systematische Analyse über ein umfassendes Spektrum von sozioökonomischen Merkmalen hilfreich sein, um zukünftige Forschungsanstrengungen zu unterstützen, die darauf abzielen, spezifische Kausalmechanismen zu identifizieren.
UKIP und „Leave“-Erfolg sind eng verknüpft
Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Wahlpräferenzen, wie sie anhand der Parlamentswahlen für das Europaparlament von 2014 gemessen wurden, fast 92 % der Variation der Unterstützung für die „Leave“-Seite über die 380 Distrikte erklären. Abbildung 3 illustriert, dass die Unterstützung für die UK Independence Party (UKIP) besonders wichtig ist: die geschätzte Regressionsgleichung suggeriert, dass sich die Unterstützung von „Leave“ im Referendum in etwa aus der Unterstützung für UKIP aus dem Jahr 2014 plus 25 Prozentpunkten zusammensetzt.
Abbildung 2
„Leave“-Anteile im EU-Referendum 2016 in vier englischen Städten
in %
Quelle: S. O. Becker, T. Fetzer, D. Novy: Who Voted for Brexit? A Comprehensive District-Level Analysis, in: Economic Policy, 32. Jg. (2017), H. 92, S. 601-650.
Dieser erste Zusammenhang suggeriert, dass man durch die Analyse des Aufstiegs von UKIP auf die zugrundeliegenden kausalen Mechanismen hinter dem Brexit-Referendum durchaus Rückschlüsse ziehen kann. Die Analyse der Faktoren, die den Aufstieg von UKIP erklären, erscheint daher von zentraler Bedeutung für die Wahlforschung.4 UKIP ist recht neu in der britischen politischen Szene. Die Partei wurde erst 1991 gegründet und trägt seit 1993 ihren heutigen Namen. Sie war die einzige britische Partei mit dem expliziten politischen Ziel des Austritts Großbritanniens aus der EU. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 gewann sie den größten Stimmenanteil und verwies damit die Labour-Partei und die Konservative Partei auf den zweiten und dritten Platz. Die Wahl zum Europäischen Parlament zeigte, dass UKIP die Fähigkeit hat, eine große Zahl von Wählern zu mobilisieren – nicht zuletzt, da sie in Nigel Farage eine bekannte und charismatische Führungsfigur hat. Und obwohl UKIP seit 2014 die größte britische Fraktion im Europaparlament stellt, ist die Partei aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts im nationalen Parlament in Westminster mit keinem einzigen Sitz vertreten.
Sozioökonomische Faktoren
Wir untersuchen nun, welche Vorhersagekraft einzelne Variablengruppen bei der Erklärung des Ergebnisses des EU-Referendums haben (vgl. Abbildung 4). Wir haben z. B. herausgefunden, dass Demografie und Bildung (d. h. das Alter und das Qualifikationsprofil der Bevölkerung in den Landkreisen) knapp 80 % der Variation im „Leave“-Stimmenanteil erklärt. Die Wirtschaftsstruktur eines Landkreises für sich genommen erklärt knapp 70 %. Variablen in dieser Gruppe sind z. B. der Beschäftigungsanteil in der verarbeitenden Industrie, Arbeitslosigkeit sowie die Löhne und deren Entwicklung in den letzten Jahren.
EU-Austritt und Einwanderung
Überraschenderweise und im Gegensatz zu einem großen Teil der politischen Debatte im Vorfeld der Wahl stellt sich heraus, dass relativ wenig Variation im „Leave“-Stimmenanteil (unter 50 %) durch Variablen erklärt werden kann, die direkt mit der Verbindung des Landkreises mit der EU zu tun haben. Diese Variablen umfassen z. B. den Erhalt von Mitteln aus den EU-Strukturfördermitteln und vor allem das Ausmaß und die Zusammensetzung der Einwanderung von EU-Bürgern. Die Ergebnisse suggerieren allerdings, dass die Wachstumsrate der Einwanderer aus den zwölf Ländern, die der EU von 2004 bis 2007 beigetreten sind, mit einer stärkeren Unterstützung für „Leave“ leicht zusammenhängt. Im Gegenzug ist die Migration aus den (alten) EU15-Ländern und von außerhalb der EU negativ mit der Unterstützung für „Leave“ korreliert. Dies deutet darauf hin, dass die Migration aus überwiegend osteuropäischen Ländern die britischen Wähler beeinflusst hat. Allerdings können wir die genauen Mechanismen nicht identifizieren. Diese sind vielschichtig: etwa durch den erhöhten Wettbewerb auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt. Becker und Fetzer versuchen, die kausalen Auswirkungen der EU-Migration auf die Entwicklung von Anti-EU-Wählerpräferenzen zu erklären, die wiederum mit der Unterstützung für „Leave“ zusammenhängen.5 Mit einem Differenzen-in-Differenzen-Ansatz können sie – im Einklang mit der vorliegenden Arbeit – eine relativ bescheidene, aber statistisch signifikante Assoziation zwischen der Einwanderung aus Osteuropa und der wachsenden Anti-EU-Stimmung nachweisen.
Abbildung 3
Zusammenhang zwischen der Wahl UKIP zum Europäischen Parlament und „Leave“ im EU-Referendum
Quelle: S. O. Becker, T. Fetzer, D. Novy: Who Voted for Brexit? A Comprehensive District-Level Analysis, in: Economic Policy, 32. Jg. (2017), H. 92, S. 601-650.
Es gibt also nur einen eher schwachen Zusammenhang zwischen dem EU-Referendum und tatsächlicher Migration. Die Wahrnehmung von Migration scheint allerdings deutlich von der tatsächlichen Migration abzuweichen. Die Gründe für diese Diskrepanz sind bisher unklar und nicht gut verstanden. Umfragen belegen, dass Einwanderung besonders negativ in denjenigen Landesteilen wahrgenommen wird, in denen es nur relativ wenige Immigranten gibt. Politiker vor Ort bestätigen allgemein, dass die Furcht vor Einwanderung und die möglicherweise damit einhergehende Veränderung der Lebensweise als ein wesentlicher Faktor im Brexit-Abstimmungsverhalten erscheinen.
Haushaltskonsolidierung und öffentliche Dienstleistungen
Im Zuge der Wirtschaftskrise setzte die britische Koalitionsregierung auf weitreichende Sparmaßnahmen, um die Staatsausgaben und das Haushaltsdefizit zu senken. Auf der Ebene der Kommunen sanken die Ausgaben pro Person real um 23,4 % im Durchschnitt von 2009/2010 bis 2014/2015. Das Ausmaß der Kürzungen variierte jedoch drastisch in den einzelnen Landkreisen Großbritanniens. Die Sparmaßnahmen wurden im Großen und Ganzen nach dem Rasenmäher-Prinzip in Form von Kürzungen der Zuschüsse nach der jeweiligen Budgetkategorie für die lokalen Behörden durchgeführt. Das heißt, dass Landkreise, in denen viele Einwohner Sozialleistungen bezogen, besonders stark von Kürzungen betroffen waren. Insofern haben starke Kürzungen von öffentlichen Ausgaben auf lokaler Ebene de facto genau da zugeschlagen, wo die Lebensverhältnisse bereits schwierig waren und der Wohlstand relativ niedrig war. Die Kürzungen betrugen regional bis zu 46,3 %.6
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass in Landkreisen, die mehr fiskalische Kürzungen erfuhren, mehr Wähler für das Verlassen der EU gestimmt haben. Aufgrund des Zusammenhangs zwischen den fiskalischen Kürzungen und dem Lebensstandard in den Regionen, die besonders viel Kürzungen erfahren haben, gehen wir davon aus, dass der Zusammenhang zwischen den Sparmaßnahmen und dem „Leave“-Anteil de facto von der Unzufriedenheit mit dem zugrundeliegenden niedrigen Lebensstandard getrieben wird.
Demografie, Bildung und Wirtschaftsstruktur, d. h. fundamentale, sich langsam verändernde Faktoren, erklären einen deutlich größeren Anteil der Variation in der Unterstützung für „Leave“. Im Vergleich dazu wird weniger erklärt von Variablen, welche die direkte Anbindung an die EU messen oder etwa die Stärke der Haushaltskonsolidierung oder die Qualität der lokal zugänglichen öffentlichen Dienstleistungen (vgl. Abbildung 4).
Abbildung 4
Güte der Regression in separaten Regressionen der „Leave“-Stimmenanteile auf Landkreisebene
Quelle: S. O. Becker, T. Fetzer, D. Novy: Who Voted for Brexit? A Comprehensive District-Level Analysis, in: Economic Policy, 32. Jg. (2017), H. 92, S. 601-650.
Wir kommen zu sehr ähnlichen Ergebnissen, wenn wir die Untersuchung auf mehrere englische Städte herunterbrechen (Birmingham, Bristol, Nottingham und Greenwich / London), für die wir detaillierte Daten auf Ebene von Stadtbezirken zum Referendum finden konnten (vgl. Abbildung 2). Ähnlich wie in dem Vergleich der verschiedenen britischen Landkreise lässt sich feststellen, dass Benachteiligungsindizes (deprivation indices), die auf Stadtteil-Ebene verfügbar sind, stark mit dem „Leave“-Anteil innerhalb der Städte korrelieren. Diese grundlegenden Faktoren des langsamen sozialen Wandels scheinen in den Medien weniger Aufmerksamkeit zu erlangen, als es auf Basis unserer Analyse angemessen erscheinen würde.
Fördern Demokratiedefizite aufgrund des Mehrheitswahlrechts Polarisierung?
Unsere Ergebnisse stimmen mit der Einschätzung überein, dass das Abstimmungsergebnis des Referendums weitgehend von langjährigen fundamentalen Determinanten angetrieben wurde. Dabei sind diejenigen Faktoren hervorzuheben, die es für Menschen schwieriger machen, die Herausforderungen des wirtschaftlichen und sozialen Wandels zu meistern. Dies betrifft vor allem Gegenden mit älteren und weniger gebildeten Einwohnern sowie die Orte, wo öffentliche Dienstleistungen unterdurchschnittlich sind. Wir bezweifeln daher, dass die Wahlkampagne in den Wochen vor dem Referendum einen allzu großen Einfluss auf das Ergebnis hatte. Stattdessen entsteht ein komplexeres Bild von den Herausforderungen der Anpassung an den sozialen und wirtschaftlichen Wandel, das im britischen EU-Referendum seinen Ausdruck fand. Es ist klar, dass eine Mehrheit der Politiker und der Medien von dem Ergebnis des Referendums überrascht wurden. Dies deutet darauf hin, dass die Bedürfnisse von unterprivilegierten Gebieten des Landes im politischen Entscheidungsprozess und in den Medien unterrepräsentiert waren. Dies wird in Großbritannien manchmal auch als „Westminster-Blase“ zusammengefasst. In der Tat sind infolge des Mehrheitswahlrechts in Großbritannien nur wenige politische Parteien in Westminster vertreten. Trotz der starken Wahlunterstützung für UKIP bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, die nach dem Verhältniswahlrecht abgehalten werden, hat UKIP kein einziges Mitglied im britischen Unterhaus des Parlaments (das insgesamt mehr als 600 Mitglieder zählt). Als solches konnte UKIP als populistische Partei sich jedweder politischen Verantwortung und öffentlichen Kontrolle entziehen und dennoch den politischen Prozess von außen radikal mitgestalten.
In Großbritannien könnte eine Debatte darüber angebracht sein, die Möglichkeiten der Einführung einer stärker proportionalen Vertretung im britischen Parlament zu erwägen. Damit würden vielfältige politische Ansichten einer stärkeren öffentlichen Kontrolle und parlamentarischen Debatte unterzogen. Gesellschaftliche Spannungen und Fehlentwicklungen könnten möglicherweise frühzeitiger identifiziert werden. Vielleicht würde auch eine stärkere föderale Struktur helfen, das Ungleichgewicht zwischen London und dem Rest des Landes auszugleichen.
Die Spaltung des Landes und die derzeitige Debatte
All diese Themen sollten in Großbritannien unweigerlich auf der Tagesordnung stehen – spätestens sobald sich erste Ergebnisse der langfristigen Austrittsverhandlungen zwischen Großbritannien und der EU abzeichnen, und nicht zuletzt, da die bereits fallenden Reallöhne wirtschaftlichen Druck ausüben. Allerdings werden diese Probleme zurzeit nicht angegangen. Das Land scheint gespalten, und die Zerrissenheit der Bevölkerung im Hinblick auf das EU-Referendum zieht sich wie eine tiefe Wunde durch Großbritannien. Die Zerrissenheit zieht sich auch durch viele Familien, in denen die jüngere Generation der älteren diametral gegenübersteht.
Die wesentlichen Aspekte des Ausstiegs sind bisher unklar. Wird Großbritannien einen harten Brexit vollziehen, möglicherweise mit Wiedereinführung von Zöllen und anderen Handelsbarrieren? Oder wird Großbritannien klein beigeben und die meisten institutionellen Bindungen mit der EU zumindest vorübergehend beibehalten, dabei aber die Kontrolle über die EU-Migration verlieren? Der Teufel steckt im Detail, aber die britische Regierung hat die Details in der öffentlichen Debatte bisher weitgehend vermieden.
Ähnliche Abstimmungsmuster in anderen Ländern
Zwar gab es in letzter Zeit in keinem anderen EU-Land ein Austrittsreferendum wie in Großbritannien im Juni 2016, allerdings sind populistische Strömungen in vielen EU-Mitgliedstaaten zu beobachten. Obwohl unsere Ergebnisse keine kausale Interpretation zulassen, können sie sehr wohl zur Vorhersage benutzt werden. In diesem Zusammenhang untersuchen wir die französischen Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2017.7 Als zu erklärende Variable nehmen wir den Stimmenanteil von Marine Le Pen und ihrer Front National in 95 französischen Départements. Als Faktoren auf der rechten Seite benutzen wir die gleichen wie in unserer Analyse des Brexit-Referendums in Großbritannien (vgl. Abbildung 4 für die verschiedenen Gruppen), aber natürlich auf französischer Département-Ebene. Wir nehmen dann die gleiche Art von Regressionen vor wie in unserem britischen Datensatz. Grundsätzlich zeigt sich, dass die gleichen Faktoren in Frankreich entscheidend sind für den Stimmenanteil von Marine Le Pen wie in Großbritanninen für den Brexit. Insbesondere scheint der Bildungsstand der Bevölkerung wichtig.
Wir benutzen unser britisches Modell auch (mit den britischen Koeffizienten), um das französische Wahlergebnis vorherzusagen. Selbst diese Variante (ein britisches Modell übertragen auf Frankreich) funktioniert relativ gut. Aus dieser Analyse lässt sich schließen, dass die grundlegenden Faktoren hinter dem Brexit-Referendum in ähnlicher Form in Frankreich vorherrschen und sich dort bei den jeweiligen Wahlen niederschlagen. Es liegt nahe, dass ähnliche Faktoren auch in anderen europäischen Ländern eine gewichtige Rolle spielen würden, wenn man die entsprechenden Daten umfassend in systematischen Regressionen analysieren würde, z. B. was den Stimmenanteil für die AfD in Deutschland angeht. Daher sollte das Brexit-Referendum nicht als reines britisches Kuriosum betrachtet werden, sondern als ein wesentliches politisches Ereignis mit Bedeutung für Europa weit über Großbritannien hinaus.
Dieser Artikel fasst zum großen Teil Forschungsergebnisse aus S. O. Becker, T. Fetzer, D. Novy: Who Voted for Brexit? A Comprehensive District-Level Analysis, in: Economic Policy, 32. Jg. (2017), H. 92, S. 601-650, zusammen. In leicht veränderter Form ist das Material bereits als S. O. Becker, T. Fetzer, D. Novy: Was sind die tiefliegenden Faktoren hinter dem Brexit-Referendum?, in: ifo Schnelldienst, Nr. 12/2017 (29.6.2017), S. 9-12, erschienen.
- 1 J. Burn-Murdoch: Brexit: Voter Turnout by Age, in: Financial Times vom 24.6.2016.
- 2 E. Kaufmann: It‘s NOT the Economy, Stupid: Brexit as a Story of Personal Values, British Politics and Policy Blog, London School of Economics and Political Science, Juli 2016.
- 3 S. O. Becker, T. Fetzer, D. Novy: Who Voted for Brexit? A Comprehensive District-Level Analysis, CAGE Working Paper, Nr. 305, Oktober 2016, aktualisiert im März 2017.
- 4 R. Ford, M. Goodwin: Revolt on the Right: Explaining Support for the Radical Right in Britain, Abingdon 2014.
- 5 S. O. Becker, T. Fetzer: Does Migration Cause Extreme Voting, CAGE Working Paper, Nr. 306, Oktober 2016, aktualisiert im April 2017.
- 6 D. Innes, G. Tetlow: Delivering Fiscal Squeeze by Cutting Local Government Spending, in: Fiscal Studies, 36. Jg. (2015), H. 3, S. 303-325.
- 7 S. O. Becker, T. Fetzer, D. Novy: Who Voted for Brexit?, a. a. O.