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Das Bruttoinlandsprodukt wird 2019 voraussichtlich nur um ein halbes Prozent wachsen. Unter Unsicherheiten leidet vor allem die Industrie wegen der globalen Handelskonflikte und des Brexits. Ob dies in einen gravierenden Abschwung münden wird, darüber gibt es Zweifel. Eine wachstumsorientierte Politik, die den anstehenden Herausforderungen in Hinblick auf Klima-, Energie- und Verkehrswende gerecht wird, scheint hingegen konsensfähig zu sein. Dafür sind steigende öffentliche und private Investitionen unabdingbar. Unterschiedliche Auffassungen gibt es allerdings darüber, inwieweit dies mit Defiziten im Staatshaushalt verbunden werden sollte.

Ein langfristiges Investitionspaket zur kurzfristigen Stabilisierung

Seit dem Jahresbeginn 2019 haben sich die Aussichten für die deutsche Konjunktur massiv eingetrübt. War der leichte Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im 3. Quartal 2018 von den meisten Analysten noch als Folge von Einmaleffekten wie der Produktionsverschiebung beim Übergang auf neue Kfz-Abgasstandards abgetan worden, besteht derzeit Gewissheit, dass sich die deutsche Wirtschaft in einem Abschwung befindet. Für das Jahr 2019 rechnet inzwischen keine wichtige Institution mehr mit einem Zuwachs des BIP von mehr als einem halben Prozent. Dissens besteht allerdings darüber, wie tief und wie lang der Abschwung ausfällt, und wie hoch das Risiko einer „echten“ Rezession ist.1

Die Mehrheit der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute geht derzeit noch davon aus, dass die deutsche Wirtschaft schon im Jahresendquartal 2019 wieder leicht wächst und ab Anfang 2020 Wachstumsraten nahe denen des Potenzialoutputs erreicht, ohne dass es im Verlauf des Abschwungs zu einer spürbaren Unterauslastung der Produktion kommen würde.2 Allerdings gibt es eine Reihe von Anzeichen, dass diese Sichtweise doch etwas zu optimistisch sein könnte. So haben sich die Stimmungsindikatoren wie der Ifo-Index und der Einkaufsmanagerindex zuletzt auf niedrigem Niveau gerade einmal stabilisiert und liegen immer noch auf einem Niveau, das bestenfalls eine Stagnation der Wirtschaftsleistung anzeigt. Gleiches gilt für Zahlen zu Auftragseingängen und Produktion im Verarbeitenden Gewerbe.

Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) geht so – anders als die Mehrheit der Institute – auch von einer deutlich längeren Wachstumsschwäche aus und rechnet nur mit einer allmählichen Erholung des Wirtschaftswachstums im Laufe des Jahres 2020.3 In der bis dahin anhaltenden Schwächeperiode besteht damit eine längere Risikophase, in der weitere plötzlich auftretende Schocks die Wirtschaft in eine Rezession stoßen könnten.

Reaktion der Wirtschaftspolitik

Angesichts dieses Risikos stellt sich die Frage, wie die Wirtschaftspolitik reagieren sollte. In der Debatte wird dabei gelegentlich ein Vergleich zur Krise 2008/2009 gezogen. Damals hatte die Finanzpolitik global koordiniert mit der Erhöhung öffentlicher Ausgaben und Steuersenkungen massiv gegengesteuert. Auch die Bundesregierung hatte – wenn auch nach einem gewissen Zögern – ein großes Konjunkturpaket verabschiedet. In der rückblickenden Bewertung wurde die entschiedene fiskalpolitische Reaktion der Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) als ein wichtiger Faktor gewertet, der verhindert hat, dass die Weltwirtschaft in eine Depression abrutschte.4

Interessant ist diese rückblickende Bewertung vor allem deshalb, weil sie einen gewissen Paradigmenwechsel in der Bewertung diskretionärer fiskalpolitischer Stabilisierung beinhaltet. Hatten unter anderem der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vor der Krise 2008/2009 diskretionäre Fiskalpolitik als Instrument grundsätzlich abgelehnt,5 scheint der Konsens nun eher zu sein, dass diskretionäre Fiskalpolitik in tiefen Krisen tatsächlich einen wertvollen Beitrag zur Stabilisierung liefern kann.6 Damit hat die deutsche ökonomische Debatte die Verschiebung der Beurteilung diskretionärer Finanzpolitik zumindest zum Teil nachvollzogen, die sich in den USA schon etwas früher abgezeichnet hatte.7

Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit man die aktuelle Situation mit jener 2008/2009 vergleichen kann. Tatsächlich gibt es im aktuellen Abschwung drei zentrale Unterschiede zu der damaligen Krise:

  1. Damals gab es einen synchronisierten Absturz der globalen Konjunktur, bei dem schnell klar war, dass keine Weltregion verschont bleiben würde und als Nachfragestütze für die Weltkonjunktur dienen könnte.
  2. Derzeit ist – anders als 2008 – die deutsche Binnenwirtschaft und insbesondere die Bauwirtschaft gut ausgelastet.
  3. Außerdem ist aktuell nicht klar, welcher Anteil des deutschen Abschwungs konjunkturell getrieben und welcher Anteil auf strukturelle Veränderungen zurückzuführen ist. Ein wichtiger Faktor für den deutschen Abschwung ist ein Rückgang der Produktion von Kraftfahrzeugen, der auf die Zulieferbranchen Chemie und Maschinenbau negativ ausstrahlt. Bei diesem Rückgang wiederum ist nicht ganz klar, welcher Anteil lediglich einer vorübergehenden Schwäche der globalen Nachfrage nach Autos zuzurechnen ist, welcher Anteil auf die aktuellen Unsicherheiten über die globale Handelsordnung, einschließlich dem Brexit und dem Handelskonflikt der USA mit China und der EU, zurückgeht und welcher Anteil durch strukturelle Veränderungen im Mobilitätsverhalten, etwa einer Verschiebung weg von traditionellen Verbrennungsmotoren zu alternativen Antriebsarten, verursacht wurde. Die Unsicherheit über die Natur der Wachstumsflaute wirkt dabei zum Teil selbst verstärkend auf den Abschwung: Da Unternehmen nicht wissen, welcher Anteil des Nachfragerückgangs strukturell und welcher konjunkturell ist, halten sie sich mit Investitionen zurück.

Für das Design eines traditionellen Konjunkturpakets stellt insbesondere die gut ausgelastete Bauwirtschaft ein gewisses Dilemma dar. Die Förderung kommunaler und privater Bauinvestitionen war ein wichtiges Element des Konjunkturpakets II8 in der Krise 2008/2009. Bei Auflegen eines ähnlichen Programms besteht derzeit die Gefahr, dass die zusätzlichen Ausgaben auf im Bausektor weiterhin ausgelastete Kapazitäten treffen und vor allem die Preise erhöhen, aber weder spürbare Beschäftigungseffekte noch gesamtwirtschaftliche Stabilisierungseffekte bringen. Die Unsicherheit über die globale Konjunkturentwicklung (und damit die Dauer des Abschwungs) macht die Entscheidung zudem schwieriger, ob der deutsche Staat überhaupt stabilisierungspolitisch aktiv werden sollte.

Ein großes Investitionsprogramm

Tatsächlich gibt es allerdings ein paar Maßnahmen, die in der aktuellen Situation einsetzbar wären, ein hohes Stabilisierungspotenzial haben und gleichzeitig auch bei einer (unerwartet) schnellen Erholung der Konjunktur keine Probleme mit sich bringen würden. Möglicherweise für einige überraschend zählt zu diesen Maßnahmen trotz eines gut ausgelasteten Bausektors ein Investitionsprogramm. Dabei käme es heute allerdings weniger darauf an, kurzfristig mit öffentlichen Investitionen die Nachfrage zu stimulieren, sondern über ein großes Investitionsprogramm zum einen die Erwartungen des Unternehmenssektors zu stabilisieren, zum anderen einen Orientierungsrahmen zu geben, in welche Richtung die großen, anstehenden Veränderungen der deutschen Wirtschaft wie die Energiewende und Klimawende laufen werden.

Die deutsche Wirtschaft steht vor massiven Herausforderungen: Neben der anstehenden demografischen Entwicklung kämpft sie mit einer maroden öffentlichen Infrastruktur, hat Nachholbedarf bei der Digitalisierung und steht vor den Herausforderungen der Dekarbonisierung. Derzeit zirkulieren Zahlen für notwendige zusätzliche öffentliche Investitionen in mittlerer dreistelliger Milliardenhöhe über die kommenden zehn Jahre, also pro Jahr etwas mehr als 1 % des BIP. Allerdings hat sich die Politik noch nicht durchringen können, die Weichen eindeutig für eine solche Modernisierung der deutschen Volkswirtschaft zu stellen.

Eine Möglichkeit der Konjunkturstabilisierung wäre nun, diese Bedarfe konkret zu definieren und ein mehrjähriges, kreditfinanziertes Investitionsprogramm zu verabschieden, das die identifizierten Mängel systematisch behebt. Eine glaubhafte Ankündigung solcher Investitionsvolumina mit einer groben Zuordnung zu einzelnen Kategorien würde den potenziell ausführenden Unternehmen einen sicheren Planungshorizont bieten und ihnen damit zum einen den Anreiz geben, auch im Abschwung an ihrem Personal festzuhalten, zum anderen, in neue Ausrüstungen mit Blick auf künftige Aufträge zu investieren. Zudem würde die Aussicht auf eine verbesserte öffentliche Infrastruktur und damit höhere Produktivität die erwarteten Renditen von privaten Anlageinvestitionen erhöhen und somit die Konjunktur noch einmal stützen. Investitionen in bestimmte Infrastrukturelemente der Klimawende, wie Ladesäulen für E-Autos oder Wasserstofftankstellen, könnte zudem mehr Planungssicherheit für private Investitionen in neue Mobilitätstechnologien geben.

Mit einem solchen umfassenden, über Jahre angelegten Modernisierungsprogamm würde auch ein weiteres Problem angegangen, das in der Debatte um öffentliche Investitionen derzeit gerne als Argument gegen höhere Ausgaben angeführt wird: Mangelnde Planungskapazitäten in den Kommunen und mangelnde Kapazitäten bei den Bauunternehmen. Die Ankündigung eines großen, mittelfristigen Investitionsprogramms würde Anreize schaffen, dass Kommunen und Bauunternehmen die derzeit zu knapp bemessenen Kapazitäten erweitern. Derzeit scheitert diese Erweiterung oft daran, dass sich Betriebe und Lokalpolitiker nicht sicher sein können, ob die Förderung von Investitionen aus Bundesmitteln anhält oder nach Kassenlage bald wieder zusammengestrichen wird.

Ein solches Investitionsprogramm hätte zudem den Charme, dass es der deutschen Wirtschaft auch nutzen würde, falls sich die Konjunktursorgen als übertrieben herausstellen sollten. In diesem Fall wäre eine dringend notwendige Erneuerung des öffentlichen deutschen Kapitalstocks mit dem Programm angestoßen, die Langfristigkeit des Vorhabens würde aber erlauben, bei akuten Kapazitätsengpässen die Umsetzung konjunkturgerecht zu strecken.

Andere konjunkturpolitische Instrumente

Als weiteres kurzfristiges Instrument zur Konjunkturstützung wäre eine erneute Vereinfachung des Zugangs zu Kurzarbeitergeld denkbar. Aktuelle Forschungen deuten darauf hin, dass die Regeln zur Kurzarbeit im Abschwung 2008/2009 rund 850 000 Jobs gesichert haben. Außerdem belegt diese Forschung, dass Kurzarbeitergeld vor allem im Abschwung hohes Stabilisierungspotenzial hat.9 Eine solche Lockerung der Zugangsregeln ließe sich derzeit schnell umsetzen, könnte aus Reserven der Bundesagentur für Arbeit finanziert werden (und würde damit nicht unter die Regeln der Schuldenbremse fallen) und ließe sich ebenfalls schnell wieder rückgängig machen, sollten sich die Sorgen vor einer längeren Wachstumsflaute als übertrieben herausstellen.

Ein drittes Element könnte der Einsatz zeitlich befristeter Sonderabschreibungen sein. Hier könnte man Unternehmen erlauben, bis Ende 2020 getätigte Ausrüstungsinvestitionen entweder degressiv oder sogar vollständig sofort abzuschreiben. In der Vergangenheit haben solche zeitlich befristeten Sonderabschreibungen regelmäßig dazu geführt, dass Unternehmen Investitionen vorgezogen und mit dieser Nachfrage die Konjunktur gestützt haben.10 Insbesondere, da derzeit auch die privaten Ausrüstungsinvestitionen in Deutschland schwächeln und die Aufträge des Maschinenbaus stark rückläufig sind, würde sich dieses Instrument anbieten.

Zwar ist zu erwarten, dass eine solche Sonderabschreibung im Umfeld derzeit niedriger Zinsen weniger gut wirkt als in vergangenen Abschwüngen mit höheren Zinsen, da eine solche Abschreibungsregel im Grunde Steuerlast in die Zukunft verschiebt und diese Verschiebung bei niedrigen Zinsen weniger wert ist. Dafür ist der Einsatz dieses Instruments für den Fiskus derzeit auch konkurrenzlos günstig: Da eine Sonderabschreibung zwar niedrigere steuerliche Gewinne (und damit eine niedrigere Steuerschuld) im laufenden Jahr, dafür aber entsprechend höhere Gewinne (und damit eine höhere Steuerschuld) in der Zukunft bedeutet, fallen bei der öffentlichen Hand für dieses Instrument lediglich die Finanzierungskosten für die etwas höhere Staatsverschuldung an. Bei negativen Zinsen auf Staatsanleihen, wie wir sie derzeit beobachten, nimmt der Staat in der Summe am Ende durch die Sonderabschreibungen sogar etwas mehr ein.

Fazit

Gegen eine aktive Konjunkturpolitik wird derzeit gerne argumentiert, dass der aktuelle Abschwung aller Voraussicht nach nicht die Dimensionen der Krise von 2008/2009 erreichen wird und dass sich Finanzpolitik nicht zur Feinsteuerung der Konjunktur eigne. Beides mag stimmen. Trotzdem ist die Empfehlung des wirtschaftspolitischen Stillhaltens falsch und gefährlich: Im Abschwung 2001 rühmte sich der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder seiner „Politik der ruhigen Hand“. In Folge rutschte die deutsche Wirtschaft damals zwar nicht in eine tiefe Rezession, aber doch in eine lange Stagnation. Die Erfahrung der Unternehmen eines immer schwächeren Wachstums zog die Erwartungen der Entscheidungsträger über die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft immer weiter nach unten und belastete so über Jahre die Investitionen. Die Einkommen stagnierten und die Arbeitslosigkeit stieg. Erst der kräftige globale Aufschwung in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts konnte Deutschland aus der Stagnationsfalle befreien. Die Wirtschaftspolitik muss heute dafür sorgen, dass sich eine solche Episode nicht wiederholt. Die Instrumente dafür sind vorhanden. Jetzt geht es darum, sie auch klug und zeitnah einzusetzen.

  • 1 Gemeinhin spricht man bei zwei aufeinanderfolgenden Quartalen mit rückläufiger Wirtschaftsleistung von einer „technischen Rezession“. Eine „echte“ Rezession ist dagegen eine Phase, in der es zu spürbaren Beschäftigungsverlusten, daraus folgenden Einkommens- und Nachfrageverlusten und einer sich selbst verstärkenden Abwärtsspirale kommt.
  • 2 Vgl. Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2019: Industrie in der Rezession: Wachstumskräfte schwinden, in: ifo-Schnelldienst, 72. Jg. (2019), H. 19, S. 3-74.
  • 3 Vgl. S. Dullien et al.: Wirtschaftsflaute hält an. Prognose der wirtschaftlichen Entwicklung 2019/2020, IMK Report, Nr. 150, Düsseldorf 2019.
  • 4 Vgl. United Nations, United Nations Conference on Trade and Development: World Economic Situation and Prospects 2010, Update as of Mid-2010, New York 2010.
  • 5 So schreibt der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 2008/2009, etwa sechs Wochen nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers‘: „Nimmt man neuere empirische Untersuchungen zu den Wirkungen diskretionärer Finanzpolitik zur Kenntnis und ernst, kann man sich einer tiefen Skepsis gegenüber Versuchen einer konjunkturstabilisierenden Finanzpolitik grundsätzlich kaum verschließen.“ Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Sachverständigenrat für Wirtschaft): Die Finanzkrise meistern – Wachstumskräfte stärken, Jahresgutachten 2008/9, Wiesbaden 2008.
  • 6 Im Jahresgutachten 2009/2010 schreibt der Sachverständigenrat: „[B]ei ,normalem´ Konjunkturverlauf und ,kleineren´ Schocks [kann] eine diskretionäre Finanzpolitik nicht begründet werden […]. In solchen Situationen reicht es neben geeigneten geldpolitischen Maßnahmen aus, die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen. An der schweren Wirtschaftskrise im Jahr 2009 war aber nichts ,normal‘. Deshalb wäre es falsch gewesen, wenn auf eine diskretionäre Finanzpolitik verzichtet worden wäre.“ Vgl. Sachverständigenrat für Wirtschaft: Die Zukunft nicht aufs Spiel setzen, Jahresgutachten 2009/10, Paderborn 2009, S. 166. Ähnlich äußern sich auch der Vorsitzende des Sachverständigenrates Christoph M. Schmidt mit zwei Mitarbeitern im Wirtschaftsdient. Vgl. S. Elstner, H. Michaelis, C. M. Schmidt: Das leere Versprechen der aktiven Konjunktursteuerung, in: Wirtschaftsdienst, 96. Jg. (2016), H. 8, S. 534-540, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2016/8/das-leere-versprechen-der-aktiven-konjunktursteuerung/ (7.11.2019).
  • 7 Vgl. A. S. Blinder, O. Blanchard, C. A. Sims: The Case Against the Case Against Discretionary Fiscal Policy, in: R. W. Kopcke, G. M. B. Tootell, R. K. Triest (Hrsg.): The Macroeconomics of Fiscal Policy, Cambridge MA 2006, S. 25-61.
  • 8 Das „Konjunkturpaket II“ war das eigentlich wichtige Konjunkturpaket in der damaligen Krise. Unter „Konjunkturpaket I“ versteht man gemeinhin einzelne, vorab verabschiedete Maßnahmen, die aber kein signifikantes Volumen hatten.
  • 9 Vgl. A. Balleer et al.: Mit Kurzarbeit erfolgreich durch die nächste Rezession?, in: ifo-Schnelldienst, 72. Jg. (2019), H. 18, S. 13-15.
  • 10 Vgl. C. L. House, M. D. Shapiro: Temporary Investment Tax Incentives: Theory with Evidence from Bonus Depreciation, in: American Economic Review, 98. Jg. (2008), H. 3, S. 737-768.

Konjunkturpolitik der ruhigen Hand

Um die Jahreswende 2017/2018 hat die deutsche Wirtschaft den oberen konjunkturellen Wendepunkt durchlaufen. Damit ging ein ungewöhnlich langgestreckter Aufschwung zu Ende, und der Abschwung hat eingesetzt.1 In der Folge schwächelt die konjunkturelle Dynamik seit sieben Quartalen. Hieraus ergibt sich jedoch kein Anlass zu konjunkturpolitischem Aktionismus. Denn im Zuge des Abschwungs hat sich bislang im Wesentlichen die in der vorangegangenen Hochkonjunktur entstandene Überauslastung der Produktionskapazitäten wieder zurückgebildet. Diese Korrektur war nicht nur unausweichlich, sondern sie ist auch stabilitätsgerecht. Unausweichlich ist sie, weil die gesamtwirtschaftliche Kapazitätsauslastung naturgemäß nicht endlos steigen kann und daher ein Daueraufschwung unmöglich ist. Das Entweichen des konjunkturellen Überdrucks ist zugleich stabilitätsgerecht, weil dies einer Fehllenkung knapper Ressourcen entgegenwirkt. Diese tritt typischerweise im Boom vermehrt auf, weil Unternehmen bei der Beurteilung ihres Geschäftserfolgs nicht trennscharf zwischen zyklischen und idiosynkratischen Faktoren unterscheiden können. In der Folge werden dann auch solche Geschäftsmodelle vorangetrieben, die im Markt nicht nachhaltig sind, weil sie sich nur in der Hochkonjunktur auszahlen. In der Folge kommt es zu einer systematischen Fehlallokation knapper Ressourcen, die das Wachstumspotenzial schmälert und im Zuge der notwendigen Bereinigung die wirtschaftliche Aktivität dämpft.

Normalauslastung der Kapazitäten in der Gesamtwirtschaft

Gesamtwirtschaftlich stellt somit eine Überauslastung ebenso eine stabilitätspolitische Zielverfehlung dar wie eine Unterauslastung – mit Blick auf die im Boom entstehenden Verzerrungen in der Produktionsstruktur und dem daraus resultierenden Korrekturbedarf ist die Hochkonjunktur sogar ursächlich für die nachfolgende Schwächephase. Hinzu kommt, dass in Zeiten der Hochkonjunktur meist auch die Akteure in der Wirtschafts- und Finanzpolitik vermehrt zu Fehlentscheidungen verleitet werden. So erscheinen in Zeiten des Booms notwendige Strukturreformen als weniger dringend, weshalb sie tendenziell vernachlässigt werden. Zudem ermuntern die vollen öffentlichen Kassen dazu, staatliche Aufgaben zu formulieren, deren Umfang nicht an das Normalmaß der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit angepasst ist, weil die staatlichen Finanzierungsspielräume überschätzt werden. Grundsätzlich besteht die wirksamste Stabilitätspolitik mithin darin, bereits der Hochkonjunktur entgegenzuwirken, anstatt in der Rezession die Bereinigungsprozesse durch mehr oder weniger zielgenaue Konjunkturprogramme diskretionär abzufedern.

Die gesamtwirtschaftliche Produktionslücke dürfte mittlerweile weitgehend geschlossen sein, die Wirtschaftsleistung bewegt sich somit derzeit in der Nähe des geschätzten Produktionspotenzials. Auch ergänzende Indikatoren wie die Umfragen zur Kapazitätsauslastung oder zu den produktionsbehindernden Faktoren (Mangel an Aufträgen, fehlende Arbeitskräfte) deuten auf ein Aktivitätsniveau hin, das leicht oberhalb der Normalauslastung liegt. Dieser Befund macht zugleich aber auch deutlich, dass die Diskussion um eine „technische Rezession“ für die Beurteilung der konjunkturpolitischen Handlungsoptionen zu kurz greift.2 Das Definitionskriterium der „technischen Rezession“ – zwei Quartale mit schrumpfender Wirtschaftsleistung in Folge – bezieht sich nur auf die Veränderung der Produktion, blendet das Niveau der Kapazitätsauslastung jedoch aus. Gerade darauf kommt es aber aus stabilitätspolitischer Sicht an. Eine echte Rezession, also eine rückläufige gesamtwirtschaftliche Auslastung deutlich unterhalb des Normalniveaus, ist derzeit nicht erkennbar. Ob im zurückliegenden Sommerhalbjahr in Deutschland eine „technische Rezession“ vorlag oder nicht, ist daher konjunkturpolitisch nebensächlich. Sie wäre ohnehin nur von homöopathischer Stärke. Von einem Einbruch der Wirtschaftsleistung kann jedenfalls keine Rede sein. Diese zeichnet sich auch nicht für die Entwicklung in näherer Zukunft ab.

Industrie durchschwingen lassen und auf automatische Stabilisatoren setzen

Neben der gesamtwirtschaftlichen Diagnose spielt für die konjunkturpolitische Einschätzung auch das Branchenmuster eine Rolle. Hier zeigt sich ein gewohntes Muster. Wie schon in vorangegangenen Abschwüngen ist auch gegenwärtig die Abwärtsdynamik in den Industriebereichen besonders ausgeprägt. Die weltmarktorientierten Investitionsgüterhersteller sind besonders exponiert, weil sie neben zyklischen Einflüssen auch unter den Handelskonflikten und der davon ausgehenden Verunsicherung der Investoren leiden.3 Ausweislich der Umfragen zur Kapazitätsauslastung hat die Industrie im abgelaufenen Quartal die Schwelle zur Rezession überschritten. Dies wird mit Verzögerung auch negativ auf die konsumnahen Dienstleistungsbereiche ausstrahlen. So hat sich die Beschäftigungsdynamik bereits merklich abgekühlt. Angesichts des Produktportfolios der von Rezession betroffenen industriellen Wirtschaftsbereiche kann die Konjunkturpolitik indes wenig tun, um den dortigen Nachfrageausfällen, insbesondere im Exportgeschäft, sinnvoll entgegenzutreten. Insofern muss sie in diesen Bereichen die Abwärtsdynamik durchschwingen lassen.4 Die im Abgaben- und Transfersystem verankerten automatischen Stabilisatoren sind aber ausreichend, um den negativen Übertragungseffekten auf die konsumnahen Wirtschaftsbereiche zu begegnen. Diese Stabilisatoren werden innerbetrieblich dadurch verstärkt, dass die Unternehmen im Regelfall bestrebt sein werden, ihre Arbeitskräfte auch bei einer Auftragsflaute noch im Unternehmen zu halten, um sie nicht leichtfertig an die Konkurrenz zu verlieren. Dieser Effekt dürfte angesichts des demografischen Wandels und der sich dadurch verschärfenden Arbeitskräfteknappheit sogar stärker ausgeprägt sein als in früheren Abschwüngen.

Maßnahmen, die darauf hinauslaufen, die Nachfrage nach langlebigen Gütern, deren Absatzschwäche im Zentrum der industriellen Rezession stehen, dadurch anzuregen, dass deren vorzeitige Verschrottung durch staatliche Subventionen angereizt wird („Abwrackprämien“), sind wirtschaftspolitisch in keiner Weise zu rechtfertigen. Sie widersprechen dem Sinn jeder ökonomischen Aktivität, die ja gerade darin besteht, Güter hervorzubringen, die direkt oder indirekt dem gegenwärtigen oder zukünftigen Konsum dienen. Güter zu vernichten, um Nachfrage für ihre Reproduktion zu schüren, stellt den Zweck des wirtschaftlichen Handelns auf den Kopf und kann daher niemals eine sinnvolle Option der Wirtschaftspolitik sein.

Politökonomische Aspekte

In der Konjunkturpolitik sollte man sich auch politökonomischer Mechanismen bewusst sein, um gesamtwirtschaftlich nachteiligen Entscheidungen vorzubeugen. So gehört es zu den wiederkehrenden Mustern im wirtschaftspolitischen Diskurs, dass im Abschwung bestimmte Vorhaben mit dem Verweis auf einen konjunkturpolitischen Mehrwert mit besonderem Nachdruck gefordert werden. Nicht selten handelt es sich dabei um Maßnahmen, die zu anderen Zeiten nicht genügend Unterstützung mobilisieren können. Besonders die staatliche Investitionstätigkeit rückt dabei in den Fokus, meist mit dem Hinweis auf eine ohnehin zu geringe Investitionsquote der öffentlichen Hand. Um den beabsichtigten Stabilisierungseffekt zu maximieren, wird typischerweise eine Defizitfinanzierung vorgeschlagen. Damit weicht man aber vor allem auch Konflikten aus, die andernfalls durch eine geänderte Prioritätensetzung auf der Ausgabenseite (z. B. Aufstockung der Investitionsmittel zulasten von Transferleistungen) oder durch höhere Abgaben die politische Durchsetzung erschweren.

Konjunkturpolitischer Aktionismus kann aber kein Ersatz für eine wachstumsorientierte Ausrichtung der Finanzpolitik sein. Im Gegenteil geht eine kurzatmige Investitionspolitik des Staates zulasten des Infrastrukturaufbaus, wenn die staatliche Mehrnachfrage nicht auf entsprechende Kapazitäten insbesondere der Bauwirtschaft trifft, wie es seit einiger Zeit der Fall ist. Derzeit belaufen sich die öffentlichen Bruttoinvestitionen auf 2,5 % der Wirtschaftsleistung, was in etwa dem Stand zur Mitte der 1990er Jahre entspricht. In den Jahren 2015 bis 2019 betrug der durchschnittliche Anstieg der staatlichen Investitionen mehr als 7 % p. a. 2018 waren es allein 9 %, über die Hälfte davon war bei den Infrastrukturausgaben in Form höherer Preise verpufft. Diese Entwicklung dürfte sich noch einige Zeit fortsetzen und verweist eher auf eine zwischenzeitliche Überdosierung der öffentlichen Investitionsmittel.

Eine wachstumsorientierte Politik, die die Infrastruktur in den Blick nimmt, sollte daher mittelfristig und azyklisch ausgerichtet sein. Dies reizt bei den Unternehmen eine darauf abgestimmte Kapazitätsplanung an, wodurch der staatliche Mitteleinsatz einen größeren realen Effekt erzielt. Zugleich ist so auch dem Stabilisierungsziel am besten gedient. Wesentlich für eine Verstetigung des öffentlichen Investitionsgebarens ist neben einer adäquaten Ausstattung der Planungskapazitäten eine weitere Entlastung der Kommunen von Sozialausgaben, über die auf Bundesebene entschieden wird. Darüber hinaus könnten die übrigen Länder dem Beispiel Hessens folgen und über einen kommunalen Altschuldentilgungsfonds überschuldeten Städten und Gemeinden wieder größere Spielräume für investive Ausgaben ermöglichen.

Finanzpolitik bereits expansiv ausgerichtet

Auch in der internationalen Konjunkturdebatte wird die deutsche Finanzpolitik bis zuletzt immer wieder dazu aufgefordert – etwa seitens des Internationalen Währungsfonds (IWF) oder der Europäischen Zentralbank (EZB) –, den finanzpolitischen Spielraum stärker zu nutzen. Diese Appelle übersehen, dass dies längst geschieht. So schlossen die öffentlichen Haushalte 2018 zwar mit einem gesamtdeutschen Rekordüberschuss ab – sowohl absolut (62,4 Mrd. Euro) als auch in Relation zur Wirtschaftsleistung (1,9 %). Hiervon waren ausweislich der jüngsten Schätzung der Gemeinschaftsdiagnose gut zwei Drittel strukturell angelegt, der Rest war konjunkturell bedingt. Über den strukturellen Überschuss hat die Finanzpolitik jedoch mit den bislang vorliegenden Beschlüssen bis 2021 bereits weitgehend verfügt und somit die diskretionären Spielräume im Großen und Ganzen ausgereizt. Im Zuge der konjunkturellen Abkühlung bildet sich die Konjunkturkomponente ohnehin deutlich zurück.

Der Staat setzt durch den Abbau des strukturellen Überschusses in diesem und den beiden Folgejahren jeweils einen finanzpolitischen Impuls von durchschnittlich einem halben Prozent in Relation zur Wirtschaftsleistung. Ein Großteil davon stützt unmittelbar die Massenkaufkraft. Standortstärkende Effekte sind nur von einem kleineren Teil der Maßnahmen zu erwarten. Der Staatseinfluss auf das Wirtschaftsgeschehen nimmt insgesamt zu. So steigen im Zuge des Auflösens der strukturellen Überschüsse die Staatsausgaben in Relation zur Wirtschaftsleistung von 2019 bis 2021 um 0,8 Prozentpunkte auf 46 %, während die Einnahmequote im selben Zeitraum nur um 0,4 Prozentpunkte auf 46,2 % zurückgeführt wird. Die jüngst im Klimaschutzplan 2030 avisierten Maßnahmen dürften beide Quoten mittelfristig steigen lassen.

Für die Beurteilung der finanzpolitischen Ausrichtung darf nicht vergessen werden, dass der öffentlichen Hand mit der Niedrigzinsphase ein Faktor zugutekommt, auf den sie kaum Einfluss hat. So betrug die öffentliche Zinslast im Jahr 2002 – bei ähnlichem relativen Schuldenstand wie heute – noch 3 % der gesamten Wirtschaftsleistung, während sie derzeit weniger als 1 % ausmacht. Ein Anstieg der durchschnittlichen Verzinsung der ausstehenden Staatsschulden um 0,5 Prozentpunkte würde die Zinsausgaben bereits um rund 10 Mrd. Euro steigen lassen. Auch wenn eine solche Entwicklung in naher Zukunft nicht zu erwarten ist, so ist die Finanzpolitik gleichwohl gut beraten, sich mittelfristig nicht nur an den derzeit äußerst günstigen Finanzierungsbedingungen zu orientieren. Auch ist für die Einschätzung der strukturellen Verfügungsspielräume zu beachten, dass das Konjunkturbereinigungsverfahren prozyklisch übersteuert und somit in der gegenwärtigen Konjunkturphase strukturelle Überschüsse ausweist, von denen sich ein Teil im Nachhinein als konjunkturell herausstellen könnte.5

Investitionen kein Grund für höhere Defizite

Im laufenden Jahr 2019 dürfte der Bruttoschuldenstand des Staates in Relation zur Wirtschaftsleistung erstmals seit 17 Jahren wieder unter dem Maastricht-Referenzwert von 60 % liegen und in den Folgejahren ebenfalls moderat sinken. Auch vor diesem Hintergrund wird mit Blick auf die äußerst niedrigen Zinsen und die Mängel in der Infrastruktur immer wieder die Schuldenbremse infrage gestellt. Das Zinsargument übersieht indes, dass die Kapitalkosten für staatliche Investitionen nicht nur in der Zinslast bestehen, sondern auch in Form von Abschreibungen auftreten. Daher kann man die Vorteilhaftigkeit von Infrastrukturausgaben nicht allein daran festmachen, dass bei der staatlichen Mittelaufnahme am Kapitalmarkt derzeit praktisch keine Zinsen zu zahlen sind. Zudem lässt sich mit dem Verweis auf den mitunter schlechten Zustand der Infrastruktur – etwa marode Schulgebäude oder verschlissene Eisenbahnschienen – keine Defizitfinanzierung rechtfertigen, denn es ist unstrittig, dass der Substanzerhalt der Infrastruktur aus dem laufenden Haushalt beglichen werden muss, sofern das Renditeargument tragen soll. Dies ist ausweislich des seit der Jahrtausendwende schrumpfenden öffentlichen Nettokapitalstocks bereits vor Inkrafttreten der Schuldenbremse im Jahr 2009 nicht erfolgt. Anstatt den Erhalt der bereits bestehenden Infrastruktur abermals durch Kreditaufnahme zu finanzieren, sollte zum Ausgleich des Sub­stanzverzehrs eine entsprechende Mittelumschichtung in den öffentlichen Haushalten vorgenommen werden. So würde sichergestellt, dass die gegenwärtige Generation nicht von der Substanz lebt, die sie vorgefunden hat.

Auch der Ausbau der Infrastruktur erfordert aus Sicht der Lastverteilung zwischen den Generationen nicht zwingend eine Schuldenfinanzierung, die ohnehin nur in dem Maße reale Lasten auf der Zeitachse verschieben kann, wie es sich um Auslandsverschuldung handelt. Wenn jede Generation den öffentlichen Kapitalstock aus laufenden Haushaltsmitteln – also abgabenfinanziert – erweitert, ergibt sich zwischen den Generationen eine gleiche Lastverteilung. Zugleich wird dabei die finale Einnahmen- und Ausgabenentscheidung von jeder Generation abschließend getroffen. Demgegenüber bleibt bei einer Schuldenfinanzierung die Finanzierungsfrage ungeklärt, und der kommenden Generation wird ein entsprechender Verteilungskonflikt hinterlassen. Eine stärkere Nutzerfinanzierung von Infrastrukturen und tertiären Bildungseinrichtungen würde darüber hinaus die öffentlichen Haushalte insgesamt entlasten. Angesichts des sich in naher Zukunft auch im Staatshaushalt immer deutlicher niederschlagenden demografischen Wandels bleibt die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen weiterhin ein wichtiger Aspekt in der Begründung für die Schuldenbremse. Jedes Aufweichen der Defizitkriterien läuft Gefahr, dass die zusätzliche Nettokreditaufnahme letztlich nicht dazu dient, zusätzliche Investitionen zu finanzieren, sondern unpopuläre Maßnahmen, die aber notwendig sind, um die sozialen Sicherungssysteme demografiefest zu machen, hinauszuschieben. Im Endeffekt würden damit vor allem die Rentenleistungen über neue Staatsschulden finanziert.

Die deutsche Wirtschaft durchläuft derzeit nicht den ersten Abschwung, es wird auch nicht der letzte sein. Das stabilisierungspolitische Instrumentarium muss nicht jedes Mal neu erfunden werden. Mit den automatischen Stabilisatoren, deren zielgenaues und zeitnahes Einsetzen die Schuldenbremse ermöglicht, ist die Konjunkturpolitik gut gewappnet. Dies erspart zusätzliche diskretionäre Maßnahmen. Es bedarf daher weder stimulierender Konjunkturprogramme, noch muss konjunkturellen Defiziten hinterherkonsolidiert werden.

  • 1 Vgl. M. Ademmer, J. Boysen-Hogrefe, S. Fiedler, D. Groll, N. Jannsen, S. Kooths, S. Mösle, G. Potjagailo, M. Wolters: Deutsche Konjunktur im Abwärtssog, Kieler Konjunkturberichte, Nr. 59 (2019|Q3), Kiel 2019; sowie Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Industrie in der Rezession – Wachstumskräfte schwinden, Berlin 2019.
  • 2 Vgl. M. Ademmer, N. Jannsen, S. Kooths, M. Wolters: Deutsche Wirtschaft in der Rezession?, IfW-Box 2019.10, Kiel 2019.
  • 3 Zur Bedeutung der Unsicherheit für die Industrieproduktion in Deutschland siehe auch das Konjunkturschlaglicht in diesem Heft: N. Jannsen: Deutsche Industrieproduktion schwächer, in: Wirtschaftsdienst, 99. Jg. (2019), H. 11, S. 811-812, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2019/11/deutsche-industriepolitik-schwaecher/ (7.11.2019).
  • 4 Standortstärkende Maßnahmen wären gleichwohl zu begrüßen, um Deutschland für ökonomische Aktivität insgesamt und Investitionen im Besonderen attraktiver zu machen. Eine solche auf das Produktionspotenzial ausgerichtete Wachstumspolitik sollte aber unabhängig vom Konjunkturzyklus ins Auge gefasst werden und unabhängig sein von der Auslastung bestimmter Branchen oder anderer situativer Erwägungen.
  • 5 Vgl. M. Ademmer, J. Boysen-Hogrefe, K. Carstensen, P. Hauber, N. Jannsen, S. Kooths, T. Rossian, U. Stolzenburg: Schätzung von Produktionspotenzial und -lücke: Eine Analyse des EU-Verfahrens und mögliche Verbesserungen, Kieler Beiträge zur Wirtschaftspolitik, Kiel 2019.

Konjunktur in der Krise – Zeit für ein Wachstumsprogramm!

Das Herzstück der deutschen Wirtschaft – die Industrie – befindet sich in der Rezession. Im Herbstgutachten 2019 gehen die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute nur noch von einem Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von einem halben Prozent in diesem Jahr aus. Auch im Jahr 2020 wird sich die Wirtschaft nur leicht erholen und hinter dem Potenzialwachstum zurückbleiben.1 Stimmen werden laut, die nach kurzfristigen Konjunkturimpulsen rufen. Schnell zusammengestellte, auf kurze Zeit gewährte zusätzliche Mittel für mehr öffentliche Investitionen, das Abwracken von Autos oder temporäre steuerliche Vorteile für einzelne Vorhaben sind allerdings kaum geeignete Reaktionen auf die derzeitige wirtschaftliche Lage.

Vieles, was die aktuelle Lage bestimmt, hat nichts mit einer Nachfrageschwäche im Inland zu tun. Vielmehr sind es unterschiedliche globale Risiken und Konflikte wie der ungeklärte Brexit oder der Handelskonflikt zwischen den USA und China, die die Investitionsbereitschaft im Verarbeitenden Gewerbe weltweit belasten. Deutschland trifft dies als Ausstatter der Welt mit Fahrzeugen, Maschinen und Anlagen empfindlich. Es fehlt vielfach an Zutrauen für den Bestand und die Zukunft von Wirtschaftsräumen – auch in Deutschland selbst. Die hierzulande ansässigen Unternehmen sind zu Nettosparern geworden und investieren ihre Gewinne der vergangenen Jahre lieber im Ausland als in die Entwicklung des heimischen Standorts.

Große Herausforderungen in zentralen Bereichen

An dieser Stelle kann und sollte die Wirtschaftspolitik die Chancen ergreifen, die sich derzeit bei äußerst günstigen Finanzierungsbedingungen bieten. Dass die Unternehmen selbst in guten Jahren nicht mehr in den heimischen Standort investieren, hat nicht allein mit einer Internationalisierung der Wertschöpfungsketten zu tun – es ist auch Ausdruck dafür, dass die Zuversicht schwindet, langfristig von Deutschland aus gute Geschäfte machen zu können. Ein leichtes wäre es, sich auf einen Steuersenkungswettbewerb einzulassen. Strittig ist aber, ob und in welchem Umfang dies zusätzliche reale ökonomische Aktivität ins Land holt. An einer entsprechenden Wirkung der Steuerreform des amtierenden US-Präsidenten Trump wurden zumindest nach vorläufigen Untersuchungen gewisse Zweifel laut.2

Anders verhielte sich dies bei einer nachhaltigen Investitionsagenda zur Stärkung des Standorts. Die Qualität wichtiger Infrastrukturen hat in den letzten Jahren deutlich gelitten – zentrale Technologien wie Breitband und ein schnelles Mobilfunknetz stehen vielerorts nicht zur Verfügung.3 Erschwerend kommt hinzu, dass der demografische Wandel und die großen Herausforderungen einer Dekarbonisierung der Volkswirtschaft in den kommenden Jahren gemeistert werden müssen. Daraus ergeben sich Investitionsbedarfe in erheblichem Umfang, möchte man das Potenzialwachstum auch in den kommenden Jahren in Größenordnungen um die 1,5 % stabilisieren – nach aktuellen Berechnungen dürfte dies im Jahr 2024 nur noch 0,8 % betragen (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1
Wachstum des Produktionspotenzials und seiner Komponenten
Wachstum des Produktionspotenzials und seiner Komponenten

Anmerkung: Berechnung nach modifizierter EU-Methode, in der die Partizipationsquote mit einem Alterskohortenmodell geschätzt und ein verkürzter Projektionszeitraum angenommen wird.

Quelle: Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Konjunktur deutlich abgekühlt – Politische Risiken hoch, Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2019.

Klar definiert werden können Bedarfe in Bereichen wie dem sozialen Wohnungsbau, der Digitalisierung oder der Verkehrsinfrastruktur.4 Für staatliche Investitionen auf dem Wohnungsmarkt spricht, dass Marktlösungen alleine zu Externalitäten führen und darüber hinaus mit Investitionen in öffentlich geförderten Wohnraum die Produktivität und Chancengerechtigkeit gesteigert werden kann. Ein flächendeckend schnelles Internet und eine gute Verkehrsinfrastruktur sind die Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum, gleichwertige Lebensverhältnisse und gesellschaftliche Teilhabe. Von einem Ausbau profitieren insbesondere ländliche und strukturschwache Regionen. Zudem ist eine gute Infrastruktur für die Schiene und den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) auch eine wichtige Grundlage für die Erreichung der weitgehenden CO2-Neutralität bis 2050. Zusammen mit dringend notwendigen Modernisierungen im Bereich Kindergarten und Ganztagesschulausbau und Krankenhäuser lässt sich ein notwendiger Investitionsbedarf von rund 30 Mrd. Euro ableiten.5 Ein höherer Wert ergibt sich zudem, wenn auch der Nachholbedarf im öffentlichen Personennahverkehr und in den Kommunen eingerechnet wird (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1
Investitionsbedarfe von 2020 bis 2030
  Mrd. Euro pro Jahr
Modernisierungsbedarf 30
Kindergarten/Schulen1 10
Wohnungsbau1 5
Digitalisierung/Verkehr1 6
Dekarbonisierung bis 20502 12
Gesundheit/Pflege3 3
abzüglich Maßnahmen Koalitionsvertrag4 6
Nachholbedarf5 14

1 T. Krebs, M. Scheffel: Öffentliche Investitionen und inklusives Wachstum in Deutschland, Bertelsmann Stiftung, 2017.  

2 Unteres Spektrum der Metaanalyse zum Investitionsbedarf für die notwendige Dekarbonisierung, vgl. R. Wronski, A. Mahler: Investitionsmotor Klimaschutz – Metaanalyse zum Investitionsbedarf für die notwendige Dekarbonisierung, Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft 2017.  

3 GKV-Spitzenverband: Investitionsbedarf der Krankenhäuser, Berlin 2019.  

4 Aktuell beschlossene und geplante zusätzliche investive Maßnahmen enthalten unter anderem: Fonds zur Förderung der Künstlichen Intelligenz/KI-Strategie, Ausbau des Schienennetzes (nicht im Rahmen des Klimapakets), Digitalpakt Schule, Breitbandausbau, Strukturstärkungsgesetz: Kohleregionen, Gute-Kita-Gesetz, Kommunalinvestitionsförderungsfonds: Sanierung Schulen, Klimapaket.  

5 Kreditanstalt für Wiederaufbau: KFW Kommunalpanel 2019.

Zusätzliche öffentliche Investitionen können private Investitionen anregen

Kritiker einer entsprechenden Modernisierungsagenda halten dem entgegen, dass das Geld bereits jetzt nicht den Weg in steigende reale Investitionen findet. Dies hätte unterschiedliche Gründe: Zum einen existierten Kapazitätsengpässe in der Bauwirtschaft – zusätzliche öffentliche Finanzmittel würden kaum noch in zusätzlicher Bauleistung münden, sondern vielmehr in steigenden Preisen verpuffen.6 Zudem gäbe es einen Engpass bei den Planungs- und Genehmigungskapazitäten auf kommunaler Ebene.7 Dies ist auch Ergebnis der langjährig negativen Nettoinvestitionen, die zu keinem weiteren Anstieg der Kapitalintensität und einem sinkenden Modernitätsgrad der Infrastruktur geführt haben. Beides – ausreichende Bau- aber auch Planungskapazitäten – sind Voraussetzung für eine nachhaltige Steigerung der Investitionstätigkeit.

Schwerwiegender erscheinen aber die Argumente, die darauf abzielen, dass öffentliche Investitionen private verdrängen (Crowding-out): Zum einen führt der Anstieg der öffentlichen Investitionen zu höheren Kapitalkosten, weil der Staat größere Mengen finanzieller Mittel nachfragt. Die steigenden Zinsen verteuern auch die Kreditaufnahme für Unternehmen, wodurch Investitionen unrentabler und vorerst aufgeschoben werden. Neben der Finanzierung öffentlicher Investitionen über Kredite kann auch eine Finanzierung über Steuereinnahmen negative Rückwirkungen auf die privatwirtschaftliche Aktivität haben. Zum anderen erwarten rationale Haushalte und Unternehmer bei temporär schuldenfinanzierten Staatsausgaben zukünftige Steuererhöhungen, sodass sie weniger nachfragen und investieren. Allerdings hängt diese Entscheidung von den zukünftigen Erträgen der Ausgabenerhöhung sowie der Dauer des Ausgabenprogramms ab. Erwarten die Akteure beispielsweise zusätzliche volkswirtschaftliche Erträge, mit denen die Ausgaben langfristig finanziert werden können, und eine permanente Erhöhung der öffentlichen Investitionstätigkeit, dürfte dies private Investitionen anregen.

So können öffentliche Investitionen die Investitionsbedingungen für die Privatwirtschaft verbessern und deren Investitionstätigkeit stimulieren (Crowding-in). Auch durch günstigere Standortbedingungen infolge verbesserter Infrastrukturen wird die wirtschaftliche Aktivität angeregt. Beispielsweise kann eine staatlich finanzierte Ausweitung des Straßenverkehrsnetzes den Transport und Handel von Gütern vereinfachen und beschleunigen, was zu Effizienzgewinnen in den Produktionsprozessen und somit zu steigenden Gewinnerwartungen privater Firmen führen kann. Der Produktivitätsanstieg und die steigenden Gewinnerwartungen erhöhen die Investitionsbereitschaft der privaten Firmen. Ob ein Crowding-in- oder Crowding-out-Effekt überwiegt, hängt also auch von der Art der Investitionen ab. Während beispielsweise die Dynamik der staatlichen Ausrüstungsinvestitionen stark von militärischen Aufträgen bestimmt wird, misst die Entwicklung der Bauinvestitionen die öffentliche Aktivität beim Ausbau der Infrastruktur.

In vornehmlich für die USA vorliegenden Studien werden für die Analyse der Wirkung fiskalischer Impulse und gesamtwirtschaftlicher BIP-Multiplikatoren die Gesamtausgaben des Staates sowie gesondert militärische Ausgaben verwendet.8 Ein Vergleich militärischer und nicht-militärischer Gesamtausgaben zeigt allerdings, dass erstere das BIP mittelfristig senken, während letztere das BIP erhöhen.9 Studien für Deutschland zeigen, dass öffentliche Investitionen das BIP mittelfristig deutlich erhöhen.10 Aktuelle Simulationen und Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) deuten darauf hin, dass dies im Wesentlichen auf den Crowding-in-Effekt zwischen öffentlichen und privaten Investitionen zurückzuführen ist.11 Demnach könnte ein Anstieg der öffentlichen Investitionen mittelfristig ein doppelt so hohes Wachstum privater Investitionen nach sich ziehen. Eine Unterteilung in einzelne Investitionstypen zeigt, dass in Deutschland private Investitionen stark durch öffentliche Infrastrukturinvestitionen stimuliert werden. Bei den Ausrüstungsinvestitionen sprechen die empirischen Ergebnisse hingegen weder für eine Stimulierung noch für eine Verdrängung privater Investitionen. Auch in den USA und in vielen anderen Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erhöhen öffentliche Investitionen die privaten Investitionsausgaben signifikant, was für einen Crowding-in-Effekt spricht.12

Der Zusammenhang zwischen öffentlichen und privaten Investitionen dürfte zudem nicht-linear sein und von unterschiedlichen Zuständen beeinflusst werden.13 So zeigen aktuelle Studien, dass beispielsweise der Crowding-out-Effekt in einem Niedrigzinsumfeld abgeschwächt wird, denn die privaten Finanzierungskosten werden durch zusätzliche Investitionen der öffentlichen Hand nicht tangiert.14 Auch die konjunkturelle Lage könnte wichtig sein: So dürften die in konjunkturellen Boomphasen existierenden Sachmaterial- und auch Personalengpässe den Effekt dämpfen.15 Allerdings gehen Rezessionen (Booms) oft mit einer Phase niedriger (hoher) Zinsen einher, sodass die Rolle der Konjunktur insbesondere für die mittelfristigen Effekte möglicherweise überschätzt wird.16 Der Crowding-in-Effekt ist auch größer, wenn die Investitionen schulden- und nicht steuerfinanziert sind, die öffentlichen Haushalte allerdings ein solides Niveau aufweisen.17 Zudem dürften öffentliche Investitionen einen deutlich stärkeren Effekt haben, wenn sie in unsicheren Zeiten getätigt werden. Denn langfristige Investitionen schaffen Planungssicherheit für private Unternehmen und reduzieren so wiederum die Unsicherheit.

Fazit: Wachstum gestalten

Die derzeitige konjunkturelle Lage verlangt nicht nach einem kurzfristig angelegten Programm zur Stärkung der inländischen Nachfrage – allerdings bedeutet dies nicht, dass die Politik nicht über die konjunkturellen Wirkungen ihrer Handlungen nachdenken sollte. Aktuell drängen sich in Deutschland Fragen nach der Zukunftsfähigkeit des Standorts auf. Der demografische Wandel verlangt nach Antworten auf das sinkende Arbeitskräftepotenzial, die Probleme in der Automobilindustrie provozieren die Frage nach dem Geschäftsmodell der deutschen Volkswirtschaft und die Investitionsschwäche der Unternehmen signalisiert fehlendes Vertrauen in den Standort. An dieser Stelle kann eine mittel- bis langfristig orientierte Strategie zur Stärkung des Produktionspotenzials sowohl konjunkturelle als auch wachstumspolitische Ziele adressieren: Eine breit angelegte öffentliche Investitionsagenda in den identifizierten Bereichen wäre ein klares Signal an die Wirtschaft, dass die Qualität öffentlicher Leistungen wieder steigt, und würde das Produktionspotenzial stärken. Dies wiederum erhöht Vertrauen in Zeiten großer wirtschaftspolitischer Unsicherheit und stützt damit auch ganz kurzfristig die Konjunktur, indem auch private Investitionen angeregt werden. Auch würde die Bauwirtschaft reagieren und entsprechende Kapazitäten aufbauen, wenn sie das Signal bekommt, dass in den kommenden Jahren verlässlich mit einer Investitionstätigkeit zu rechnen ist. Für die fehlenden Kapazitäten in der Bauplanung können zielführende Antworten gefunden werden – Stichwort Pooling von Ressourcen. Ein gut gestaltetes Wachstums­programm ist daher auch eine gute Antwort auf die aktuelle konjunkturelle Schwäche.

  • 1 Für eine Zusammenfassung der Gemeinschaftsdiagnose vgl. C. Michelsen, O. Holtemöller, T. Schmidt, S. Kooths, T. Wollmershäuser: Industrie in der Rezession – Wachstumskräfte schwinden, in: Wirtschaftsdienst, 99. Jg. (2019), H. 10, S. 693-696, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2019/10/industrie-in-der-rezession-wachstumskraefte-schwinden/ (8.11.2019).
  • 2 J. G. Gravelle, D. J. Marples: The Economic Effects of the 2017 Tax Revision: Preliminary Observations, Congressional Research Service, Report 45736, 2019.
  • 3 Y. Girard, A. Mattes, C. Michelsen: Gigabitzugang in Deutschland: im internationalen Vergleich rückständig, aber auch wenig nachgefragt, in: DIW-Wochenbericht, 85. Jg. (2018), H. 25, S. 531-542.
  • 4 Vgl. Stellungnahme der Expertenkommission im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Energie unter Vorsitz von M. Fratzscher „Stärkung von Investitionen in Deutschland“, Berlin 2016.
  • 5 Aktuell beschlossene und geplante zusätzliche investive Maßnahmen der großen Koalition in Höhe von rund 6 Mrd. Euro jährlich sind in der Berechnung berücksichtigt.
  • 6 M. Gornig, C. Michelsen, M. Bruns: Bauwirtschaft weiter im Vorwärtsgang: Staatliche Impulse treiben die Preise, in: DIW-Wochenbericht, 86. Jg. (2019), H. 1/2, S. 3-14.
  • 7 M. Gornig, C. Michelsen: Kommunale Investitionsschwäche: Engpässe bei Planungs- und Baukapazitäten bremsen Städte und Gemeinden aus, in: DIW-Wochenbericht, 84. Jg. (2017), H. 11, S. 211-219.
  • 8 Vgl. A. J. Auerbach, Y. Gorodnichenko: Measuring the Output Responses to Fiscal Policy, in: American Economic Journal: Economic Policy, 4. Jg. (2012), H. 2, S. 1-27; V. Ramey, S. Zubairy: Government Spending Multipliers in Good Times and in Bad: Evidence from U.S. Historical Data, in: Journal of Political Economy, 126. Jg. (2018), H. 21, S. 850-901. Dabei wird nicht gesondert zwischen investiven und konsumtiven Ausgaben unterschieden. Militärische Ausgaben eignen sich, da sie oft Folge von exogenen Ereignissen (Kriege) sind und damit gute Eigenschaften erfüllen, um Endogenitätsprobleme zu umgehen.
  • 9 Vgl. A. J. Auerbach, Y. Gorodnichenko, a. a. O.
  • 10 M. Barišić, T. Krebs, M. Scheffel, a. a. O.; T. Krebs, M. Scheffel: Lohnende Investitionen, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 18. Jg. (2017), H. 3, S. 245-262; J. Hollmayr, J. Kuckuck: Fiscal multipliers of central, state and local government and of the social security funds in Germany: Evidence of a SVAR, Discussion Papers, Nr. 28/2018, Deutsche Bundesbank, 2018.
  • 11 Vgl. auch M. Clemens, M. Goerge, C. Michelsen: Mehr öffentliche Investitionen steigern privatwirtschaftliche Investitionen, in: DIW Wochenbericht, Nr. 31, 2019, S. 537-543. In einem Euroraum-Länderpanel können zudem die Investitionstypen nach Aufgabenbereich berücksichtigt werden. Hier zeigt sich, dass insbesondere Investitionen in die Bereiche Wohnungsbau, Verkehrsinfrastruktur, Bildung und Umwelt einen höheren mittelfristigen Effekt haben.
  • 12 A. J. Auerbach, Y. Gorodnichenko, a. a. O.; A. Abiad, D. Furceri, P. Topalova: The macroeconomic effects of public investment: Evidence from advanced economies, in: Journal of Macroeconomics, 50. Jg. (2016), H. C, S. 224-240.
  • 13 A. Abiad, D. Furceri, P. Topalova, a. a. O., untersuchen die Zustandsabhängigkeit der öffentlichen Investitionen wichtiger Industrie­länder. Die meisten anderen Studien untersuchen die Auswirkungen von Staatsausgaben insgesamt auf das BIP und finden Evidenz für einen nicht-linearen Zusammenhang.
  • 14 Vgl. V. Ramey, S. Zubairy, a. a. O.; M. Klein, R. Winkler: The government spending multiplier at the zero lower bound: International evidence from historical data, Working Papers, Nr. 2018001, 2018, University of Antwerp, Faculty of Business and Economics.
  • 15 Vgl. V. Ramey, S. Zubairy, a. a. O.; A. J. Auerbach, Y. Gorodnichenko, a. a. O.; M. Canzoneri, F. Collard, H. Dellas, B. Diba: Fiscal Multipliers in Recessions, in: Economic Journal, 126. Jg. (2016), H. 590, S. 75-108.
  • 16 V. Ramey, S. Zubairy, a. a. O.; M. Klein, R. Winkler, a. a. O.; E. M. Leeper, N. Traum, T. B. Walker: Clearing Up the Fiscal Multiplier Morass, in: American Economic Review, 107. Jg. (2017), H. 8, S. 2409-2454.
  • 17 A. Abiad, D. Furceri, P. Topalova, a. a. O.; und T. O. Berg: Time Varying Fiscal Multipliers in Germany, in: Review of Economics, 66. Jg. (2015), H. 1, S. 13-46.

Expansivere Fiskalpolitik aus konjunktureller und struktureller Sicht

Die Einschätzung der aktuellen konjunkturellen Lage ist weiterhin uneindeutig. Im 2. Quartal 2019 ist die Wirtschaftsleistung geschrumpft. Im 3. Quartal könnte sich eine Stagnation oder eine weitere Schrumpfung abzeichnen. Damit befände sich Deutschland knapp in einer technischen Rezession. Für das gesamte Jahr 2019 prognostizieren die Institute in ihrem jüngst vorgelegten Herbstgutachten ein Wachstum von nur noch 0,5 % und damit 0,3 Prozentpunkte weniger als noch im Frühjahr. Das wäre das schwächste Wachstum aller Eurozonenländer abgesehen von Italien, aber immerhin noch leicht positiv. Hinter diesen Zahlen verbergen sich aber höchst unterschiedliche Entwicklungen in den einzelnen Sektoren der Volkswirtschaft. Der Dienstleistungssektor und vor allem die Bauwirtschaft entwickeln sich weiterhin stark. Der private Konsum und der Arbeitsmarkt zeigen sich robust. Dafür ist die Industrieproduktion seit nunmehr gut eineinhalb Jahren rückläufig, die Ausrüstungsinvestitionen schwächeln und vor allem die Exporte sind in der ersten Jahreshälfte dramatisch eingebrochen. Einige Industrieunternehmen und Zulieferbetriebe haben mittlerweile Kurzarbeit angemeldet oder planen Anpassungen bei der Beschäftigung.

Diese außenwirtschaftliche Abwärtsentwicklung ist ein weltweites Phänomen. So zeigt Abbildung 1, dass das Wachstum des globalen Handelsvolumens seit 2016 rückläufig und mittlerweile zum Stillstand gekommen ist. Getrieben wird diese Entwicklung vor allem durch Donald Trumps Handelskrieg und die weiterhin ungeklärte Situation beim Brexit. Die politische Krise und der schwelende Haushaltsstreit in Italien, einem unserer wichtigsten Handelspartner, kommen für Deutschland erschwerend hinzu.

Abbildung 1
Globales Handelswachstum und Politikunsicherheit
Globales Handelswachstum und Politikunsicherheit

Quellen: Economic Policy Uncertainty Index, http://www.policyuncertainty.com/ (8.11.2019); OECD Economic Outlook. Zitiert nach L. Boone, M. Buti: Right here, right now: The quest for a more balanced policy mix 18.10.2019, https://voxeu.org/article/right-here-right-now-quest-more-balanced-policy-mix (5.11.2019).

Eine Lesart der aktuellen konjunkturellen Abkühlung ist somit, dass sie größtenteils durch massive Unsicherheiten im Bereich der internationalen Handelspolitik getrieben ist. Hiervon ist Deutschland als exportorientierte Industrienation besonders betroffen. Unternehmen reagieren auf solche politischen Unsicherheitsfaktoren mit Zurückhaltung bei langfristigen Investitionen. Der Aus- und Umbau von globalen Wertschöpfungsketten wird verschoben. Auch inländische Ausrüstungsinvestitionen leiden, wenn die Situation auf wichtigen Absatzmärkten ungeklärt ist. So kann die Abwärtsentwicklung im Exportgeschäft auch auf die Binnenwirtschaft überschwappen.

Hausgemachte Gründe für eine Rezession

Es darf aber bezweifelt werden, dass die aktuelle Schwäche der deutschen Industrieproduktion ausschließlich durch außenwirtschaftliche Faktoren verursacht wird. Hausgemachte strukturelle Gründe gesellen sich hinzu. Das Produktivitätswachstum ist in Deutschland seit geraumer Zeit rückläufig und schwach. Das Innovationstempo lässt nach. Bei der Entwicklung und Verbreitung neuer Technologien ist Deutschland gegenüber anderen Ländern ins Hintertreffen geraten, insbesondere im Bereich der Digitalisierung. Die Vorzeigebranche der deutschen Volkswirtschaft – die Automobilindustrie – scheint die letzten (außerordentlich guten) zehn Jahre nicht in hinreichendem Maß für grundlegende Weichenstellungen genutzt zu haben. Eine internationale Spitzenposition nimmt sie weder bei alternativen Antriebstechnologien, noch bei grundsätzlich neuen Mobilitätsformen (wie selbstfahrenden Autos) mehr ein. Dies ist nur ein Beispiel für einen breiter angelegten Trend.

Im jüngst erschienenen Harvard Atlas of Economic Complexity (AEC) wurde das deutsche Industriemodell als eines charakterisiert, das über Jahrzehnte hinweg durch inkrementelle Prozessinnovationen eines wohletablierten Produktportfolios gewachsen ist. Der Grad an Komplexität in der Industrieproduktion ist dabei kontinuierlich angestiegen und rangiert mittlerweile so hoch wie in kaum einer anderen entwickelten Volkswirtschaft.1 Die Potenziale für zukünftiges Wachstum entlang dieses Pfades seien aber begrenzt. Noch laufe das althergebrachte Geschäftsmodell zwar sehr gut und strahlt auf den privaten Konsum und die Binnenwirtschaft aus. Doch schon in der Wachstums­projektion bis 2027 erreicht Deutschland bloß noch den drittletzten Platz in Europa, unterboten lediglich von Italien und Bulgarien. Ein höheres Wachstum wäre laut AEC nur durch grundständige Innovationen in vollkommen neue Geschäftsmodelle zu erwarten. Aber gerade im Hinblick auf solche disruptiven Innovationen hat Deutschland bislang oft Schwächen gezeigt.

Infrastrukturmängel

Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Oftmals genannte Faktoren sind eine zu defensive Regulatorik und mangelnde Akzeptanz gegenüber neuen (gerade digitalen) Geschäftsmodellen oder die lange Zeit ablehnende Haltung beim Thema Zuwanderung zum Ausgleich eines demografisch bedingten Fachkräftemangels. Neben diese allgemeinen Lamentos treten mittlerweile zwei handfeste Bremsen für private Investitionen: Infrastrukturmängel und ein unsicheres Umfeld bei Energie- und Strompreisen.

Abbildung 2 zeigt die Ergebnisse einer Umfrage der Europäischen Investitionsbank (EIB).

Abbildung 2
Anteil der Firmen, die Infrastrukturmängel als Hindernis für eigene Investitionstätigkeit bezeichnen
Anteil der Firmen, die Infrastrukturmängel als Hindernis für eigene Investitionstätigkeit bezeichnen

SVK = Slowakei, LVA = Lettland, ITA = Italien, DEU = Deutschland, IRL = Irland, AUT = Österreich, EU = Europäische Union, ESP = Spanien, BEL = Belgien, POL = Polen, CZE = Tschechien, FRA = Frankreich, PRT = Portugal, GRC = Griechenland, LTU = Litauen, GBR = Großbritannien, SWE = Schweden, LUX = Luxemburg, FIN = Finnland, SVN = Slovenien, DNK = Dänemark, NLD = Niederlande, EST = Estland, HUN = Ungarn.

Quelle: European Investment Bank Investment Survey, 2018. Zitiert nach L. Boone, M. Buti: Right here, right now: The quest for a more balanced policy mix 18.10.2019, https://voxeu.org/article/right-here-right-now-quest-more-balanced-policy-mix (5.11.2019).

Danach geben bis zu 60 % der hiesigen Unternehmen Mängel in der digitalen Infrastruktur als Zurückhaltungsgrund für eigene Investitionstätigkeit an. Bei der Verkehrsinfrastruktur sind es immerhin noch knapp 50 %. Nur drei Länder in Europa weisen in dieser Befragung noch schlechtere Werte auf. Diese Zahlen zeigen ein langfristiges strukturelles Problem der deutschen Volkswirtschaft an. Die Infrastrukturmängel können aber auch kurzfristig negative konjunkturelle Auswirkungen haben, wenn sie zu entsprechender Investitionszurückhaltung bei den Unternehmen führen.

Eine „grüne“ Transformation des deutschen Industriesektors

Ähnlich verhält es sich bei den Energie- und Emissionspreisen, die insbesondere für die Industrie eine entscheidende Rolle spielen. Es ist absehbar, dass die Zukunft des Industriestandorts Deutschland maßgeblich davon abhängen wird, wie seine Transformation im Hinblick auf Klimaneutralität gelingt, ohne dabei internationale Wettbewerbsfähigkeit einzubüßen. Werden hierzulande technologische Durchbrüche erreicht – etwa durch den Einsatz von Wasserstoff für die Herstellung von Kraftstoffen, zur Energiespeicherung oder zur emissionsfreien Produktion von Stahl und chemischen Grundstoffen – dann trägt das nicht bloß zur Erreichung der selbst gesteckten Klimaziele bei. Vielmehr würde hierdurch der Grundstein für zukünftige Exporterfolge gelegt, denn der weltweite Markt für klimafreundliche Produktionsverfahren und Industrieerzeugnisse weist nach aktuellen Schätzungen ein extremes Wachstumspotenzial auf.2

Für die Entwicklung dieser „grünen“ Geschäftsmodelle sind substanzielle private Investitionen in einen radikalen Technologiewechsel notwendig. Die Boston Consulting Group beziffert den Netto-Investitionsbedarf (einschließlich der Einsparpotenziale beim Ressourcenverbrauch) bis 2050 auf rund 32 Mrd. Euro jährlich. Hierdurch würde einerseits das Ziel einer 95 %igen Klimaneutralität der deutschen Volkswirtschaft realistisch erscheinen. Dieser Investitionspfad hätte zudem aber auch spürbare langfristige Effekte auf das gesamtwirtschaftliche Wachstum, die Exporttätigkeit und den privaten Konsum, gegeben dass andere Industriestaaten früher oder später ebenfalls den Weg in Richtung klimaneutraler Produktion beschreiten.3

Die betriebswirtschaftliche Rationalität derartig massiver privatwirtschaftlicher Investitionen erfordert aber eine konsequente Setzung von Rahmenbedingungen und komplementärer staatlicher Aktivitäten. Erste Grundvoraussetzung ist eine verlässliche Bepreisung von Treib­hausgasemissionen, um Anreize für den Umstieg auf klimaneutrale Produktionsverfahren zu schaffen. Für die tatsächliche Transformation ist das aber bloß eine notwendige und noch keine hinreichende Bedingung. Daneben muss ein verlässliches und kostengünstiges Angebot an Strom aus erneuerbaren Energiequellen treten. Nur dann ist z. B. die (energieintensive) Produktion von Wasserstoff für die weitere industrielle Verwendung realistisch. Nur dann ist der Umstieg vom Verbrennungs- auf den Elektromotor denkbar.4

Im Einzelfall wird aber selbst das noch nicht ausreichen – gerade im Bereich der grundständigen Innovationen. Denn viele neue Technologien sind gerade im Anfangsstadium noch nicht hinreichend erprobt und skaliert, um Kostennachteile gegenüber traditionellen Produktionsverfahren auszugleichen. So zeigen Thie und Görlach, dass selbst ein CO2-Preis von 140 Euro pro Tonne derzeit noch nicht ausreichen würde, um bereits existierende aber noch nicht voll ausgereifte Verfahren der klimaneutralen Stahlproduktion wettbewerbsfähig zu gestalten.5 Zur weiteren Beschleunigung wären gezielte Forschungs- und Entwicklungsausgaben erforderlich. Diese müssten mit zeitlich gestaffelten staatlichen Abnahmegarantien kombiniert werden, um die Investitionen in dieser Branche nicht vorzeitig aufgrund eines zu kurzfristigen Zeithorizonts abzuwürgen.

Kurzum: Ein spürbarer Anstieg der inländischen Investitionen erfordert eine Kombination mehrerer wirtschaftspolitischer Instrumente und vereinzelter industriepolitischer Impulse, um langfristige Transformationsentscheidungen zu einem Geschäftsmodell zu machen. Solange dieses stabile Umfeld nicht geschaffen ist, halten sich viele deutsche Industrieunternehmen aus betriebswirtschaftlich rationalen Gründen zurück und vertrauen auf ihre alten Geschäftsmodelle – mit entsprechend negativen Auswirkungen für die aktuelle konjunkturelle Situation.

Ein Konjunkturprogramm?

Wie der Staat heute konjunkturpolitisch handeln sollte, hängt stark davon ab, welchen relativen Wert man den akuten außenwirtschaftlichen Risiken im Vergleich zu den beschriebenen hausgemachten Investitionsbremsen beimisst. In einem optimistischen Szenario herrscht demnächst Klarheit über die zukünftigen wirtschaftlichen Beziehungen mit Großbritannien, die politische Situation in Italien entspannt sich wieder und die US-amerikanische Handelspolitik wird – beispielsweise nach den Präsidentschaftswahlen 2020 – wieder in Richtung ihres Status quo ante revidiert. Dies hätte positive Auswirkungen auf die gesamte Weltkonjunktur und damit auf die Geschäftserwartungen der deutschen Industrie. Ein Konjunkturprogramm wäre unter diesen Bedingungen kaum erforderlich. Es wäre ausreichend, bis auf weiteres die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen.6

Das scheint momentan der Diskussionsstand innerhalb der Bundesregierung zu sein. Ein beherztes Eingreifen wird derzeit nicht vernehmbar erwogen und käme wohl erst in Betracht, wenn sich die Abwärtsentwicklung der deutschen Industrie auf andere Sektoren ausweitet und den Arbeitsmarkt erreicht. Ein solcher abwartender Ansatz birgt jedoch große Gefahren. Denn erstens negiert er die hausgemachten Gründe für die heimische Investitionsschwäche und ihre konjunkturellen Risiken. Und zweitens stellt sich die Frage, mit welcher Geschwindigkeit und Fokussierung die deutsche Fiskalpolitik im Fall einer konjunkturellen Zuspitzung reagieren könnte.

Notfallmaßnahmen beheben strukturelle Defizite nicht

Traditionell übernimmt die Geldpolitik die kurzfristige Stabilisierungspolitik. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat aber klargemacht, dass sie diese Rolle im aktuellen Markt­umfeld kaum noch alleine wird spielen können. Im September 2019 kündigte sie eine weitere Lockerung und eine Verlängerung des umstrittenen Quantitative Easing (QE) an. Damit ist ihr Handlungsspielraum aber weitgehend ausgereizt und Mario Draghi betonte im Zuge seines Abschieds mehrfach, dass die Fiskalpolitik in der Eurozone nun dringend eine aktivere Rolle spielen müsse.7

Da die Europäische Währungsunion weiterhin nicht über eine nennenswerte finanzpolitische Stabilisierungsfunktion auf zentraler Ebene verfügt, komme diese Verantwortung vor allem den Ländern zu, die über Spielraum verfügen – also insbesondere Deutschland. Ein expansiverer Kurs der Fiskalpolitik ist im aktuellen Zinsumfeld und wegen der akkommodierenden Geldpolitik ohnehin sinnvoll. Im Fall einer weiteren Verschlechterung der konjunkturellen Lage wird er aber alternativlos.

Doch tritt dieser Fall ein und die deutsche Fiskalpolitik übernimmt eine Führungsrolle, stellt sich die Frage nach ihrer konkreten Ausgestaltung. Sie könnte wie schon 2008 auf Notfallprogramme wie die Abwrackprämie oder das Kurzarbeitergeld setzen, die kurzfristig einen Absturz der Produktion in wichtigen Sektoren verhindern sollen. Die unerledigten Hausaufgaben im Bereich der strukturellen Investitionsbedarfe – zur Behebung der Infrastrukturmängel und zur Transformation der Industrie in Richtung klimaneutrale Produktion – würden dabei aber mutmaßlich ins Hintertreffen geraten und auf die lange Bank geschoben. Diese Strukturkonservierung wäre eine schwere Hypothek für den Industriestandort Deutschland bereits in der mittleren Frist.

Impulse setzen durch langfristige Weichenstellungen

Die deutsche Fiskalpolitik sollte daher nicht auf eine krisenhafte Zuspitzung warten und dann mit hektischen Notfallprogrammen reagieren. Sie sollte besser – im Sinne eines vorbeugenden Ansatzes – schon heute konjunkturelle Impulse setzen und dabei einen Fokus auf die ohnehin gebotenen langfristigen Investitionen legen. Hierfür ist ein auf mindestens zehn Jahre ausgelegtes und verlässlich finanziertes Investitionsprogramm erforderlich, das die vorhandenen Spielräume ausnutzt und durch eine Reform der fiskalischen Regeln zielgerecht ausweitet.8

Oftmals wird eingewandt, dass ein solches Investitionsprogramm ins Leere liefe, weil der Bausektor weiterhin voll ausgelastet sei und diverse Fördergelder für Investitions-projekte nicht abgerufen würden. Dieser Einwand übersieht jedoch, dass ein Großteil dieser Probleme endogen ist: Der Bausektor passt aufgrund einer fehlenden langfristigen Perspektive seine Kapazitäten nicht im notwendigen Ausmaß an. Der schleppende Mittelabruf spiegelt den dramatischen Personalabbau auf kommunaler Ebene aus der Vergangenheit. Beide Problemlagen könnten auch kurzfristig wirtschaftspolitisch adressiert werden. So ließen sich etwa durch neue Formen der inter-kommunalen Zusammenarbeit Pooling-Vorteile realisieren. Diese öffentlichen Planungsgesellschaften könnten mehrere Projekte zusammenfassen und attraktive Auftragspakete für die Bauindustrie schnüren. Eine Vereinfachung der Planungs- und Genehmigungsverfahren und eine zielführendere Ausgestaltung von Verfahren der Bürgerbeteiligung müssten hinzukommen.

Schließlich geht es bei der beschriebenen Transformation des Industriesektors längst nicht bloß um klassische Betoninvestitionen, sondern um grundständige Innovationen von Produktionsverfahren. Ein solcher Prozess scheitert nicht an prall gefüllten Auftragsbüchern von Handwerksbetrieben. Vielmehr erfordert er eine verlässliche Perspektive für ein preisliches und regulatives Umfeld kombiniert mit komplementären öffentlichen Investitionen und industriepolitischen Impulsen.

Hier sollte der Staat umgehend aus drei Gründen ansetzen: 1. um die selbst gesteckten Klimaziele erreichen zu können, 2. um die Weichen für die Zukunft des Industriestandorts Deutschland zu stellen, und nicht zuletzt 3. um Impulse zu setzen, damit eine Verschärfung der aktuellen konjunkturellen Delle gar nicht erst entsteht.

Zukunftsinvestitionen und verlässlicher wirtschaftspolitischer Kurs statt Konjunkturpolitik

Die deutsche Wirtschaft hat im Verlauf des Jahres 2019 spürbar an Schwung verloren. Vor allem das Exportgeschäft bremste die wirtschaftliche Entwicklung im 2. Quartal, und eine Entspannung in den Folgemonaten ist kaum zu erwarten. Der Rückgang der preis-, saison- und kalenderbereinigten Exporte war mit 1,3 % gegenüber dem Vorquartal so hoch wie zuletzt Ende 2012. Hierbei kam die Entwicklung wenig überraschend. Bereits im Frühjahr 2019 waren die Exporterwartungen deutscher Unternehmen so düster wie seit der Zuspitzung der Wirtschaftskrise 2009 nicht mehr.1 Die Entwicklung des globalen Handels deutet darauf hin, dass die Exportschwäche kein deutsches Phänomen ist. Im 2. Quartal 2019 lag der preis- und saisonbereinigte Welthandel um 0,6 % unter dem Vorjahresniveau, im Durchschnitt der Monate Mai bis Juli 2019 sogar um 0,9 %.

Globale Risiken für den Welthandel

Ausschlaggebend für die sinkende Dynamik des globalen Handels dürften die Entwicklungen in der globalen Handelspolitik sein. Sowohl Desintegrationsschritte im Zuge des geplanten Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union (EU) als auch die handelspolitische Wende in den USA haben hierbei direkte und indirekte Auswirkungen auf die globalen Handelsströme. Während die direkte Auswirkung des Brexits erst dann einzuschätzen ist, wenn das Austrittsabkommen mit der EU finalisiert ist, zeigen sich indirekte Effekte über die gestiegene Unsicherheit und die damit verbundenen Währungsschwankungen bereits heute. Das Wirtschaftswachstum war im Vereinigten Königreich mit 1,4 % (2018) um fast 1 Prozentpunkt schwächer als 2015, dem Jahr vor dem Referendum. Zum Vergleich: In Deutschland lag das reale Wirtschaftswachstum 2018 um 0,2 Prozentpunkte unter dem Wert des Jahres 2015, in den USA wuchs die Wirtschaft 2018 mit einem ähnlichen Tempo wie 2015. Das britische Pfund erfuhr besonders in den ersten Monaten nach dem Referendum eine starke Abwertung und lag im Oktober 2019 nach wie vor um etwa ein Zehntel unter dem Wert des Monats Juni im Jahr 2016.

Die Implikationen dieser Entwicklungen für das Exportgeschäft deutscher Unternehmen sind bereits anhand der Handelsstatistik sichtbar. Während die nominalen Exporte in das Vereinigte Königreich 2015 um 12,4 % gegenüber dem Vorjahr zulegten, sind sie seitdem rückläufig. Im Jahr 2018 lagen sie um fast 4 % unter dem Vorjahreswert. Neben den direkten Handelsbarrieren, die im Zuge des Brexits je nach Austrittsbedingungen eingeführt werden, dürften diese indirekten Entwicklungen das Exportgeschäft deutscher Unternehmen weiterhin ausbremsen. Empirischen Schätzungen zufolge geht ein um 1 % geringeres Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Vereinigten Königreich mit einem Rückgang der deutschen Exporte dorthin in Höhe von fast 1,8 % einher.2 Der Effekt der Währungsschwankungen und der hohen Unsicherheit ist hierbei nicht erfasst. Die Prognosen für die Entwicklung der britischen Wirtschaft haben sich im Laufe des Jahres 2019 erheblich verschlechtert und somit auch die Perspektiven für die deutschen Exporteure, denn das Vereinigte Königreich bleibt trotz der schwachen Entwicklung in den letzten Jahren gemessen am Umsatz mit über 80 Mrd. Euro eins der fünf wichtigsten Exportzielländer deutscher Unternehmen.

Der zweite Unsicherheitsfaktor, die handelspolitische Wende in den USA, dürfte ebenfalls maßgeblich zu der Verlangsamung des Exportgeschäfts beigetragen haben. Die eingeführten Handelsbarrieren gegenüber China sowie im Bereich Stahl und Aluminium gegenüber anderen Handelspartnern haben die Kosten des internationalen Handels direkt und indirekt gesteigert. Der direkte Effekt betrifft vor allem die Handelsströme mit den betroffenen Ländern, könnte aber auch positive Auswirkungen auf die deutschen Exporte haben, wenn etwa die US-Importe aus China und die chinesischen Importe aus den USA aufgrund der eingeführten Handelsbarrieren durch deutsche Produkte ersetzt werden. Umlenkungseffekte zeigen sich bereits anhand der Handelsstatistik (vgl. Abbildung 1).3

Abbildung 1
Handelsumlenkung seit Beginn des Handelskonflikts
Anteil an den gesamten nominalen Warenimporten der USA und Chinas in der ersten Jahreshälfte 2017 bzw. 2019 in %
Handelsumlenkung seit Beginn des Handelskonflikts

Quellen: Internationaler Währungsfonds – Direction of Trade Statistics; Institut der deutschen Wirtschaft.

So war der Anteil Chinas an den US-Importen im ersten Halbjahr 2019 um 2,6 Prozentpunkte geringer als vor zwei Jahren, der Anteil der EU ist hingegen im selben Zeitraum um 2,0 Prozentpunkte gestiegen. Eine ähnliche Entwicklung wird in China beobachtet: Dort war der US-Anteil an den Importen des Landes im ersten Halbjahr 2019 um etwa 2,8 Prozentpunkte niedriger als noch vor zwei Jahren. Die EU konnte ihren Anteil hingegen um 0,9 Prozentpunkte steigern. Für Deutschland zeigen sich allerdings kaum Zugewinne, was den Importanteil in den USA und China angeht. Aufgrund der relativ geringen Preiselastizität der Nachfrage nach deutschen Exportgütern und der relativ hohen Abhängigkeit von der konjunkturellen Entwicklung der Exportzielländer überwiegt der Effekt der gestiegenen wirtschaftspolitischen Unsicherheit, sodass das Exportgeschäft deutscher Unternehmen von dem Handelskonflikt in Mitleidenschaft gezogen wird.

Auswirkungen wirtschaftspolitischer Unsicherheit

Die empirische Evidenz zur Auswirkung der wirtschaftspolitischen Unsicherheit auf die konjunkturelle Entwicklung ist gemischt. Born und Pfeifer analysieren die Rolle der geld- und fiskalpolitischen Unsicherheit für den US-Konjunkturzyklus während der letzten globalen Wirtschaftskrise im Rahmen eines neukeynesianischen Modells.4 Die Ergebnisse weisen auf einen vergleichsweise geringen Effekt der Unsicherheit auf die konjunkturellen Schwankungen der US-Wirtschaft hin. Die Autoren stellen ebenfalls dar, dass die wirtschaftspolitischen Schocks in der Zeit zu gering waren und „not sufficiently amplified“, um einen größeren Effekt auszulösen. Die Analyse von Castelnuovo und Tran liefert mehr Evidenz für die Auswirkung der Unsicherheit auf die Wirtschaftsentwicklung.5 Die Autoren konstruieren einen Unsicherheitsindex auf Basis von Google-Trends-Daten für die USA und Australien, der positiv mit alternativen Unsicherheitsindikatoren korreliert ist. Das vektorautoregressive Schätzmodell zeigt einen statistisch signifikanten Beitrag der Unsicherheit auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in den USA. Für Australien ist der Effekt wesentlich geringer. Tam analysiert die Auswirkungen der wirtschaftspolitischen Unsicherheit auf die globalen Handelsströme im Rahmen eines globalen vektorautoregressiven Handelsmodells.6 Gemäß ihren Ergebnissen weist besonders die Unsicherheit in dem wirtschaftspolitischen Kurs der USA einen signifikanten Effekt auf die globalen Handelsströme auf, wobei der Effekt über indirekte Handelsbeziehungen der USA mit Drittstaaten verläuft.

Abbildung 2
Globale wirtschaftspolitische Unsicherheit und internationaler Handel
Globale wirtschaftspolitische Unsicherheit und internationaler Handel

Anmerkungen: Preis- und saisonbereinigter Welthandel und nominale Warenexporte Deutschlands, jeweils Wachstum der gleitenden Dreimonatsdurchschnitte gegenüber dem Vorjahr in %; globale wirtschaftspolitische Unsicherheit, Index: Durchschnitt 1997 bis 2015 = 100, gleitende Dreimonatsdurchschnitte.

Quellen: S. Baker, N. Bloom, S. J. Davis: Measuring Economic Policy Uncertainty, in: The Quarterly Journal of Economics, 131. Jg. (2016), H. 4, S. 1593-1636; Statistisches Bundesamt; CPB Niederlande; Institut der deutschen Wirtschaft.

Die wirtschaftspolitische Unsicherheit in China hingegen hat einen direkten Effekt auf die Exporte und Importe anderer Länder.

Abbildung 2 vermittelt einen ersten Eindruck der handelspolitischen Implikationen der globalen wirtschaftspolitischen Unsicherheit für die Entwicklung des globalen Handels und des Geschäfts deutscher Exporteure. Mit wenigen Ausnahmen fällt bei der grafischen Analyse auf, dass die meisten Perioden einer schwachen Entwicklung des globalen Handels durch einen rapiden Anstieg der wirtschaftspolitischen Unsicherheit eingeleitet wurden. Dies gilt für den Rückgang des Welthandels im Zuge der New-Economy-Krise in den Jahren 2001 und 2002, für die sinkende Dynamik nach der kurzen Erholung im Jahr 2003, für die Wirtschaftskrise 2009 und auch für die Wachstumsschwäche nach der Zuspitzung der Euroschuldenkrise im Jahr 2012.

Am aktuellen Rand hat die globale wirtschaftspolitische Unsicherheit jedoch neue Dimensionen angenommen. Das Brexit-Referendum und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten haben zu einem präzedenzlosen Anstieg der Unsicherheit geführt. Interessant ist hierbei, dass der Anstieg der Unsicherheit im Jahr 2016 zunächst keinen direkten Rückgang der Wachstumsraten des globalen Handels mit sich brachte. Als der US-Präsident jedoch seine Wahlversprechen in puncto Handelspolitik in die Tat umsetzte und die Wahrscheinlichkeit eines ungeordneten EU-Austritts des Vereinigten Königreichs im Frühjahr 2019 zunahm, wurden neue Rekordwerte der wirtschaftspolitischen Unsicherheit verzeichnet und die Auswirkungen auf die globalen Handelsströme waren und sind noch markant. Aufgrund ihrer weitgehenden Spezialisierung auf Investitionsgüter werden die deutschen Exporte in Mitleidenschaft gezogen und erfahren einen Rückgang der Wachstumsraten, der sich auch bis Ende 2019 fortsetzen dürfte.

Erforderliche Reaktion der deutschen Wirtschaftspolitik

Im Vorfeld einer sinkenden Dynamik des Außenhandels und schwächelnder Industrie sowie einer ansonsten stabilen Binnenwirtschaft, gekennzeichnet durch eine gute Arbeitsmarktlage7 und zuversichtliche Konsumenten8, stellt sich die Frage nach der adäquaten Reaktion der Wirtschaftspolitik in Deutschland. Bereits von mehreren Seiten wurde prominent betont, dass „kein Anlass für konjunkturpolitischen Aktionismus besteht“9. Trotz hoher Risiken und Wachstumsschwäche in den Sommermonaten 2019 ist eine sich verfestigende Rezession mit erheblichen Implikationen für den Arbeitsmarkt zunächst nicht zu erwarten.

Doch ein Eingriff der Wirtschaftspolitik ist unabhängig von der konjunkturellen Lage überfällig und sollte aus wachstumspolitischen Gründen erfolgen. Zum einen ist es unverzichtbar, im Vorfeld der hohen globalen wirtschaftspolitischen Unsicherheit für Verlässlichkeit und Zukunftsorientierung der Wirtschaftspolitik zu sorgen. Zum anderen sollten das aktuell nach wie vor niedrige Zinsniveau und der vorhandene finanzpolitische Spielraum genutzt werden, um den Investitionsstau im öffentlichen Sektor zu lösen.10 Gemessen am BIP gehört Deutschland bei öffentlichen Investitionen zu den Schlusslichtern unter den OECD-Staaten. Mit 80 Mrd. Euro investierte der öffentliche Sektor in Deutschland im Jahr 2018 in etwa so viel wie Frankreich, das deutsche BIP ist jedoch um über 42 % höher als das französische.11 Der Bedarf an öffentlichen Investitionen etwa in Bereichen wie Verkehrsinfrastruktur, Bildung oder Dekarbonisierung wird mittlerweile auf rund 450 Mrd. Euro für die nächsten zehn Jahre beziffert.12 Die Umsetzung eines Investitionsfonds von dieser Größenordnung wird nicht nur die Wachstumskräfte der deutschen Wirtschaft auf Dauer stärken.

Auch die konjunkturelle Entwicklung dürfte in einem erheblichen Maß davon profitieren, wie Simulationsrechnungen zeigen.13 Das preisbereinigte BIP in Deutschland dürfte, verglichen mit einem Szenario ohne zusätzliche Investitionen des Staates, in den nächsten Jahren um 0,8 bis 1,1 Prozentpunkte höher liegen. Die privaten Investitionen erfahren laut Simulationsergebnissen einen Anstieg von über 2 % in den ersten zwei Jahren der Umsetzung. Das Produktionspotenzial erhöht sich sowohl durch die staatliche Investitionstätigkeit als auch durch den Beitrag der Privatwirtschaft und liegt nach zehn Jahren um 1,4 % über der Basisprognose. Die Umsetzung des Investitionsfonds erfolgt hierbei aufgrund der niedrigen Verzinsung der Kreditaufnahme mit einer vergleichsweise geringen Belastung für die Staatsfinanzen. Nach zehn Jahren liegt die Staatsverschuldung gemessen am BIP gemäß den Maastricht-Kriterien um 5,1 Prozentpunkte höher als in der Basisprojektion und trotzdem weit unter dem Referenzwert in Höhe von 60 % des nominalen BIP. Das Budgetdefizit nach Maastricht-Definition bleibt im gesamten Zeitraum unter 1 % des BIP.

Konjunkturpolitische Antworten sind bei der aktuellen Wirtschaftslage somit aktuell nicht notwendig. Die langfristigen Wachstumskräfte der deutschen Wirtschaft und die Attraktivität des Standorts muss der Staat jedoch stärken, indem er überfällige Investitionen in Bildung, Infrastruktur, Digitalisierung und Dekarbonisierung in die Wege leitet und steuerliche Anreize schafft, in Zukunftstechnologien zu investieren. Unerlässlich ist es hierbei, für eine Verlässlichkeit des wirtschaftspolitischen Kurses zu sorgen, um der globalen wirtschaftspolitischen Unsicherheit entgegenzuwirken.

  • 1 Vgl. IW-Forschungsgruppe Gesamtwirtschaftliche Analysen und Konjunktur: Verunsicherung schwächt die Konjunktur. IW-Konjunkturprognose und Konjunkturumfrage Frühjahr 2019, in: IW-Trends, 46. Jg. (2019), H. 2, Online-Sonderausgabe, Nr. 1.2019, S. 3-32.
  • 2 Vgl. J. Matthes, B. Busch, G. Kolev: Auswirkungen des Brexits auf das UK und auf Deutschland, in: List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, 43. Jg. (2017), Nr. 1, S. 13-36.
  • 3 Vgl. etwa S. Beer: Handelskrieg: Die ersten Folgen, IW-Kurzbericht, Nr. 73, Köln 2019.
  • 4 Vgl. B. Born, J. Pfeifer: Policy risk and the business cycle, in: Journal of Monetary Economics, 68. Jg. (2014), S. 68-85.
  • 5 Vgl. E. Castelnuovo, T. D. Tran: Google It Up! A Google Trends-based Uncertainty index for the United States and Australia, in: Economics Letters, 161. Jg. (2017), H. C, S. 149-153.
  • 6 Vgl. P. S. Tam: Global trade flows and economic policy uncertainty, in: Applied Economics, 50. Jg. (2018), S. 3718-3734.
  • 7 Vgl. Forschungsgruppe Gesamtwirtschaftliche Analysen und Konjunktur: Deutsche Wirtschaft tritt auf der Stelle – Wachstumsschwäche auf Dauer?, IW-Kurzbericht, Nr. 68, Köln 2019.
  • 8 Vgl. H. Bardt, M. Grömling, I. Maselli, B. van Ark: Konsumenten sind zuversichtlich, IW-Kurzbericht, Nr. 72, Köln 2019.
  • 9 Vgl. Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2019: Industrie in der Rezession – Wachstumskräfte schwinden, 2019, http://gemeinschaftsdiagnose.de/2019/10/02/industrie-in-der-rezession-wachstumskraefte-schwinden/ (23.10.2019).
  • 10 Vgl. M. Hüther: Alles hat seine Zeit, auch die Kreditaufnahme, in: Wirtschaftsdienst, 99. Jg. (2019), H. 5, S. 317-321, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2019/5/schuldenbremse-investitionshemmnis-oder-vorbild-fuer-europa/#res2 (11.11.2019).
  • 11 Vgl. M. Hüther, G. Kolev: Investitionsfonds für Deutschland. Gesamtwirtschaftliche Effekte, IW-Policy Paper, Nr. 10, Köln 2019, S. 4.
  • 12 Vgl. H. Bardt, S. Dullien, M. Hüther, K. Rietzler: Für eine solide Finanzpolitik: Investitionen ermöglichen!, IW-Policy Paper, Köln 2019, erscheint demnächst.
  • 13 Vgl. M. Hüther, G. Kolev: Investitionsfonds für Deutschland. Gesamtwirtschaftliche Effekte, IW-Policy Paper, Nr. 10, Köln 2019, S. 8 ff.

Konjunkturdämpfer und Strukturwandel: Rutscht der Arbeitsmarkt wieder in eine Krise?

Zuletzt haben wir uns daran gewöhnen dürfen, dass es vom Arbeitsmarkt nur noch gute Nachrichten gibt. Ein Positivrekord jagte den anderen. Nun trübt sich die Wirtschaft spürbar ein und wirtschaftliche Transformationsprozesse mit weitreichenden Konsequenzen stehen vor der Tür. Vom Arbeitsmarkt kamen in den letzten Monaten erste Warnsignale. Es läuft nicht mehr ganz so rund. Die Arbeitslosigkeit steigt wieder, die Beschäftigung wächst schwächer. Stehen wir nach einem jahrelangen Aufschwung am Arbeitsmarkt vor einer Trendwende in den Krisenmodus?

Arbeitsmarkt mit beachtlichen Erfolgen, aber auch mit Problemen

Der Arbeitsmarkt entwickelte sich seit 2005 außerordentlich positiv. Der nüchterne Blick auf die Zahlen in der Tabelle 1 macht dies deutlich. Die jahresdurchschnittliche Arbeitslosigkeit ging in absoluten Zahlen von knapp 4,9 Mio. (2005) auf gut 2,3 Mio. (2018) zurück und hat sich damit in dem Zeitraum mehr als halbiert.1 Die Erwerbstätigkeit erreichte 2018 Jahr mit 44,9 Mio. den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung und lag damit um fast 5,9 Mio. höher als 2005. Stärkster Treiber des Erwerbstätigenanstiegs war die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, die von 2005 bis 2018 mit gut 6,7 Mio. noch stärker zulegen konnte als die Erwerbstätigkeit insgesamt. Auch die Zahl der Arbeitsstunden stieg in dem Zeitraum von 55,8 Mrd. Stunden auf 62,3 Mrd. Stunden mit jahresdurchschnittlich 0,9 % zwar weniger stark als die Erwerbstätigkeit (1,2 %) insgesamt, aber dennoch kräftig.

Für den beeindruckenden Beschäftigungszuwachs seit 2005 gibt es keine monokausale Erklärung. Das Wirtschaftswachstum kann nicht als Hauptursache für den Positivtrend gesehen werden, weil es mit einem jahresdurchschnittlichen Wert von 1,7 % nicht deutlich höher ausfiel als in früheren Perioden. Auch das gesamtwirtschaftliche Arbeitskräfteangebot ist seit Mitte der letzten Dekade nicht gesunken, sondern durch höhere Erwerbsbeteiligung und Migration weiter gestiegen. Von daher sind die umfassenden Arbeitsmarkt- und Sozialreformen (wie z. B. die Agenda 2010 oder die Rente mit 67) ein Erklärungsansatz dafür, dass der Arbeitsmarkt deutlich aufnahmefähiger geworden ist. Indizien hierfür liefern die seitdem rückläufige strukturelle Arbeitslosigkeit, eine verbessere Matching-Effizienz, eine höhere Suchintensität von Arbeitslosen und der längere Verbleib von Älteren am Arbeitsmarkt.2 Dabei ist unübersehbar, dass neben den Reformen auch die insgesamt moderate Lohnentwicklung in den letzten eineinhalb Dekaden zur verbesserten Beschäftigungsentwicklung beitrug.3 Beide Faktoren, die Arbeitsmarktreformen und die Lohnzurückhaltung, stehen aber auch in einem Zusammenhang. Denn die Arbeitsmarktreformen haben die Zugeständnisse von Arbeitslosen in Bezug auf die Löhne erhöht und die Nutzung solcher Beschäftigungsformen erleichtert, die wie Mini-Jobs oder Zeitarbeit mit einer relativ geringen Stundenentlohnung einhergehen.

Im Rückblick auf die letzten eineinhalb Dekaden ist bemerkenswert, dass selbst die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 mit einem bisher nie dagewesenen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von 6 % der Aufwärtsentwicklung am Arbeitsmarkt so gut wie nichts anhaben konnte. Der aufnahmefähigere Arbeitsmarkt ist zweifellos ein beachtlicher Erfolg, dennoch sind Beschäftigungsprobleme zu konstatieren. Betriebe berichteten in der jüngeren Vergangenheit immer häufiger von Schwierigkeiten der Stellenbesetzung, und die Vakanzzeiten haben sich verlängert.4 Die Beschäftigung tendiert zu Ungleichheiten etwa in Form von Lohndisparitäten oder auch in Form von interpersonellen Unterschieden in der Stabilität der Jobs.5 Die Aufwärtsmobilität von weniger attraktiven Jobs zu hochwertiger Beschäftigung gelingt aufgrund von Bildungs- und Ausbildungsbarrieren nur unzureichend.6 Schließlich kennzeichnen Personen mit schwerwiegenden Integrationshemmnissen („harter Kern“) die Arbeitslosigkeit immer stärker.7

Somit lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass der Arbeitsmarkt insgesamt zwar gut aufgestellt ist und sich in der jüngeren Vergangenheit als außerordentlich robust erwiesen hat. Unabhängig davon sind aber Verbesserungen in Richtung einer höheren Beschäftigungsqualität sowie besserer Zugangs- und Aufstiegsmöglichkeiten für weniger wettbewerbsfähige Personengruppen am Arbeitsmarkt angezeigt.

Volkswirtschaft mit konjunkturellen und strukturellen Herausforderungen

Schaut man auf die wirtschaftliche Entwicklung in der jüngeren Vergangenheit, wird deutlich, dass das Bruttoinlandsprodukt schon Mitte 2018 anfing zu schwächeln. Nach einem noch relativ guten Start der Wirtschaftsleistung im 1. Quartal 2019 (+0,4 %) schrumpfte die Volkswirtschaft im 2. Quartal 2019 um 0,1 %. Vieles spricht am aktuellen Rand für eine zumindest „technische Rezession“, weil auch im 3. und 4. Quartal dieses Jahres negative Wachstumsraten möglich sind. Die Eintrübung der hiesigen, von Exporten stark abhängigen Wirtschaft steht im Kontext einer Schwächephase der Weltwirtschaft. Sie wird durch Unsicherheiten verstärkt, die aus den Handelskonflikten, insbesondere zwischen China und den USA, resultieren. Dazu kommt der nun schon jahrelang angekündigte Brexit, bei dem weiterhin ein ungeregelter Ausstieg der Briten aus der Europäischen Union im Bereich des Möglichen ist. Die wirtschaftliche Entwicklung in Europa kann dadurch Schaden nehmen, denn beträchtliche Unsicherheiten über die künftigen Handelsbeziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und Europa wären die Folge. Im Ergebnis dämpft die schwächer gewordene Weltwirtschaft zuallererst die deutschen Exporte. Die Investitionen legten zwar im 1. Halbjahr 2019 wegen der guten Baukonjunktur und noch steigender Ausrüstungsinvestitionen zu, sie dürften sich aber wegen der geringeren Kapazitätsauslastung und der schwächeren Konjunktur bestenfalls verhalten entwickeln.8 Dagegen trägt der Konsum – wie schon zuletzt – die Binnenwirtschaft und ist damit aktuell die wichtigste Stütze der Konjunktur. Er stützt sich auf den insgesamt gut laufenden Arbeitsmarkt.

Die aktuelle Schwächephase der Wirtschaftskonjunktur wird von strukturellen Herausforderungen überlagert. Durch die demografische Entwicklung werden zukünftig weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen.9 Das Zusammenspiel der Megatrends Digitalisierung, Klimaschutz und Globalisierung wird nach aller Voraussicht die Transformation der Wirtschaft spürbar verstärken. Die strukturellen Probleme der Automobilindustrie, die in erster Linie aus der Umstellung von herkömmlichen Verbrennungsmotoren zu alternativen Antriebstechnologien resultieren, tragen zur aktuellen Konjunkturflaute bei.

Zu resümieren ist hier, dass die Produkte der hiesigen Volkswirtschaft dem Grunde nach wettbewerbsfähig sind. Die aktuelle Eintrübung der Konjunktur ist in erster Linie außenwirtschaftlich begründet und damit vornehmlich auf exogene Faktoren zurückzuführen. In der längeren Frist steht jedoch eine beträchtliche wirtschaftliche Transformation vor der Tür. Sie betrifft die Bewältigung des demografischen Wandels einerseits und des wirtschaftlichen Strukturwandels andererseits.

Arbeitsmarktprognosen verweisen auf kurzfristige Risiken und längerfristige Handlungsfelder

Die aktuellen Prognosen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) legen ähnlich wie die anderer Institute nahe, dass sich das Wirtschaftswachstum 2019 deutlich abschwächen (+0,4 %) und wohl auch mit +1,1 % 2020 unterhalb des Durchschnitts der letzten eineinhalb Dekaden liegen dürfte.10 Der prognostizierte Konjunkturabschwung beeinträchtigt die positive Entwicklung am Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit dürfte zwischen 2019 und 2020 bestenfalls stagnieren. Die prognostizierte ungünstigere Arbeitsmarktentwicklung ist aber von einem kräftigen Beschäftigungseinbruch oder gar einer Krise weit entfernt. Erwerbstätigkeit (2020: +0,3 %), sozialversicherungspflichtige Beschäftigung (2020: +0,7 %) und Arbeitsvolumen (2020: +0,7 %) legen laut IAB-Prognose weiter zu, wenn auch schwächer als im längerfristigen Durchschnitt (vgl. Tabelle 1).

Die Schwächephase am Arbeitsmarkt trifft nach den bisherigen Erkenntnissen in erster Linie konjunkturabhängige Bereiche wie das Verarbeitende Gewerbe und die Zeitarbeit. Die Nachfrage nach Personal bleibt aber – gemessen an den Vakanzen – noch immer auf einem relativ hohen Niveau. Dieser überraschend anmutende Befund lässt sich dadurch erklären, dass die Beschäftigung insbesondere seit der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise robuster auf zyklische Veränderungen reagiert als zuvor. Analysen zeigen, dass der Beschäftigungseffekt einer Änderung des Bruttoinlandsprodukts bis zum Ende des letzten Jahrzehnts dreimal so stark ausfiel wie dies heute der Fall ist.11 Begünstigt wird der robuste Arbeitsmarkt durch ein anhaltend starkes Wachstum konjunkturunabhängiger Sektoren im Dienstleistungsbereich, etwa in der Pflege und der Erziehung, wie auch der Positivdynamik im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien. Zudem erwies sich in den letzten Jahren auch die hohe Zuwanderung als starker Treiber des Beschäftigungswachstums. Schließlich ist zu beobachten, dass Betriebe sich Beschäftigte in nennenswertem Umfang auch unabhängig von der konjunkturellen Lage sichern, um möglichen Engpässen vorzubeugen. Hinweise hierfür liefert das anhaltend niedrige Entlassungsrisiko. Der Arbeitsmarkt dürfte deshalb in der Lage sein, die aktuelle Konjunkturschwäche zu absorbieren.

Die Ergebnisse längerfristiger, stärker den Strukturwandel berücksichtigender Prognosen verweisen auf zweierlei: zum einen auf kräftige Umschichtungen der Arbeitskräftenachfrage und zum anderen auf einen Rückgang und eine Alterung des Arbeitskräfteangebots.12 Die Konsequenzen beider Entwicklungen sind nicht zu unterschätzen und wiegen schwer. Megatrends wie Globalisierung, Digitalisierung sowie Energiewende und Klimaschutz verändern die sektorale Komposition der Beschäftigung, die Berufslandschaft und die Tätigkeitsanforderungen. Es ist wahrscheinlich, dass Dienstleistungsbereiche und -berufe weiter an Bedeutung gewinnen und die Qualifikationsanforderungen generell steigen. Zusätzlich gefragt sein dürften digitale und nicht-digitalisierbare Kompetenzen sowie eine stärkere Umweltorientierung in allen Tätigkeitsfeldern. Ein hohes Risiko für die zukünftige Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt stellt der zu erwartende Rückgang des Arbeitskräfteangebots dar. Schon in der IAB-Prognose für 2020 wird deutlich, dass die sich abzeichnende Stagnation des Erwerbspersonenpotenzials mit einem Plus von nur noch 40 000 ansonsten mögliche Beschäftigungszuwächse begrenzt (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1
Wirtschafts- und Arbeitsmarktindikatoren 2005 bis 2020
  Tatsächliche Entwicklung   Prognose
2005 2018 Jahresdurch-
schnittliche Wachstumsrate 2005 bis 2018
in %
  2019 Veränderung gegenüber Vorjahr
in %
2020 Veränderung gegenüber Vorjahr
in %
Bruttoinlands­produkt, preisbereinigt k. A. k. A. 1,7   k. A. 0,4 k. A. 1,1
Arbeits­volumen in Mio. Stunden 55 775 62 344 0,9   62 635 0,5 63 053 0,7
Erwerbs­tätigkeit in 1000 Personen 38 976 44 854 1,2   45 236 0,9 45 352 0,3
Sozialversicherungs­pflichtige Beschäftigung in 1000 Personen 26 236 32 964 2,0   33 470 1,5 33 721 0,7
Arbeitslosigkeit in 1000 Personen 4 861 2 340 -4,0   2 274 -0,3 2 276 0

Quellen: J. Fuchs, M. Hummel, C. Hutter, S. Klinger, S. Wanger, E. Weber, R. Weigand, G. Zika: Arbeitsmarkt 2014: Zwischen Bestmarken und Herausforderungen, IAB-Kurzbericht, Nr. 4/2014, Nürnberg 2014; A. Bauer, J. Fuchs, M. Hummel, C. Hutter, S. Klinger, S. Wanger, E. Weber, G. Zika: IAB-Prognose 2019/2020: Konjunktureller Gegenwind für den Arbeitsmarkt, IAB-Kurzbericht, Nr. 18/2019, Nürnberg 2019; eigene Darstellung.

Mit der immer stärker werdenden demografischen Komponente, also dem wachsenden Defizit aus den aus dem Arbeitsmarkt austretenden und eintretenden Kohorten, wird die geringere Zahl verfügbarer Arbeitskräfte zunehmend zur Bremse für den Arbeitsmarkt und das Wirtschaftswachstum. Von daher ist es unwahrscheinlich, dass sich der zuletzt positive Beschäftigungstrend noch über viele Jahre fortsetzt.

Die Bestandsaufnahme aus den vorliegenden Prognosen lautet, dass die konjunkturellen Risiken aus heutiger Sicht nicht als Krise zu sehen und damit als beherrschbar einzustufen sind. Schwerwiegender sind die Konsequenzen der Megatrends, weil sie mit beträchtlichen Passungsproblemen und drohenden Personalengpässen einhergehen können.

Wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Handlungsfelder

Die große Herausforderung am aktuellen Rand besteht darin, konjunkturelle und strukturelle Faktoren gleichzeitig zu adressieren. Die Folgen der konjunkturellen Flaute auf den Arbeitsmarkt dürften aus heutiger Sicht überschaubar sein, weil sich der Arbeitsmarkt immer weiter von der wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt hat. Nach dem bisherigen Stand der Erkenntnisse erleben wir gerade einen „normalen“ Konjunkturabschwung. Doch selbst wenn der Abschwung noch etwas länger andauern oder etwas stärker ausfallen sollte als dies heute zu erwarten ist, sind – wie die Krisenbewältigung 2008/2009 gezeigt hat – bewährte Puffer vorhanden. So kann nicht nur der Einsatz der Kurzarbeit, z. B. durch eine längere Bezugsdauer des Kurzarbeitergelds oder eine Verringerung der „Remanenzkosten“, wieder erleichtert werden, darüber hinaus kann auf tariflicher Ebene oder auch betriebsintern auf Arbeitszeitkonten und andere bewährte Beschäftigungssicherungsmaßnahmen, wie z. B. Lohnzurückhaltung oder Arbeitszeitverkürzung, zurückgegriffen werden.

Auch die Fiskalpolitik kann noch stärker zur Stabilisierung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt herangezogen werden. Ein wichtiger Punkt ist dabei zunächst, die durch den konjunkturellen Abschwung bedingten Mindereinnahmen und Mehrausgaben zu tolerieren und dies selbst dann, wenn sich daraus fiskalische Defizite für den Staatshaushalt ergeben sollten. Denn dahinter stehen die erwünschten Wirkungen der „automatischen Stabilisatoren“, die in wirtschaftlich schwierigen Zeiten die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stützen sollen. In besseren Zeiten lassen sich diese Defizite dann in der Regel wieder leicht ausgleichen.

Aber solange die Weltwirtschaft nicht in eine lange und schwere Rezession fällt, stehen die strukturellen Handlungsfelder im Vordergrund. Digitalisierung und ökologische Wende erfordern beträchtliche Investitionen von Staat und Wirtschaft. Sie reichen von Aufwendungen für eine moderne digitale Infrastruktur, über eine kohlenstoffarme Produktion bis hin zu weitreichenden Verbesserungen des Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungssystems. Bei der Finanzierung der notwendigen staatlichen Investitionen geht es um einen gestuften Dreiklang. Zusätzliche Ausgaben sollten zunächst durch Umschichtungen im Haushalt realisiert werden, indem die Investitionen in die digitale und ökologische Infrastruktur massiv verstärkt, konsumtive Ausgaben soweit wie möglich an der Bedürftigkeit der Menschen ausgerichtet und Subventionen einer strikten, vor allem an einer Kompatibilität mit Umweltzielen orientierten Überprüfung unterzogen werden. Dies wird aber wohl nicht reichen. Für die Finanzierung der hohen Ausgaben sollten zudem moderate Erhöhungen der Steuern und Abgaben kein Tabu sein, auch und gerade um eine ansonsten erforderliche Verschuldung zu begrenzen. Wichtig ist bei der Ausgestaltung jedoch die Lenkungswirkung von Steuern und Abgaben. Es geht um nicht weniger als gleichzeitig den Faktor Arbeit nicht stärker zu belasten, Gewinner und Verlierer des Strukturwandels bei den Verteilungswirkungen angemessen zu berücksichtigen und die natürlichen Lebensgrundlagen soweit wie möglich zu schützen. Wenn die ersten beiden Finanzierungsoptionen ausgeschöpft sind, muss es angesichts des beträchtlichen Investitionsbedarfs zudem möglich sein, wichtige Zukunftsaufgaben des Staates durch Verschuldung zu finanzieren. Bei der Realisierung schuldenfinanzierter Maßnahmen sollte man aber belegen können, dass eine Verschiebung der damit in Verbindung stehenden Ausgaben mit noch höheren Folgekosten in der Zukunft einherginge.

Am Arbeitsmarkt wird es in erster Linie darum gehen, die in der Folge der wirtschaftlichen Transformation absehbare inner- und überbetriebliche Reallokation von Arbeit zu unterstützen und die Beschäftigungsfähigkeit der Erwerbs­personen nachhaltig zu verbessern. Für die Reallokation von Arbeit ist Weiterbildung als Mittel der Wahl anzusehen. Sie umfasst sowohl ein „Update“ vorhandener Qualifikationen durch geeignete Module als auch Neuqualifizierungen, die aber – wenn sie Wirkungen erzielen sollen – mit anerkannten Abschlüssen verbunden sein sollten.13 Mit dem Qualifizierungschancengesetz (QCG) steht seit kurzem ein Instrument zur Verfügung, das potenziell allen Beschäftigten zugutekommt und damit zur Begleitung des Strukturwandels eingesetzt werden kann. Die aktuell aus konjunkturellen und strukturellen Gründen wachsende Kurzarbeit sollte soweit wie möglich für die verschiedenen Formen der Weiterbildung genutzt werden. Wichtig ist aber beim Einsatz von kombinierten Maßnahmen, dass die Beschäftigungsverhältnisse bei strukturellen Anpassungen erhalten bleiben und zeitlich passende Weiterbildungsmodule für das in Teilen volatile Kurzarbeitsgeschehen überhaupt vorhanden sind. Generell legen Forschungsbefunde nahe, auf betriebsnahe Formen der Weiterbildung zu setzen, weil sie in der Regel schulischen Angeboten deutlich überlegen sind.14 Der laufende Strukturwandel der Wirtschaft macht einmal mehr deutlich, welche große Rolle einer präventiven Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik zukommt. Die Vermeidung von Bildungsarmut, eine professionelle Berufsorientierung, die konsequente Rückführung des Anteils der Ungelernten und verbesserte Möglichkeiten der Aufwärtsmobilität von Beschäftigten sind hier die wichtigsten Ansatzpunkte.

Zusammenfassend lässt sich damit sagen, dass die momentane Konjunkturschwäche – zumindest bis dato – keine Krise am Arbeitsmarkt erkennen lässt. Konjunkturpolitisch geht es aktuell in erster Linie um Augenmaß und nicht um falschen Aktionismus. Strukturpolitisch ist dagegen ein konsequentes und nachhaltiges Handeln angezeigt. Dabei geht es eher um ein Klotzen als um ein Kleckern. Die vor uns stehenden Aufgaben sind sehr groß und hätten, wenn sie nicht systematisch angegangen werden, tatsächlich das Potenzial für eine drohende Krise der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes.

  • 1 A. Bauer, J. Fuchs, M. Hummel, C. Hutter, S. Klinger, S. Wanger, E. Weber, G. Zika: IAB-Prognose 2019/2020: Konjunktureller Gegenwind für den Arbeitsmarkt, IAB-Kurzbericht, Nr. 18/2019.
  • 2 S. Klinger, T. Rothe: Der Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland: Ein Erfolg der Hartz-Reformen oder konjunktureller Effekt?, in: Schmollers Jahrbuch, 132. Jg. (2012), H. 1, S. 89-121; B. Hochmuth, B. Kohlbrecher, C. Merkl, H. Gartner: Hartz IV and the Decline of German Unemployment: A Macroeconomic Evaluation, IAB-Discussion Paper, Nr. 3/2019.
  • 3 C. Dustmann, B. Fitzenberger, U. Schönberg, A. Spitz-Oener: From Sick Man of Europe to Economic Superstar: Germany‘s Resurgent Economy, in: The Journal of Economic Perspectives, 28. Jg. (2014), H. 1, S. 167-188.
  • 4 M. Bossler, N. Gürtzgen, A. Kubis, A. Moczall: IAB-Stellenerhebung von 1992 bis 2017: So wenige Arbeitslose pro offene Stelle wie nie in den vergangenen 25 Jahren, IAB-Kurzbericht, Nr. 23/2018.
  • 5 U. Walwei: Agenda 2010 und Arbeitsmarkt: Eine Bilanz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 67. Jg. (2017), H. 26, S. 25-33.
  • 6 U. Walwei: Aufwärtsmobilität am Arbeitsmarkt: Wenn nicht jetzt, wann dann?, in: IAB-Forum, 17.8.2017.
  • 7 U. Walwei: Aktuelle Entwicklungen am Arbeitsmarkt im Bereich des SGB II: Verändern sich die Integrationsaufgaben?, in: ZFSH/SGB, Zeitschrift für die sozialrechtliche Praxis, 58. Jg. (2019), H. 8, S. 434-441.
  • 8 A. Bauer, J. Fuchs, M. Hummel, C. Hutter, S. Klinger, S. Wanger, E. Weber, G. Zika, a. a. O.
  • 9 J. Fuchs, D. Söhnlein, B. Weber: Projektion des Erwerbspersonenpotenzials bis 2060: Arbeitskräfteangebot sinkt auch bei hoher Zuwanderung, IAB-Kurzbericht, Nr. 6/2017.
  • 10 A. Bauer, J. Fuchs, M. Hummel, C. Hutter, S. Klinger, S. Wanger, E. Weber, G. Zika, a. a. O.; T. Wollmershäuser: ifo Konjunkturprognose Herbst 2019: Deutscher Wirtschaft droht Rezession, in: ifo Schnelldienst, 72. Jg. (2019), H. 17, S. 63-72.
  • 11 S. Klinger, E. Weber: GDP-Employment decoupling and the slow-down of productivity growth in Germany, IAB-Discussion Paper, Nr. 12/2019.
  • 12 M. I. Wolter, A. Mönnig, C. Schneemann, E. Weber, G. Zika, R. Helmrich, T. Maier, S. Winnige: Wirtschaft 4.0 und die Folgen für Arbeitsmarkt und Ökonomie: Szenario-Rechnungen im Rahmen der fünften Welle der BIBB-IAB-Qualifikations- und Berufsprojektionen, Bundesinstitut für Berufsbildung, Wissenschaftliche Diskussionspapiere, Nr. 200, Bonn 2019; J. Fuchs, D. Söhnlein, B. Weber, a. a. O.
  • 13 S. Bernhard: Berufliche Weiterbildung von Arbeitslosengeld-II-Empfängern. Langfristige Wirkungsanalysen, in: Sozialer Fortschritt, 65. Jg. (2016), H. 7, S. 153-161.
  • 14 T. Büttner, T. Schewe, G. Stephan: Wirkung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen im SGB III: Maßnahmen auf dem Prüfstand, IAB-Kurzberich, Nr. 8/2015.

Title:Economic Policy in Crisis

Abstract:Gross domestic product is expected to grow by only half a percent in 2019. Industry in particular is suffering due to the uncertainties related to the global trade conflicts and Brexit. There are doubts as to whether this will lead to a serious downturn. Conversely, a growth-oriented policy that addresses the upcoming climate, energy and transport challenges is feasible. Increasing public and private investment is indispensable for this. There are differing views, however, on the extent to which this should be linked to deficits in the national budget.


DOI: 10.1007/s10273-019-2526-5