Die Gewährleistung gleichwertiger Lebensverhältnisse in den Teilräumen der Bundesrepublik Deutschland ist neben einer nachhaltigen Raumentwicklung die zentrale Leitvorstellung der Raumordnung. Durch die im September 2018 von der Bundesregierung eingesetzte Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ ist das Thema wieder aktuell. Zu diskutieren ist, welche Rolle der Raumordnung mit ihrem Instrumentarium zukommt und welchen Beitrag die Regionalpolitik leisten kann.
Gleichwertige Lebensverhältnisse gehören zum Standardvokabular sowohl von Raumordnung als auch von Regionalpolitik. Sie sind für eine individuelle Chancengerechtigkeit zwingend notwendig, unabhängig vom Wohnort. Die Leitvorstellung wird in ihrem Kern fast durchweg anerkannt. Und doch bleibt sie vage, lässt klare Hinweise zu Operationalisierung (Monitoring) und Wirkungskontrolle von Maßnahmen (Evaluation) vermissen. Raumordnung und Regionalpolitik scheinen darunter zu leiden. Vor diesem Hintergrund werden auf Grundlage des aktuellen politischen Diskurses und eigenen empirischen Befunden die folgenden drei Thesen diskutiert:
- Raumordnung und Regionalpolitik können nur gemeinsam durch die Verzahnung ordnungs- und entwicklungspolitischer Instrumente und Maßnahmen einen entscheidenden Beitrag leisten.
- Gleichwertige Lebensverhältnisse kann es nur geben, wenn unterschiedliche Lebensverhältnisse den gleichen Wert haben können.
- Es bedarf einer grundsätzlichen Abkehr von der Input-Orientierung hin zu einer Outcome-Orientierung.
Raumordnung und Regionalpolitik: Gemeinsam für gleichwertige Lebensverhältnisse
These 1: Raumordnung und Regionalpolitik können nur gemeinsam durch die Verzahnung ordnungs- und entwicklungspolitischer Instrumente und Maßnahmen einen entscheiden Beitrag leisten. Gleichwertige Lebensverhältnisse sind durch ihre Verankerung im Grundgesetz (GG) zugleich Staatsziel. Gemäß Art. 72 Abs. 2 GG wird dem Bund auf einzelnen Gebieten der konkurrierenden Gesetzgebung das Gesetzgebungsrecht zuteil, „wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet […] eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht“. Der Gesetzgeber lässt hingegen offen, wann diese Erforderlichkeit vorliegt. Insofern kann auch nur von einer vagen – im Grundgesetz nicht hinreichend bestimmten – „roten Linie“ gesprochen werden, bei deren Überschreitung der Bund eingreifen sollte.1 Die aktuelle Diskussion im Rahmen der aus Bund, Ländern und Kommunen gebildeten gemeinsamen Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ lässt aber zumindest darauf schließen, dass die Gewährleistung nicht mehr vollständig gesichert ist oder dies zumindest droht.
Bereits im Koalitionsvertrag der 19. Legislaturperiode haben sich CDU, CSU und SPD „gleichwertige Lebensverhältnisse im urbanen und ländlichen Raum in ganz Deutschland“2 als Ziel gesetzt. Dazu sollen im Zeitraum von 2018 bis 2021 neben der Fortsetzung bestehender Programme der Länder und Kommunen (insgesamt 8 Mrd. Euro) auch weitere Impulse für sogenannte ländliche Räume und die regionale Strukturpolitik (jeweils 1,5 Mrd. Euro) gesetzt werden.3 Der Verweis auf gleichwertige Lebensverhältnisse taucht an vielen Stellen im Koalitionsvertrag auf. Die regionale Strukturpolitik wird nur an dieser Stelle explizit erwähnt. Allerdings besteht hier ein direkter Zusammenhang zu gleichwertigen Lebensverhältnissen, da die genannten Ausgabenpositionen dem Abschnitt gleichwertige Lebensverhältnisse zugeordnet sind. Die Raumordnung hingegen hat zwar ein eigenes Unterkapitel (XI.2), in dem auf die Anpassung der Raumordnungspläne für die Außenwirtschaftszonen bis 2021 hingewiesen wird.4 Im Zusammenhang mit gleichwertigen Lebensverhältnissen ist aber entscheidend, dass diese mit einer „Dezentralisierungsstrategie sowie eine[r] Flexibilisierung im Bau-, Planungs- und Raumordnungsrecht“5 einhergeht. Ein eigener Beitrag der Raumordnung wird im Koalitionsvertrag insofern nicht gesehen. Vielmehr wird dem Raumordnungsrecht die Rolle eines „Verhinderers“ zugeschrieben, demgegenüber die Regionalpolitik über ein „neues gesamtdeutsches Fördersystem für strukturschwache Regionen, Städte, Gemeinden und Kreise“ einen unmittelbaren Beitrag „gegen wachsende Ungleichheit zwischen Städten und Regionen und [... zur] Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland“6 leisten kann. Die Regionalpolitik soll also – im Gegensatz zur Raumordnung – primär ermöglichend wirken und gleichwertige Lebensverhältnisse aktiv fördern.
Die bereits im Koalitionsvertrag vereinbarte Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ hat im September 2018 ihre Arbeit aufgenommen. Ihr Vorsitzender Horst Seehofer sieht darin nicht weniger als „das Herzstück einer neuen Heimatpolitik“7. Sie werde „nach Wegen suchen, sowohl die Infrastruktur als auch das Wohlbefinden der Menschen vor Ort zu verbessern“. Die Co-Vorsitzende Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner rückt hingegen die „ländlichen Regionen“ in den Vordergrund, diese bräuchten „Perspektiven und Wertschöpfung vor Ort“, auch, um „den Druck auf die Ballungsräume“ zu mindern. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, ebenfalls Co-Vorsitzende, akzeptiert die Vielfalt in Deutschland, „wenn [aber] aus regionalen Unterschieden schwerwiegende Nachteile werden, müssen wir etwas dagegen tun.“ Insofern gelte es, „Daseinsvorsorge überall im Land – in Ost und West – sicher[zu]stellen“ und zwar als „nationale Zukunftsaufgabe für ein modernes und erfolgreiches Deutschland“. Bis Juli 2019 soll ein Bericht mit konkreten Handlungsempfehlungen vorgelegt werden, der unter anderem durch sechs Facharbeitsgruppen wie „Raumordnung und Statistik“ sowie „Wirtschaft und Innovation“ erarbeitet wird.8 Raumordnung und Regionalpolitik spielen insofern eine bedeutende Rolle, werden aber nicht gemeinsam gedacht. Über die Kombination von Raumordnung und Statistik entsteht der Eindruck, die Raumordnung wirke weniger über ihr ordnungspolitisches Instrumentarium als vielmehr über die gesetzlich vorgeschriebene Raumbeobachtung. Statt einer Integration von Fachpolitiken und integrierender Planung zerlegen die Verantwortlichen zunächst bestehende Potenziale in einzelne Bausteine.
Aufgrund der Länderzuständigkeit der Raumordnung und ihrer dort höheren Bedeutung gibt es zahlreiche Diskussionen, wie gleichwertige Lebensverhältnisse gewährleistet werden können. In ihrem Abschlussbericht hat die Enquete-Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Bayern“ nach drei Jahren Arbeit 2017 zahlreiche Forderungen in Richtung der Landes- und Regionalplanung in Bayern gerichtet. Von besonderer Bedeutung sei die Festlegung Zentraler Orte, wobei es erforderlich sei, „dass die landespolitischen Vorgaben sowie die einzelnen Fachplanungen und die Entscheidungen von Unternehmen wieder stärker auf das Zentrale-Orte-System abgestimmt werden.“9 Damit dies auch erfolgt, bedürfe es „einer regelmäßigen und transparenten Überarbeitung der Kriterien, anhand derer eine Einstufung als Ober-, Mittel- oder Grundzentrum erfolgt“ sowie damit einhergehend „die jeweiligen Versorgungsaufgaben klar und deutlich zu bestimmen“. Der Freistaat wiederum „muss die Zentren bei ihrer Aufgabenerfüllung unterstützen“10. Damit fordert die Kommission in Bayern – anders als auf Bundesebene – auch insgesamt eine Stärkung des Landesentwicklungsprogramms als raumordnerisches Instrument, um schließlich auch „eine gewisse Gleichwertigkeit“11 generieren zu können. Die Regionalpolitik wird – im Gegensatz zur Raumordnung – nur durch ihren möglichen Beitrag zur regionalen Wertschöpfung durch den Tourismus explizit erwähnt.12
Unterschiedliche Lebensverhältnisse gleichwertig
These 2: Gleichwertige Lebensverhältnisse kann es nur geben, wenn unterschiedliche Lebensverhältnisse den gleichen Wert haben können. „[Es] gab und gibt [...] nun einmal überall in der Republik große Unterschiede in den Lebensverhältnissen. Das geht von Nord nach Süd wie von West nach Ost. Wer sie einebnen will, zementiert den Subventionsstaat und legt der jungen Generation eine untragbare Schuldenlast auf.“13 Der frühere Bundespräsident Horst Köhler hat im Rahmen seines viel beachteten Interviews vom 13.9.2004 praktisch den Weg geebnet, die Diskussion über gleichwertige Lebensverhältnisse mit einem (leicht) veränderten Fokus zu führen. Im Prinzip ging es darum, Gleichwertigkeit nicht (mehr) als „Gleichmacherei“14 misszuverstehen, sondern räumliche Unterschiede zu akzeptieren, „Differenz als gleichberechtigt anzuerkennen“15 und auch die Wirkung staatlicher Subventionen stärker in den Blick zu nehmen.
Räumliche Unterschiede müssen also nicht per se negativ sein. Forderungen etwa nach einer Angleichung „des Ostens“ an „den Westen“ helfen der Debatte um räumliche Gerechtigkeit ebensowenig wie ein bundesdeutsches Mittel als Zielgröße. Denn das könnte Veränderungen aus beiden Richtungen hin zum Mittelwert in die Diskussion bringen und zur Frage führen: Wer möchte ernsthaft Maßnahmen zur Reduzierung der Frauenerwerbstätigkeit in Sachsen und Thüringen oder der Kleinkinderbetreuungsquote in Brandenburg und Sachsen-Anhalt vorschlagen, um eine Angleichung an das Niveau der westdeutschen Bundesländer zu erreichen? Statistisch wäre dies durchaus nachvollziehbar, da – in unserer heutigen Arbeitswelt – die Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern dazu führen, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Erwerbstätigem steigt, wenn anteilig weniger Frauen in Beschäftigung sind. Alle Teilräume in Deutschland sind anders als andere und oft weder besser noch schlechter. Ordinal skalierte Rankings können daher kaum geeignet sein, nominal skalierte Raumtypen schon eher.
Die klassische Unterscheidung zwischen Stadt und Land bzw. Verdichtungsraum und ländlichem Raum, wie sie in zahlreichen Raumordnungsplänen als normative Raumkategorien gemäß § 13 Abs. 1, Satz 1a Raumordnungsgesetz (ROG) vorgenommen wurde, führt jedoch ebenso in die Irre. Zumindest dann, wenn die beiden Raumtypen mit ihren raumstrukturellen Eigenarten und spezifischen Herausforderungen nicht gleichberechtigt nebeneinanderstehen, sondern gegeneinander aufgestellt werden. Aktuelle Fördergebietskulissen – wie in Abbildung 1 dargestellt – und die Debatte im Rahmen der Kommission Gleichwertige Lebensverhältnisse reproduzieren diese längst überwunden geglaubte Dichotomie von Stadt und Land als Gegensatzpaar.
Abbildung 1
Ballungsräume und ländlicher Raum in Deutschland
Anmerkung: Etwa 90 % der Fläche Deutschlands zählen zu den ländlichen Räumen. In Dörfern, Gemeinden und Städten auf dem Land leben mehr als die Hälfe der Einwohner.
Quelle: Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Willkommen im ländlichen Raum, Berlin 2015.
Tatsächlich sind die Teilräume auch in sich weitaus heterogener strukturiert als es mitunter in der öffentlichen Debatte transportiert wird, die Gegensätze zwischen Stadt und Land, aber auch Ost und West oder Nord und Süd aufbaut. Insofern muss es darum gehen, basierend auf einer differenzierten Problembeschreibung, maßgeschneiderte Lösungen unter Berücksichtigung der Potenziale und Hemmnisse einzelner Regionen zu entwickeln. Pauschalförderungen etwa für den ländlichen Raum greifen viel zu kurz, angesichts der Vielfalt ländlicher Räume und sogenannter ländlicher Problemlagen in Deutschland. Es stellt sich die Frage, ob es zielführend ist, dort Handlungsbedarf (mit entsprechend ausgerichteten Fördergrammen) zu sehen, wohin die Mittel des wichtigsten europäischen Förderinstrumentes für ländliche Regionen, des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER), fließen.
Zwar gibt es auch differenziertere Abgrenzungen ländlicher Räume etwa vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) oder vom Thünen-Institut für Ländliche Räume, doch handelt es sich meist allein um zusätzliche Dichteklassen auf einer Ordinalskala. Und genau darin liegt das Dilemma: Auf der einen Seite verdichtet sich das Bild, das die Kommission – zumindest gegenwärtig – zeichnet, wonach gleichwertige Lebensverhältnisse dazu da sind, den Wegzug aus vielen ländlichen, also dünn besiedelten, Regionen zu verhindern und den Zuzugsdruck in die dicht besiedelten Ballungsräume zu dämpfen.16 Auf der anderen Seite gibt es keinen Kausalzusammenhang etwa zwischen der Einwohnerdichte von Regionen und der Wirtschaftskraft, was sich in Nordrhein-Westfalen etwa darin zeigt, dass es dem eher dünner besiedelten Südwestfalen wirtschaftlich weitaus besser geht, als dem überaus dicht besiedelten Ruhrgebiet.
Die tatsächlichen Herausforderungen im Zusammenhang mit gleichwertigen Lebensverhältnissen sind daher auch weitaus vielschichtiger. Basierend auf einer Operationalisierung der beiden für gleichwertige Lebensverhältnisse primär relevanten Zieldimensionen „Daseinsvorsorge sichern“ und „Wirtschaftskraft ermöglichen“17 mit anschließender Hauptkomponenten- und Clusteranalyse18 zeigen sich hinsichtlich der Unterschiede in Deutschland zwar grob die oben genannten Muster (Ost-West, Nord-Süd, Stadt-Land), im Detail werden diese Muster den teilräumlichen Besonderheiten jedoch nicht gerecht (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2
Räumliche Cluster für Smart-Country-Strategien
Quelle: Basierend auf T. Wiechmann, T. Terfrüchte: Smart Country regional gedacht. Teilräumliche Analysen für digitale Strategien in Deutschland, Gütersloh 2017.
Einen anderen Zugang bietet das BBSR mit der Leitbildkarte Daseinsvorsorge zum gleichnamigen Leitbild der Raumentwicklung „Daseinsvorsorge sichern“ an (vgl. Abbildung 3). Ausgehend von den Grundsätzen der Raumordnung (§ 2 Abs. 2 ROG), wonach zur Gewährleistung gleichwertiger Lebensverhältnisse unter anderem der Zugang und die Erreichbarkeit von Einrichtungen der Daseinsvorsorge zu gewährleisten sind, zeigt die Karte Regionen, in denen die Tragfähigkeit zentralörtlicher Versorgung gefährdet und daher zu sichern ist. Hier zeigt sich ein ähnlich differenziertes Bild wie in Abbildung 2.
Allerdings führt diese Operationalisierung von Gleichwertigkeit wiederum in die Irre: Tatsächlich ist in Abbildung 3 dargestellt, welche Teilräume besonders von Alterung und Bevölkerungsrückgang betroffen sind und die von der Raumordnung ausgewiesenen Ober- und Mittelzentren insofern in ihrer Tragfähigkeit gefährdet sein könnten. Die tatsächliche Versorgung mit zentralörtlichen Einrichtungen etwa im Bildungs- und Gesundheitswesen und die Erreichbarkeit solcher Einrichtungen ist hingegen nicht Gegenstand der Leitbildkarte.19 Ein Beispiel: Das Ruhrgebiet steht sicher weiterhin vor strukturpolitischen Herausforderungen. Eine Gefährdung der wohnortnahen Daseinsvorsorge – wie in Teilen Ostdeutschlands, im Bayerischen Wald oder in Nordhessen – dürfte jedoch absehbar ausgeschlossen sein. Gleichwohl gibt es im Ruhrgebiet Mittelzentren, die aufgrund des bisherigen Überangebots (fast jede Stadt ist dort Mittelzentrum) in ihrer Tragfähigkeit gefährdet sein könnten, daraus aber eine Gefährdung der Daseinsvorsorge und damit auch gleichwertiger Lebensverhältnisse abzuleiten, scheint wenig überzeugend. Bezogen auf die oben genannte These bedeutet dies: Das Ruhrgebiet ist anders als der Bayerische Wald, aber eben auch anders als der Ballungsraum Rhein/Main. Es bestehen raumstrukturelle Unterschiede, die sich nicht durch Gegensätze von Stadt und Land oder Nord und Süd erklären lassen. Diese müssen aber mit Blick auf gleichwertige Lebensverhältnisse Berücksichtigung finden. Mittelzentren haben in Nordrhein-Westfalen kaum eine Umlandbedeutung (205 der 396 Städte und Gemeinden sind mindestens Mittelzentren), d. h. die räumliche Nähe zu benachbarten Mittelzentren gewährleistet auch bei sinkender Gesamttragfähigkeit eine wohnortnahe Versorgung. Bricht im Bayerischen Wald die zentralörtliche Versorgung in einem Mittelzentrum weg, werden mitunter ganze Landstriche von einer wohnortnahen Versorgung in zumutbarer Erreichbarkeit abgeschnitten.
Abbildung 3
Leitbildkarte Daseinsvorsorge in Deutschland
Quelle: Basierend auf Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung: Daseinsvorsorge, Leitbildkarte 2016.
Was folgt nun daraus: Erstens sind differenzierte Raumanalysen, wie in den Abbildungen 2 und 3 dargestellt, grundsätzlich besser geeignet für eine ehrliche Debatte über gleichwertige Lebensverhältnisse als die tradierten Gegensatzpaare wie Ost-West oder Stadt-Land. Zweitens ist auf das Kleingedruckte in Abbildung 3 zu verweisen, denn Raumanalysen und -typen können planerische Festlegungen nicht ersetzen, sondern sie lediglich vorbereiten. Sie können dies umso besser, je detaillierter die vage Leitvorstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse operationalisiert ist, da nur dann offenkundige Unterschiede auch als gleichwertig identifiziert werden können. Und drittens sollte die gemeinsame Wirkmächtigkeit von Raumordnung und Regionalpolitik ins Bewusstsein rücken, räumliche Analysen auf gemeinsame Ziele abgestimmt und identifizierte Handlungserfordernissen mit entsprechenden Maßnahmen begegnet werden.
Gleichwertigkeit: Welcher Input für welchen Outcome?
These 3: Es bedarf einer grundsätzlichen Abkehr von der Input-Orientierung hin zu einer Outcome-Orientierung. Horst Seehofer hat für die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ angekündigt, „das Land neu [zu] vermessen und einen tragfähigen Maßstab für den Begriff der gleichwertigen Lebensverhältnisse [zu] definieren. Richtschnur sollte dabei eine echte Chance für jeden einzelnen auf Wohlstand, Zugang zu Bildung, Wohnen, Arbeit, Sport und Infrastruktur sein“20. Damit knüpft Seehofer an die Debatte um sogenannte Mindeststandards der Daseinsvorsorge an, die bislang überwiegend Input-orientiert (d. h. durch Vorhalten von Infrastrukturen) gedacht wurde (vgl. auch Abbildung 3). Und das erscheint in doppelter Hinsicht problematisch:
Erstens wäre zu klären, in welchen Raumeinheiten entsprechende Standards gelten, d. h. ob etwa innerhalb einer Gemeinde, eines Landkreises oder einer Region vorab definierte Standards zu erfüllen wären. Die Abbildungen 4a bis 4c zeigen, dass der Raumbezug erhebliche Auswirkungen auf die Feststellung erfüllter Standards hat. Am Beispiel der kassenärztlichen Bedarfsplanung und für das Bundesland Nordrhein-Westfalen ist für die drei Raumgliederungsebenen Kreise, (zentralörtliche) Mittelbereiche und Gemeinden jeweils dargestellt, wo – statistisch gesehen – eine bedarfsgerechte Versorgung (weiß), eine Über- (blau) oder Unterversorgung (hellblau) vorliegt. Ausgehend von der sogenannten Verhältniszahl von 1671 Einwohnern je Hausarzt21 liegt eine Überversorgung vor, wenn der Versorgungsgrad 110 % übersteigt, und eine Unterversorgung, wenn dieser 75 % unterschreitet. Während etwa das Münsterland durchweg als überversorgt einzustufen wäre, zeigt sich in Ost- und Südwestfalen ein differenziertes Bild: bedarfsgerecht auf Kreisebene, teilweise überversorgt auf Mittelbereichsebene und teilweise unterversorgt auf Gemeindeebene – ein unterschiedlicher Befund bei identischer räumlicher Verteilung der Hausärzte und der Bevölkerung.
Abbildung 4
Hausärztlicher Versorgungsgrad in Nordrhein-Westfalen 2013
Quelle: eigene Darstellung; Datengrundlage KVNO/KVWL 2013, IT.NRW 2013.
Zweitens, und das scheint vor dem Hintergrund der Akzeptanz von Unterschiedlichkeit noch wichtiger zu sein: Unterschiedliche Inputs führen zum selben Outcome und mitunter wird eine gewünschte Wirkung auch ohne bekannte Ursache eintreten können. Im Gesundheitswesen etwa würde aus einer Outcome-Perspektive die Gesundheit der Bevölkerung gemessen (Ziel: gesundes Leben) und nicht die Zahl der Arztpraxen oder Krankenhäuser (Ziel: Mindeststandards der Ausstattung und Erreichbarkeit). Auch mit einer vermeintlich unzureichenden medizinischen Versorgung kann gesundes Leben möglich sein oder anders ausgedrückt: Es gibt keinen Kausalzusammenhang zwischen der Zahl der Ärzte bzw. Krankenhäuser und der Gesundheit der Menschen in einem Teilraum. Die drei Karten zur hausärztlichen Versorgungsqualität deuten bereits an, dass eine primär Input-orientierte Debatte mehr einer statistischen Fingerübung gleicht.
Im Sinne gleichwertiger Lebensverhältnisse ist es wichtiger, vom Outcome her zu denken, wobei der dafür zu leistende Input nicht unberücksichtigt bleiben darf. Ökonomisch betrachtet hat etwa im Verkehrsbereich jede Bevölkerungsdichte einen optimalen Modal-Split,22 d. h. je dichter eine Region besiedelt ist, desto überlasteter ist das Straßennetz bei primärer Nutzung privater Pkw und desto geeigneter ist der schienengebundene öffentliche Verkehr. Je dünner aber eine Region besiedelt ist, desto weniger wirtschaftlich kann ein öffentlicher Verkehr angeboten werden. Dort sind private Pkw geeigneter, und zur Gewährleistung einer Erreichbarkeit für jedermann müssten Lösungen für den immobilen Teil der Bevölkerung gefunden werden (z. B. Anruf-Sammel-Taxi). Aus einer Outcome-Perspektive steht die Erreichbarkeit im Vordergrund, nicht das Verkehrsmittel. Zu klären wäre wiederum, was denn erreichbar sein soll und wer wen erreichen muss, da etwa bei der medizinischen Versorgung ein (mobiler) Arzt auch immobile Patienten aufsuchen kann und im Einzelhandel der Trend ohnehin weg vom stationären Angebot und hin zum Online-Handel geht.
Und drittens wird es auch bei einer Outcome-Orientierung nicht das Ziel sein können, jegliche Unterschiede zu beseitigen, sondern den räumlichen Zusammenhang – im Verständnis der Europäischen Union auch territoriale Kohäsion genannt – zu fördern. Vielmehr müsse, „das zu tolerierende Ausmaß“ der Unterschiedlichkeit „gesellschaftlich und politisch ausgehandelt“ werden.23 Dies dürfte – auch vor dem Hintergrund des Eingangszitats von Horst Köhler – der absehbar einzige Weg sein, gleichwertige Lebensverhältnisse aus seinem Dasein als vage (und vielleicht deshalb nicht erreichbare) Zielvorstellung herauszuführen.
Beitrag von Raumordnung und Regionalpolitik für gleichwertige Lebensverhältnisse
Raumordnung und Regionalpolitik leisten schon jetzt einen Beitrag zu gleichwertigen Lebensverhältnissen, sei es über die Zentrale-Orte-Konzepte der Länder, die Raumbeobachtung des BBSR oder die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur (GRW). Den verschiedenen Instrumenten und Maßnahmen liegen jedoch unterschiedliche Problembeschreibungen und Zielsetzungen zugrunde. Es fehlt ein abgestimmtes Ineinandergreifen. Erst „wenn sich die wichtigsten raumwirksamen Politiken auf eine Regionalisierung Deutschlands mit einer abgestuften Klassifikation der Regionen nach ihrer Strukturschwäche bzw. Förderbedürftigkeit einigen könnten, ließen sich erhebliche Wirkungssynergien erzielen“24. Anknüpfend an die drei diskutierten Thesen könnte ein idealtypisches Vorgehen wie folgt aussehen:
- Raumordnung und Regionalpolitik werden gemeinsam mit weiteren raumwirksamen Politiken bei der Operationalisierung der Leitvorstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse gedacht. Dazu gehört auch eine Verständigung auf einen geeigneten und vor allem gemeinsamen Raumbezug (z. B. die zentralörtlichen Mittelbereiche) im Sinne multifunktionaler regionaler Handlungsräume.25
- Handlungsbedarfe werden durch zielgerichtete Raumanalysen als Raumtypen identifiziert und als normative Raumkategorien in den Raumordnungsplänen der Länder und Regionen festgelegt.
- Förderprogramme werden auf die spezifischen Chancen und Herausforderungen der Raumkategorien zugeschnitten, was zugleich eine Abkehr von Pauschalförderungen etwa für ländliche Räume bedeutet.
Auf dieser Basis lassen sich Wirkungssynergien erzielen, und der vage Begriff der gleichwertigen Lebensverhältnisse wird neu und mit gemeinsamen Sinn gefüllt, um reale gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland herzustellen.
- 1 Vgl. T. Terfrüchte: Gleichwertige Lebensverhältnisse und Daseinsvorsorge im demografischen Wandel: Perspektiven für 2030, in: N. Römer, M. Herter (Hrsg.): NRW Zweitausend-30: Stark und Gerecht! Impulse für Fortschritt, Aufstieg und Zusammenhalt, Berlin 2015, S. 191.
- 2 Vgl. CDU, CSU, SPD: Ein neuer Aufbruch für Europa, Eine neue Dynamik für Deutschland, Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, Berlin 2018, S. 5074-5075.
- 3 Ebenda, S. 3059.
- 4 Ebenda, S. 6769-6772.
- 5 Ebenda, S. 5464-5466.
- 6 Ebenda, S. 5445-5448.
- 7 Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat: Auftaktsitzung der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“, Pressemitteilung vom 26.9.2018, Berlin 2018.
- 8 Ebenda.
- 9 Vgl. Bayerischer Landtag: Gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Bayern. Bericht der Enquete-Kommission, Drucksache 17/19700, München 2017, S. 75.
- 10 Ebenda, S. 25.
- 11 Ebenda, S. 127.
- 12 Ebenda, S. 88.
- 13 Vgl. H. Köhler: Jeder ist gefordert, in: Focus vom 13.9.2004.
- 14 Vgl. J. Kersten, C. Neu, B. Vogel: Der Wert gleicher Lebensverhältnisse, Bonn 2015, S. 6.
- 15 Vgl. E. Barlösius: Der Anteil des Räumlichen an sozialer Ungleichheit und sozialer Integration. Infrastrukturen und Daseinsvorsorge, in: Sozialer Fortschritt, 58. Jg. (2009), H. 2-3, S. 27.
- 16 Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, a. a. O.
- 17 In § 2 Abs. 2 Satz 2 ROG wird als dritte Dimension der Ressourcenschutz aufgeführt.
- 18 Vgl. T. Wiechmann, T. Terfrüchte: Smart Country regional gedacht. Teilräumliche Analysen für digitale Strategien in Deutschland, Gütersloh 2017.
- 19 Vgl. T. Terfrüchte, S. Greiving, F. Flex: Empirische Fundierung von Zentrale-Orte-Konzepten. Vorschlag für ein idealtypisches Vorgehen, in: Raumforschung und Raumordnung, 75. Jg. (2017), H. 5, S. 479 f.
- 20 Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, a. a. O.
- 21 Die Bedarfsplanungsrichtlinie des Gemeinsamem Bundesausschusses sieht – übergangsweise bis 2027 – eine Ausnahme der Verhältniszahl für das Ruhrgebiet vor. Zur Gewährleistung der Vergleichbarkeit wird in den Analysekarten auch für das Ruhrgebiet die bundesweite Verhältniszahl genutzt.
- 22 Vgl. W. Rauh: Das Niveau der Erreichbarkeit in Großstädten messen und vergleichen, in: Der öffentliche Sektor – The Public Sector, 38. Jg. (2012), H. 1, S. 47.
- 23 Vgl. E. Barlösius, a. a. O., S. 27 f.
- 24 Vgl. H. H. Blotevogel: Die Regionalpolitik in Deutschland: institutioneller Aufbau und aktuelle Probleme, in: H. Egli, L. Boulianne (Hrsg.): Forschungsmarkt regiosuisse & Tagung Regionalentwicklung 2011. Regionalpolitik in den Nachbarländern: Lessons Learned und Folgerungen für die Schweiz, Luzern 2012, S. 50.
- 25 Vgl. T. Terfrüchte: Regionale Handlungsräume. Gliederung und Einflussfaktoren am Beispiel Nordrhein-Westfalens, Lemgo 2015, S. 244-250.