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Die Wahl zum Europäischen Parlament Ende Mai 2019 hat einige Entwicklungen gezeigt: Die Wahlbeteiligung ist deutlich gestiegen, die großen Volksparteien haben Verluste erlitten, aber der befürchtete Siegeszug der europaskeptischen und populistischen Parteien blieb aus. Angesichts der auf Staaten bezogenen Wahllisten und der degressiven Proportionalität stellt sich zwar die Frage nach der demokratischen Legitimität. Die Ergebnisse der Wahl werden aber breit akzeptiert. Wie die einzelnen Fraktionen des Europäischen Parlaments dann tatsächlich abstimmen, lässt sich nicht immer eindeutig der Parteifarbe zuordnen. Hier gibt es die unterschiedlichsten Koalitionen. An Aufgaben fehlt es in Zukunft allerdings nicht. Die Agenda des neuen Parlaments reicht von der Industriepolitik, über Arbeitnehmerfragen bis zu einer sozial gerechten Klimapolitik.

Wie haben sich die Kräfteverhältnisse im Europäischen Parlament verändert?

Am 26. Mai 2019 endete die langjährige faktische große Koalition zwischen der Europäischen Volkspartei und den Sozialdemokraten im Europäischen Parlament. Die beiden bisher mächtigsten Gruppen haben zusammen mehr als 9 Prozentpunkte verloren und kommen nur mehr auf 44 % der Sitze in Straßburg und Brüssel. Wer hat die 68 Sitze gewonnen, die die beiden immer noch bei weitem größten Blöcke im 751 Sitze umfassenden Europäischen Parlament gemeinsam verloren haben? Auf den ersten Blick sind das drei Gruppen: einerseits ALDE, die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, die um 37 Sitze zugelegt hat, andererseits die Grünen, die im neuen Parlament 21 Sitze gewonnen haben, und dann verschiedene Parteien an den Rändern des Parteienspektrums, wobei vor allem rechtspopulistische Kräfte stärker geworden sind.

Ein genauerer Blick enthüllt aber, dass mehr als die Hälfte, nämlich 21, der von ALDE gewonnenen Sitze auf die französische Koalition Renaissance unter Führung der Bewegung von Präsident Macron zurückzuführen ist. Ob die Positionen von La République En Marche ohne weiteres mit jenen der FDP in Deutschland oder der skandinavischen und holländischen Liberalen vereinbar sind, lässt sich bezweifeln. Vor diesem Hintergrund ist der Machtgewinn der Liberalen weniger eindrucksvoll. Außerdem würden weitere 16 Sitze von ALDE durch das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU verloren gehen. Gleichwohl bleibt auch ohne Berücksichtigung Frankreichs und im Falle eines Brexits der Befund richtig, dass ALDE im neuen Parlament eine bedeutendere Rolle spielen können wird als im alten.

Besondere mediale Aufmerksamkeit hat in Deutschland der Stimmenzuwachs der Grünen im Europäischen Parlament erhalten. Ganz zu Recht, denn die Grünen konnten ihren Stimmenanteil fast verdoppeln. Nur in Irland hat die Partei mehr zugelegt. Auch in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und vor allem in Großbritannien kam es zu starken Gewinnen. In anderen Ländern hingegen mussten die Grünen Verluste hinnehmen, teilweise deutliche; so z. B. in Schweden. Und immer noch entsenden 13 der 28 EU-Staaten überhaupt keine grünen Abgeordneten in das Europäische Parlament. Italien und die neuen Mitgliedstaaten der Union entsenden gemeinsam gerade einmal drei grüne Abgeordnete. In Summe sind die Grünen also nur wenig stärker geworden: Ihr Anteil an Sitzen im Parlament hat sich von ca. 7 % auf 10 % erhöht. Käme der Brexit, dann würde der Anteil wieder auf 9 % sinken. Aber mehr als jede andere Gruppe mit Stimmengewinnen scheint es, dass die Grünen ihr Potenzial noch nicht voll ausschöpfen und das Momentum auf ihrer Seite haben.

Wenn man die europakritischen Parteien betrachtet, so zeigt sich, dass diese sehr heterogen aufgestellt sind. Es ist nicht immer leicht, ihr wirtschaftspolitisches Profil klar festzulegen, gerade in Bezug auf europapolitische Agenden. Sie eint meist nur eine hohe Skepsis gegenüber der Verlagerung von Kompetenzen nach Europa, nicht aber ein konkreter Plan, wie Politik auszugestalten ist. Addiert man die Sitzanteile der Parteien Europäische Konservative und Reformer (EKR), Europa der Nationen und der Freiheit (ENF) und Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD), so entfallen auf diese im neuen Parlament ca. 23,2 % der Sitze nach bisher 20,7 %. Treten die Briten aus der EU aus, so sinkt der Anteil der drei Fraktionen auf 20,8 %. ENF und EFDD haben sich mehrmals im alten Parlament dadurch ausgezeichnet, dass sie als einzige Fraktionen gegen an sich sehr konsensuale Vorhaben gestimmt haben, wie z. B. beim EU-US-Abkommen zur prudenziellen Überwachung von Versicherungen und Rückversicherungen.1

Ein Brexit würde übrigens den schwarz-roten Block im Europäischen Parlament wieder deutlich stärken; er käme dann ungefähr auf 48 % der Sitze, also fast auf eine Mehrheit, denn die Briten entsenden in das neue Parlament nur zehn Sozialdemokraten und keine Mitglieder der EVP, aber 63 Mitglieder anderer Blöcke (vgl. Abbildung 1). Der Herfindahl-Index,2 ein Maß für die Konzentration politischer Macht, liegt im neuen Parlament bei 15,0 % (mit Brexit: 16,1 %) nach vormals 17,9 %. Die Macht im neuen Europäischen Parlament ist also weniger stark konzentriert, was eine größere Vielfalt potenzieller Koalitionen ermöglicht, deren Bildung aber erschwert. Die Veränderung des Index, der zwischen 1/751 und 1 variieren kann, ist aber relativ klein.

Abbildung 1
Machtverhältnisse im „alten“ und „neuen“ Europäischen Parlament
Anteile der Fraktionen
Machtverhältnisse im „alten“ und „neuen“ Europäischen Parlament

Legislaturperiode 2014 bis 2019 in der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments im April 2019. Geschätzte Anteile der Fraktionen ohne Großbritannien (nach vollzogenem Brexit) berücksichtigen nicht die geplante (geringfügige) Neuverteilung der Sitze unter den EU-Mitgliedstaaten.

Quelle: Europäisches Parlament; eigene Berechnungen.

Was bedeuten diese neuen Machtverhältnisse für wichtige wirtschaftspolitische Entscheidungen im Europäischen Parlament? In der Folge wird ein kurzer Blick auf die Handelspolitik, die Umweltpolitik und die Finanzpolitik geworfen. Die Analyse bleibt notwendigerweise kurz und unvollständig. Sie bestätigt aber eine Hypothese: Das neue Parlament ist politisch dem alten sehr ähnlich.

Handelsabkommen

Das Europäische Parlament spielt beim Abschluss von Handelsabkommen der EU eine wichtige Rolle, weil es diese ratifizieren muss, damit sie in Kraft treten können. Bei Abkommen, die ausschließliche Kompetenzen der EU betreffen, ist das Europäische Parlament das einzige Parlament in der EU, dessen Zustimmung erforderlich ist. Bei sogenannten gemischten Abkommen ist für ihre endgültige Inkraftsetzung auch eine Ratifizierung durch die Parlamente der Mitgliedstaaten erforderlich. Das Europäische Parlament kann die Erteilung von Verhandlungsmandaten durch den Rat an die Kommission und auch den Prozess der Verhandlungen selbst beeinflussen, indem es Resolutionen verabschiedet, die zwar rechtlich nicht verbindlich sind, aber die zu erwartende Position des Parlaments bei der Ratifikation erkenntlich macht.

Abbildung 2 zeigt, wie die Fraktionen im Europäischen Parlament in der letzten Legislaturperiode für die von der Kommission ausverhandelten Vertragstexte gestimmt haben. Im Durchschnitt ergab sich im alten Europäischen Parlament eine Zustimmung zu wichtigen Freihandelsverträgen (CETA, EU-Japan, EU-Singapur) von 70 %. Unterstellt man, dass die Fraktionen im neuen Parlament das gleiche Abstimmungsverhalten aufweisen, dann ergibt das neue Kräfteverhältnis eine erwartete Zustimmungsrate von 66 %. Nimmt man an, dass die Bewegung des französischen Präsidenten, die der ALDE-Gruppe beigetreten ist, ein Wahlverhalten aufweist wie die Sozialdemokraten – was auf der Basis des Wahlkampfes der Bewegung zu erwarten ist – dann sinkt die Zustimmungsrate im neuen Parlament auf 65 %.

Abbildung 2
Zustimmung zu Freihandelsabkommen nach Fraktionen
Zustimmung zu Freihandelsabkommen nach Fraktionen

Durchschnitte über Abstimmungen zum CETA-Abkommen mit Kanada und den Freihandelsabkommen mit Japan und Singapur.

Quelle: Votewatch Europe; eigene Berechnungen und Darstellung.

Der Brexit hingegen würde das Parlament wieder geringfügig freihandelsfreundlicher machen, weil die traditionell liberale konservative Partei nur sehr wenige Abgeordnete nach Brüssel bzw. Straßburg sendet.

Es wird also in der kommenden Legislaturperiode etwas schwieriger werden, Mehrheiten für eine Handelspolitik, wie sie in den letzten Jahren betrieben wurde, zu finden. Gleichwohl würden CETA, EU-Japan oder EU-Singapur wohl aber auch im neuen Parlament ratifiziert worden sein. Vor dem Hintergrund des Erfolgs vor allem der grünen Parteien aber ist zu erwarten, dass sich das Europäische Parlament noch stärker als bisher auf Bestimmungen zum Schutz der Umwelt, zum Tierwohl, zum Schutz von Konsumenten und Arbeitern in Freihandelsverträgen einsetzen wird.

Brexit

Was den möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU angeht, so hat sich das alte Europäische Parlament in einer Entschließung vom März 2018 für die Zeit nach dem Vollzug des Austrittsabkommens für ein Assoziierungsabkommen der EU mit dem Inselreich ausgesprochen. Eine solche Vereinbarung würde bedeuten, dass Großbritannien weiterhin die EU-Normen in den Bereichen Umwelt, Klimawandel, Bekämpfung der Steuerhinterziehung und -vermeidung, fairer Wettbewerb, Handel und Sozialpolitik berücksichtigt, aber die „vier Freiheiten“ der EU untrennbar miteinander verbunden seien. Zu dieser Entschließung gab es eine große, fraktionsübergreifende Übereinstimmung; nur die Abgeordneten von EFDD und ENF stimmten dagegen. Sie vertreten eine insgesamt losere EU und eine Aufweichung der Verbindung der „vier Freiheiten“. Diese Ansicht wird im neuen Parlament deutlicher zu hören sein; aber die Abstimmung im März 2018 würde wohl, wenn sie heute wiederholt würde, mit einem ähnlichen Ergebnis enden, vor allem, wenn die Briten im Europäischen Parlament mit abstimmen.

Haltung des Europäischen Parlaments gegenüber wichtigen Partnerländern

Hinsichtlich der Positionierung des Parlaments gegenüber wichtigen Handelspartnern dürfte sich insgesamt wenig verändert haben, aber ein genauer Blick in das Abstimmungsverhalten des alten Parlaments und was dieses mit den neuen Kräfteverhältnissen bedeutet hätte, ist auch in diesem Kontext interessant.

Das Europäische Parlament zur USA

Im März 2019 stimmte das Parlament über eine Resolution zur Aufnahme von Verhandlungen zu einem Freihandelsabkommen mit den USA ab. Das Hauptargument war, dass man nicht verhandeln könne, solange die ungerechtfertigten Zölle (gegen Stahl- und Aluminiumprodukte aus der EU) in Kraft sind und US-Präsident Donald Trump Autozölle nicht ausschließt. Allerdings ist der derzeit geltende Waffenstillstand im transatlantischen Handelskonflikt, den EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der US-Präsident im Juli 2018 vereinbart haben, an die Aufnahme von Verhandlungen zu einem Abbau von Industriezöllen geknüpft. Die Abstimmung war knapp: 193 Abgeordnete stimmten für, 223 gegen die Annahme der Resolution. Somit verweigerte das Parlament dem Rat und der Kommission die Gefolgschaft. Mit den neuen Kräfteverhältnissen wäre es zu einer etwas weniger starken Ablehnung, in einem Parlament ohne Großbritannien zu einer deutlicher ausgeprägten Ablehnung gekommen. Die Verschiebungen wären aber in beiden Fällen wenig ausgeprägt, denn die Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Linken, die die Resolution eingebracht hatten, ist zwar insgesamt schwächer geworden, die in sich sehr einigen Grünen aber stärker. Das Abstimmungsverhalten bei der Resolution zeigt ebenfalls sehr deutlich, dass die rechtspopulistischen Parteien entweder keine Meinung zu haben scheinen (ein hoher Anteil der Abgeordneten enthielt sich oder nahm gar nicht an der Abstimmung teil) oder gespalten sind. Das neue Parlament ist nicht amerikanophiler als das alte, und man muss davon ausgehen, dass jeder von der Europäischen Kommission und der US-Regierung ausgehandelte Vertrag bei seiner Ratifikation im Europäischen Parlament mit offenem Ausgang geprüft werden würde.

Das Europäische Parlament zu Russland

Die Russlandpolitik der EU ist umstritten. Sollen die nunmehr seit ca. fünf Jahren geltenden Sanktionen weitergeführt, oder gar, bei mangelhaften Fortschritten in der Ostukraine weiter verschärft werden? Die meisten rechtspopulistischen Parteien haben eine wenig Russland-skeptische Sicht. Das Gleiche gilt für die Linken. Die Sozialdemokraten sind relativ gespalten. Das zeigte auch das Abstimmungsverhalten im März 2019, als eine relative scharfe Resolution verabschiedet wurde, die Russland den Status eines strategischen Partners aberkennt und die EU auffordert, sich gegebenenfalls für neue Sanktionen bereit zu machen. Die Resolution wurde mit 402 gegen 132 Stimmen angenommen, d. h. ca. 25 % der Abgeordneten sprachen sich gegen den relativ unbeugsamen Ansatz des Europäischen Parlaments gegenüber Russland aus. Im neuen Parlament wäre dieser Anteil etwas höher, bei 27 % gelegen; ohne die Stimmen Großbritanniens bei 26 %.

Das Europäische Parlament zu China

Das alte Europäische Parlament hat sich wiederholt China-kritisch geäußert. Das betraf sowohl die Menschenrechtssituation im Reich der Mitte als auch die Wirtschaftspolitik. In der letzten Legislaturperiode stand die Frage im Raum, ob man China handelspolitisch als Marktwirtschaft behandeln solle – dies hätte wichtige Folgen für die Berechnung von Anti-Dumping-Zöllen. Im Mai 2016 sprach sich eine große Mehrheit von insgesamt 546 Abgeordneten gegen den Marktwirtschaftsstatus aus. Das ist ein Anteil von 84 % der anwesenden Volksvertreter. Es gab einen breiten Konsens über ein relativ hartes Vorgehen gegenüber China. Die einzige Fraktion, die nicht für den Antrag gestimmt hatte, war ENF – dies hatte aber wohl andere als inhaltliche Gründe. Bei den Linken gab es einen sehr hohen Anteil an Enthaltungen. Auch in neueren Abstimmungen, z. B. im April 2019 über die Situation religiöser und ethnischer Minderheiten in China, offenbarte sich ein ähnliches Abstimmungsverhalten. In beiden Fällen zeigt sich, dass die Differenzen nicht entlang von Parteilinien, sondern zwischen den Mitgliedstaaten liegen, wobei auffällt, dass ein relativ hoher Anteil von Abgeordneten aus ganz bestimmten Ländern zu China-Abstimmungen gar nicht im Parlament sind. Es sind damit nur zum Teil EU-Mitglieder, die der sogenannten 16+1-Gruppe des China-Mittel-Ost-Europa-Gipfels angehören, z. B. Griechenland. Zypern und Italien gehören der Gruppe aber nicht an. Interessanterweise haben auch 38 % der britischen Abgeordneten gar nicht an der Abstimmung teilgenommen oder sich enthalten. Der Brexit wird wohl an der Position des Parlaments in China-Fragen wenig ändern. Es bleibt bei einem parteiübergreifenden China-kritischen Konsens.

Das neue Europäische Parlament ist nicht wirklich grüner …

Die im neuen Europäischen Parlament gestärkten Europa-skeptischen Parteien stimmen eher nicht für grüne Initiativen. Am Beispiel der Glyphosat-Abstimmung vom Oktober 2017 sieht man, dass – unter der Annahme konstanten Abstimmungsverhaltens der Fraktionen – im neuen Parlament 31,5 % der Abgeordneten gegen die Verlängerung der Zulassung von Glyphosat gestimmt hätten, während es im alten Parlament 30,5 % waren. Und die neuen, strengeren Abgasnormen für Autos, die im Oktober 2018 zur Abstimmung standen und mit ca. 62 % der Stimmen verabschiedet wurden, würden im neuen Parlament eine ganz ähnliche Zustimmungsrate erhalten. Zwar sind die Grünen, die dem Vorschlag enthusiastisch zugestimmt haben, gestärkt, aber die Sozialdemokraten, ebenfalls starke Befürworter, sind geschwächt, und die rechtspopulistischen Parteien, geeint in ihrer Gegnerschaft strengerer Abgasnormen, haben im neuen Parlament ein höheres Gewicht.

Reform der europäischen Finanzordnung

Schließlich sei ein Blick auf die laufenden Bemühungen zur Neuordnung der europäischen Staatsfinanzen gerichtet. Hierzu hat das alte Europäische Parlament immer wieder Stellung bezogen. Die Abstimmung im März 2019 zur Errichtung eines European Monetary Fund (EMF) ist exemplarisch, weil sie die Bruchlinien im Parlament aufzeigt. Die Kernfrage ist, ob der Mechanismus, der mit Staatsschuldenkrisen in der Eurozone umgehen soll, zentralistisch – als Einrichtung der EU selbst – oder intergouvernemental (wie bisher) aufgestellt sein soll. Das Europäische Parlament hat sich mit 237 gegen 152 Stimmen (18 Enthaltungen) für eine zentrale Lösung – den EMF – und gegen die mehrheitlich skeptische Position des Rates ausgesprochen. Dabei zeigte sich, dass die EVP-, S&D- und ALDE-Fraktionen ziemlich geschlossen für den EMF, alle anderen Fraktionen ebenso geschlossen dagegen votierten. Die Beweggründe mögen sich in der Gruppe der Gegner zwischen Rechtspopulisten und Linken unterscheiden; die Trennlinien verlaufen gleichwohl sehr scharf. Im neuen Europäischen Parlament würde auch diese Abstimmung wohl nicht anders ausgehen: Lag noch im März 2019 die Mehrheit von EVP, S&D und ALDE bei ca. 58 %, würde sie jetzt bei 56 % und nach einem Ausstieg der Briten wieder bei 58 % liegen. Auch hier zeigt sich: plus ça change, plus c‘est la même chose …

Fazit zu den Kräfteverhältnissen des Europäischen Parlaments 2019

Im neuen Europäischen Parlament mögen die EVP und die S&D ihre gemeinsame Mehrheit verloren haben. Die Machtverhältnisse haben sich trotzdem nicht maßgeblich verschoben. Zu vielen wichtigen Themen würde sich das Abgeordnetenhaus heute ganz ähnlich verhalten wie in der vergangenen Legislaturperiode. Klar ist aber auch: Vor allem die Grünen, aber auch die Liberalen haben mehr Gewicht und werden dieses auch einsetzen. Weil sie aber oft genug entgegengesetzte Positionen vertreten, können sie das Parlament nicht substanziell in neue Richtungen schieben.

  • 1 Die Resolution wurde im März 2018 mit 90% der Stimmen angenommen.
  • 2 Der Herfindahl-Index ist definiert als Summe der quadrierten Stimmenanteile.

Europawahl 2019: Umbrüche, aber kein Beben im politischen System der EU

Im Vorfeld wurden die Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 als „Schicksalswahl“ tituliert. Doch das ganz dramatische politische Beben ist ausgeblieben, die pro-europäischen Parteien haben ihre Mehrheit im Parlament klar behalten, die EU wird handlungsfähig bleiben. Auf den zweiten Blick zeigen sich dennoch gewichtige Umbrüche im europäischen Parteiengefüge, die sich auch auf die politischen Richtungsentscheidungen in und das Zusammenspiel zwischen den EU-Institutionen auswirken werden. Insbesondere haben die beiden bislang dominierenden Parteien links und rechts der Mitte, die Europäische Volkspartei (EVP) und die europäischen Sozialdemokraten (SPE) erstmals ihre gemeinsame Mehrheit im Europäischen Parlament verloren. Die europäischen Liberalen, nun gemeinsam mit der Partei des französischen Präsidenten Macron, und/oder die europäischen Grünen werden zu Königsmachern. EU-kritischen Parteien ist es hingegen (bisher) nicht gelungen, eine gemeinsame große Fraktion aufzubauen, auch wenn sie in einzelnen EU-Staaten größere Erfolge erzielen konnten. Angesichts dieser fragmentierten Mehrheitsverhältnisse droht nun ein dreifacher Machtkampf über die Besetzung der EU-Führungspositionen. Dieser Machtkampf wird auch entscheiden, ob sich die EU auf eine Ära wechselnder Mehrheiten oder eine stabile pro-europäische Koalition hin bewegt.

28 nationale Wahlen, eine europäische Wahl

Die erste bemerkenswerte Entwicklung bei den Europawahlen 2019 war die deutlich gestiegene Wahlbeteiligung. Traditionell gelten die Wahlen zum Europäischen Parlament als „Wahlen zweiter Ordnung“ mit nur geringer Beteiligung, bei denen die Bürgerinnen und Bürger ihr Votum primär aufgrund nationaler statt europäischer politischer Präferenzen abgeben. In der Vergangenheit ist die Wahlbeteiligung daher trotz wachsender Kompetenzen des Parlaments bei jeder Europawahl kontinuierlich gesunken. Im Vergleich zu nationalen Wahlen konnten dabei Protest- und/oder Oppositionsparteien besonders gut abschneiden, während Regierungsparteien in der Regel abgestraft wurden.

Hinzu kommt, dass die Europawahl nach wie vor im Grunde eine Aneinanderreihung von (noch) 28 nationalen Wahlen ist. Sie finden je nach nationalen Traditionen über vier Tage verteilt statt und zur Wahl stehen jeweils ausschließlich die nationalen Parteien. Auch die Wahlergebnisse werden pro Mitgliedstaat ausgezählt, sodass sich die Zusammensetzung des nächsten Europäischen Parlaments nur aus der Kombination von den 28 nationalen Wahlen ergibt. Erst auf europäischer Ebene setzen sich die nationalen Parteien zu ihren europäischen Fraktionen im Europäischen Parlament zusammen, wobei es auch nach der Wahl durchaus noch größere Wechsel gibt. Weiterhin bleibt festzuhalten, dass in den meisten Mitgliedstaaten auch nach fast zehn Jahren Dauerkrise auf europäischer Ebene nationale Themen beim Wahlkampf im Vordergrund standen. In Frankreich etwa dominierte der Wettstreit zwischen Macron und Le Pen den Europawahlkampf, in Italien stand Salvini und seine Lega im Mittelpunkt, in Polen war die Europawahl ein Test für die im Oktober anstehende Parlamentswahl usw.

Vor diesem Hintergrund hat sich bei den Europawahlen 2019 eine bemerkenswerte Entwicklung ereignet. Zum einen ist die Wahlbeteiligung in fast allen Mitgliedstaaten gestiegen, zum Teil deutlich. EU-übergreifend erreichte sie mit 50,95 % den höchsten Wert seit 1994. Insbesondere in Mittel- und Osteuropa stieg das Interesse an den Europawahlen, mit einer Verdopplung der Beteiligung in Polen und in mehreren anderen Staaten der höchsten Beteiligung seit ihrem Beitritt (Tschechien, Ungarn, Kroatien, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Litauen). Auch in Deutschland erreichte die Beteiligung mit 61,4 % den höchsten Wert seit 1989. Auf der anderen Seite dominierten zwar in vielen Mitgliedstaaten weiterhin nationale Themen, aber es gab mehr gemeinsame europäische Themen als bei vergangenen Europawahlen. Hierzu gehörten etwa die Migrationspolitik, die Klima- und Energiepolitik, die Zukunft der Eurozone und der Umgang mit den USA. Angesichts dieses gestiegenen Interesses und der deutlich höheren Wahlbeteiligung ist das Europäische Parlament zunächst als Ganzes demokratisch gestärkt aus der Europawahl hervorgegangen.

Umbrüche im Europäischen Parteiensystem

Die Handlungsfähigkeit und die politische Ausrichtung des nächsten Europäischen Parlaments werden vor allem von der Zusammenarbeit der Fraktionen abhängen. Bis dato war das Europäische Parlament von einer informellen „großen Koalition“ dominiert. Seit der ersten Direktwahl 1979 hatten die beiden großen europäischen Parteienfamilien, EVP und SPE, jeweils gemeinsam immer die absolute Mehrheit inne. Zwar gibt es auf europäischer Ebene keine formelle Regierungskoalition mit klarer Teilung in Regierungs- und Oppositionsfraktionen, aber bei großen Entscheidungen – Besetzung der EU-Führungspositionen, Verabschiedung des EU-Haushalts, Richtungsentscheidungen in der EU-Gesetzgebung – konnten EVP und die zur SPE zugehörige Parlamentsfraktion S&D immer eine stabile Mehrheit organisieren. In der ablaufenden Legislaturperiode haben beide große Fraktionen in 73,4 % der Voten gemeinsam abgestimmt. Trotz acht Fraktionen war das Europäische Parlament damit im Zweifelsfall immer in der Lage eine handlungsfähige Mehrheit zu finden.

Diese Dominanz ist nach den Europawahlen 2019 vorbei, weil beide großen Parteienfamilien europaweit an Unterstützung verloren haben. Dies gilt auf der einen Seite für die Europäische Volkspartei, welche die europäische Politik im letzten Jahrzehnt dominiert hat. Im ablaufenden Europäischen Parlament war die EVP mit 221 Abgeordneten (29,4 %) klar stärkste Kraft (vgl. Tabelle 1), stellt den Präsidenten der EU-Kommission (Jean-Claude Juncker), 13 weitere der 28 Kommissionsmitglieder sowie den Präsidenten des Europäischen Rates (Donald Tusk).

Tabelle 1
Sitzverteilung im neuen Europäischen Parlament vor und nach dem Brexit
Sitze
  EP 2014 bis 2019 EP 2019 bis 2024 EP 2019 bis 2024 Post-Brexit
EVP 221 183 187
S&D 191 146 141
EKR 70 63 62
Renew Europe (vorher: ALDE) 67 113 102
GUE/NGL 52 41 40
Grüne/EFA 50 78 72
ID (vorher: ENF) 37 73 77
EFDD 48 0 0
Fünf-Sterne-Bewegung und Alliierte1 0 15 15
Brexit Party1 0 29 0
Fraktionslos 15 10 9
Gesamt 751 751 705

Anmerkung: Weitere Fraktionswechsel noch möglich. 1 Noch keine Fraktionszuordnung.

Quelle: Europe Elects, Stand vom 13.6.2019.

Im neuen Europäischen Parlament kommt die EVP jedoch nur noch auf 183 Abgeordnete (24,4 %, -38 Sitze), wobei sie ihre Stellung als größte Fraktion verteidigen konnte. Noch unklar ist weiterhin die Zukunft der ungarischen Fidesz-Partei, die aus der EVP-Partei zwar suspendiert ist, aber weiterhin in der EVP-Fraktion sitzt. Ohne die 13 Fidesz-Abgeordneten würde die EVP noch weiter zurückfallen. Hinzu kommt, dass die EVP im Laufe der aktuellen Legislaturperiode in vielen EU-Mitgliedstaaten die Regierungsverantwortung verloren hat, und zuletzt bei der Zahl der geführten Regierungen sogar hinter die liberale ALDE zurückgefallen ist.

Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den europäischen Sozialdemokraten (vgl. Tabelle 1). Von 191 Sitzen (25,4 %) sind sie auf 146 zurückgefallen (19,4 %, -45 Sitze). Dabei konnten die SPE-Parteien neben einigen deutlichen Verlusten in früheren Hochburgen wie Deutschland (SPD), Großbritannien (Labour), Italien (PD) oder Frankreich (PS) auch in einigen EU-Staaten wieder zulegen. So stellt die spanische PSOE mittlerweile die größte Gruppe in der S&D-Fraktion, in den Niederlanden konnte die PvdA mit Hilfe des europäischen Spitzenkandidaten Frans Timmermans überraschend stärkste Kraft werden. Nach jüngsten Wahlen konnten zudem sozialdemokratische Parteien Regierungen in Spanien, Finnland und (voraussichtlich) Dänemark gewinnen, sodass die europäischen Sozialdemokraten ihren Negativtrend insgesamt – auf niedrigem Level – stoppen konnten.

Es bleibt aber festzuhalten: Gemeinsam stellen EVP und S&D nur 43,8 % der Abgeordneten und sind daher weit von ihrer früheren absoluten Mehrheit entfernt. Für alle Entscheidungen im Europäischen Parlament ist daher nunmehr die Zusammenarbeit von mindestens drei Fraktionen erforderlich.

Von dieser Situation können vor allem zwei europäische Parteien profitieren: Die liberale ALDE und/oder die europäischen Grünen. Die ALDE war schon in der letzten Legislaturperiode in einer Position zwischen Königsmacher und fünftem Rad am Wagen der großen Koalition. Als viertgrößte Fraktion mit 67 Abgeordneten konnte sie etwa in Personalentscheidungen von EVP und S&D übergangen werden, sich in Sachfragen aber immer wieder als Zünglein an der Waage zwischen den beiden großen Fraktionen durchsetzen. So konnte sie 88 % der Abstimmungen im Europäischen Parlament gewinnen, das ist mehr als die EVP und die S&D. Im neuen Parlament ist die ALDE der erste große Gewinner und konnte ihre Sitze auf 113 (15,1 %) erweitern. Sie ist damit klar zur drittstärksten Kraft aufgestiegen. Dies verdankt die ALDE vor allem einer Zusammenarbeit mit der LREM-Partei des französischen Präsidenten Macrons, dessen Gruppe sich nach langem Zögern der ALDE angeschlossen hat. Mitte Juni 2019 hat sich die Gruppe in „Renew Europe“ umbenannt und verhandelt noch über weitere Zuwächse. Durch die stärkere Präsenz im Europäischen Rat – gerade durch Macron – ist die ALDE/Renew Europe damit zu einem echten Machtfaktor in der europäischen Politik geworden.

Der zweite große Gewinner der Europawahl 2019 waren die Grünen, die im Europäischen Parlament gemeinsam mit regionalistischen Parteien in der Grünen/Europäische-Frei-Allianz-(EFA)-Fraktion sitzen. Sie konnten ihren Sitzanteil von 50 auf 78 Abgeordnete (10,4 %) steigern und sind aktuell noch vor den EU-Skeptikern viert-stärkste Kraft. Die Zuwächse der Grünen beschränken sich aber weitgehend auf West- und Nordeuropa, allein deutsche Abgeordnete der Grünen und drei kleinerer Parteien (ÖDP, Die Partei, Piraten) stellen gemeinsam 25 der 78 Abgeordneten der Grünen/EFA-Fraktion. Anders als die ALDE-Parteien führen grüne Parteien (bis dato) in keinem EU-Staat die Regierung an, sodass die europäischen Grünen nicht direkt im Europäischen Rat vertreten sind. Sie haben daher vor allem einen gestiegenen Einfluss auf Sachfragen im Europäischen Parlament, Renew Europe dürfte aber eher zum dritten Machtfaktor auf europäischer Ebene aufsteigen als die Grünen. Die Europäische Linke (GUE/NGL-Fraktion) hat von 52 auf 41 Sitze etwa ein Fünftel ihrer Abgeordneten verloren und wird für die Machtbalance im Europäischen Parlament voraussichtlich keine Rolle spielen.

(K)ein Siegeszug der EU-Gegner

Stark im Fokus im Vorfeld der Wahlen waren EU-skeptische Gruppierungen. Nicht zuletzt Stephen Bannon, früherer Berater von US-Präsident Trump, machte Schlagzeilen mit seiner Ankündigung, EU-skeptische Parteien vereinen und zur stärksten Fraktion im Europäischen Parlament machen zu wollen. Dieses Ziel ist klar verfehlt worden. Dennoch gibt es zwei unterschiedliche Perspektiven, die Erfolge EU-skeptischer Parteien bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 zu betrachten:

  • Auf der einen Seite ist der große Siegeszug ausgeblieben. Schon in der ablaufenden Legislaturperiode konnten EU-skeptische Parteien 20,6 % der Sitze hinter sich vereinen. Aber sie waren in drei Fraktionen gespalten: Der moderat EU-skeptischen Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), die zwar weitere EU-Integration ablehnen, aber etwa am Binnenmarkt festhalten wollen, der Fraktion Europa der Freiheit und Direkten Demokratie (EFDD), angeführt von der UK Independence Party von Nigel Farage und der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung, sowie zuletzt die nationalistische Fraktion Europa der Nationen und Freiheit (ENF) um die französische Rassemblement Nationale (früher: Front National) von Marine Le Pen und die italienische Lega von Matteo Salvini. Vor der Wahl war das erklärte Ziel etwa von Salvini, diese verschiedenen Strömungen zu vereinen und auch noch Parteien wie die Fidesz von Viktor Orban aus der EVP für sich zu gewinnen. Nach der Wahl hingegen ist beides ausgeblieben: Zum einen blieben die Zugewinne von EU-skeptischen Parteien insgesamt moderat. Die italienische Lega ausgenommen konnten viele EU-skeptische Parteien ihre Sitze im Vergleich zu 2014 nicht substanziell vergrößern, gemeinsam kommen sie nunmehr auf 24 % der Sitze. Vor allem ist es ihnen aber bisher nicht gelungen, eine gemeinsame Fraktion aufzubauen. Zu unterschiedlich sind die Positionen etwa in Bezug auf die Zukunft der EU, Migrationspolitik oder gegenüber Russland. So gibt es auch weiterhin mindestens zwei EU-skeptische Fraktionen, den EKR sowie die neu gegründete Fraktion Identität und Demokratie (ID), der Nachfolger der ENF. Die neue „Brexit Party“ von Nigel Farage und die italienische Fünf-Sterne-Bewegung, zwei der größten nationalen Gruppen im Europäischen Parlament, haben noch keine Fraktion gewählt, sodass sich die Zusammensetzung noch ändern kann. Die EFDD hat sich vorerst aufgelöst. In der aktuellen Zusammensetzung wäre die ID mit 73 Abgeordneten fünftgrößte Fraktion knapp hinter den Grünen/EFA, die EKR mit 63 Abgeordneten noch kleiner. Den Ton im Europäischen Parlament werden daher weiterhin die vier großen pro-europäischen Fraktionen angeben.
  • Auf der anderen Seite waren EU-skeptische Parteien aber in vier der sechs größten EU-Staaten jeweils stärkste Kraft – in Italien (Lega, 34,3 %), in Frankreich (RN, 23,3 %), in Großbritannien (The Brexit Party, 30,7 %) und in Polen (PiS, 45,4 %), wobei letztere deutlich moderater als die ersten drei ist. Insbesondere in zentralen EU-Staaten werden EU-skeptische Parteien also nationale Politik stark mitbestimmen. Hinzukommt, dass innerhalb des EU-skeptischen Spektrums eine Verschiebung hin zu den Extremen stattgefunden hat. Die moderatere EKR-Fraktion, die in der Vergangenheit in Sachfragen konstruktiv im Europäischen Parlament mitgearbeitet hat, musste Einbußen hinnehmen, während die fundamental EU-kritischen Parteien in der ENF bzw. jetzt ID-Fraktion an Sitzen und Einfluss gewonnen hat.

Sonderfall Großbritannien und die Auswirkungen des Brexits

Ein Sonderfall stellt bei den Wahlen und auch der weiteren Einschätzung der Sitzverteilung im Europäischen Parlament der Brexit dar. Nach zweifacher Verlängerung ist der britische Austritt aus der EU aktuell für den 31. Oktober 2019 geplant. Bis dahin bleibt Großbritannien Mitglied der EU mit allen Rechten und Pflichten. Fast drei Jahre nach dem ursprünglichen Brexit-Votum hat sich das Land verpflichtet, als Teil der Einigung über die Verlängerung, im Mai 2019 die Wahlen zum Europäischen Parlament durchzuführen, auch wenn die gewählten Abgeordneten potenziell nur wenige Monate im Europäischen Parlament sitzen werden. Nach angekündigtem Rücktritt von Theresa May als Premierministerin und der fortgesetzten Blockade im britischen Parlament sind weiterhin alle Optionen offen – ein Austritt mit Abkommen im Oktober, ein ungeordneter No-Deal-Brexit oder weitere Verlängerung(en).

Wie für die EU insgesamt bedeutet diese Situation auch für das Europäische Parlament zusätzliche Unsicherheit. Sobald Großbritannien die EU verlässt – ob mit oder ohne Abkommen – müssen auch die britischen Abgeordneten das Europäische Parlament verlassen. Hinzu kommt, dass die 73 britischen Sitze mit Aussicht auf den geplanten Brexit im März 2019 bereits zum Teil weiter verteilt wurden. 27 Sitze wurden auf verschiedene Mitgliedstaaten verteilt, um die Repräsentanz im Europäischen Parlament zu verbessern, 46 sollen freigehalten werden. Diese 27 Abgeordnete wurden nun mitgewählt, werden ihren Sitz aber erst bekommen, sobald bzw. falls Großbritannien die EU verlässt. Das Parlament insgesamt würde damit von 751 auf 705 Abgeordnete verkleinert.

Die damit verbundenen Verschiebungen werden die Machtverhältnisse im Europäischen Parlament zwar nicht entscheidend, aber dennoch spürbar beeinflussen. Größter relativer Gewinner eines Brexits wäre die EVP, da sie seit Austritt der britischen Konservativen 2009 keine Partei mehr in Großbritannien hat; ihr Sitzanteil würde von 24,4 % auf 26,5 % steigen. Die S&D könnte ihre Stellung ungefähr halten; auch nach dem Brexit verfehlen beide Fraktionen eine gemeinsame Mehrheit klar. Renew Europe (-11 Sitze) und die Grünen/EFA (-6 Sitze) müssen hingegen Einbußen hinnehmen. Größte Auswirkungen gibt es im EU-skeptischen Spektrum, in dem die aktuell noch unabhängige Brexit Party (29 Sitze) wegfällt, während die fundamental EU-skeptische ID durch die Nachbesetzungen voraussichtlich noch einmal vier Abgeordnete gewinnt und an den Grünen vorbei zieht. Insgesamt wäre das EU-skeptische Spektrum aber durch den Wegfall der Brexit Party nach dem Brexit mit 21,8 % wieder fast auf dem Niveau der letzten Legislaturperiode.

Bleibt es beim Brexit zum 31. Oktober 2019, so werden die britischen Abgeordneten nur begrenzten Einfluss nehmen können. In dieser Zeit stehen „nur“ die Wahl des Kommissionspräsidenten bzw. der -präsidentin und der EU-Kommission an. Sollte der Brexit aber noch einmal verschoben werden, werden die britischen Abgeordneten auch wieder an wichtigen Sach- und Haushaltsentscheidungen beteiligt sein.

Drei Machtkämpfe über die zukünftige EU

Aus dieser Gemengelage ergibt sich ein komplexes Bild über die zukünftige politische Ausrichtung der EU. Blickt man auf die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament, so ist zunächst klar, dass es keine EU-skeptische Mehrheit gibt. Aber nicht nur die informelle große Koalition von EVP und S&D hat ihre Mehrheit verloren, auch links und rechts der Mitte ist keine eigene Mehrheit möglich, selbst falls links der Mitte S&D, Renew Europe, Grüne/EFA und sogar Europäische Linke (GUE/NGL) zusammenarbeiten würden oder die EVP mit den EU-skeptischen Parteien rechts von ihr gemeinsam abstimmen würde. Eine stabile Mehrheit erfordert daher eine Zusammenarbeit von mindestens drei Fraktionen, am wahrscheinlichsten wieder EVP und S&D plus Renew Europe und/oder Grüne/EFA. Erstmals in der Entwicklung der EU haben diese vier Parteien im Juni 2019 eine Art Koalitionsgespräch begonnen, um eine politische Basis für eine gemeinsame Mehrheit auszuhandeln.

Der erste Test für diese Zusammenarbeit wird die Besetzung der EU-Führungspositionen über den Sommer 2019 sein. Zu Beginn des neuen institutionellen Zyklus der EU müssen gleich fünf Positionen neu besetzt werden: Die Präsidentin bzw. der Präsident von EU-Kommission, Europäischem Rat, Europäischer Zentralbank, Europäischem Parlament sowie der oder die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Um die Besetzung dieser Posten ranken sich gleich drei parallele Machtkämpfe in der EU:

Der erste Machtkampf findet zwischen den Parteien im Europäischen Parlament statt, wer von ihnen eine Mehrheit organisieren kann. 2014 war die Situation noch klar: Die EVP war stärkste Kraft, und gemeinsam mit der S&D hatte sie eine absolute Mehrheit. Nun verhandeln die vier größten Fraktionen, EVP, S&D, Renew Europe und Grüne/EFA über ein gemeinsames Programm. Die EVP ist dabei zwar wieder die größte Fraktion, gemeinsam haben die anderen pro-europäischen Fraktionen links der Mitte aber mehr Abgeordnete. Hier ist noch völlig offen, ob man sich auch auf ein gemeinsames Programm oder ausschließlich auf einen bzw. eine gemeinsame Kandidatin für das Amt des Kommissionspräsidenten einigt, und dann je nach Sachfrage wechselnde Mehrheiten verhandelt werden.

Der zweite Machtkampf findet zwischen Parlament und den Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat statt. Gemäß Art. 17 des EU-Vertrags wird der Kommissionspräsident bzw. die Kommissionspräsidentin zwar vom Parlament gewählt, allerdings auf Vorschlag des Europäischen Rats. Dieser muss dabei das Ergebnis der Europawahl berücksichtigen. Die europäischen Parteien haben 2014 erstmals eigene Spitzenkandidaten aufgestellt und sich das Europäische Parlament mit der Sichtweise durchgesetzt, dass der Spitzenkandidat der dann größten Fraktion, Jean-Claude Juncker von der EVP, Kommissionspräsident werden sollte. Bereits im Vorfeld der Wahlen haben die Staats- und Regierungschefs aber deutlich gemacht, dass es für 2019 keinen „Automatismus“ gäbe, einen der Spitzenkandidaten zu nominieren. Angesichts der unklaren Mehrheitsverhältnisse, bei der keine Partei für sich in Anspruch nehmen kann, die Wahlen gewonnen zu haben, entfaltet sich nun auch ein die Institutionen übergreifender Machtkampf. So lehnt beispielsweise der französische Präsident Macron das Spitzenkandidatenprinzip ab, und hat für die Ablehnung auch die erstarkte Renew-Europe-Fraktion gewonnen. Die EVP hingegen fordert das Amt des Kommissionspräsidenten für ihren Spitzenkandidaten Manfred Weber, und wird dabei unter anderem von der deutschen Bundeskanzlerin Merkel unterstützt.

Der dritte Machtkampf findet zwischen den Mitgliedstaaten selbst statt, die jeweils daran interessiert sind, ihrem Einfluss möglichst umfassend Geltung zu verschaffen. So fordern beispielsweise die Visegrád-Staaten, dass mindestens eine der Führungspositionen an eine Person aus Mittel- und Osteuropa gehen sollte, während zwischen Deutschland und Frankreich nicht nur die Besetzung der Kommissionsspitze, sondern auch die Nachfolge von EZB-Präsident Mario Draghi strittig ist.

Ausblick

Die Europawahlen haben das politische Gefüge in der EU nachhaltig verändert und ihre Auswirkungen werden noch lange in der Politik nachhallen. Die beiden großen europäischen Parteienfamilien haben ihre absolute Mehrheit verloren. Dafür gibt es aber zumindest übergreifend keinen Siegeszug der EU-Skeptiker, sondern ein fragmentierteres Europäisches Parlament, in dem Liberale und Grüne an der Mehrheitsbildung beteiligt werden müssen. Das nächste EU-Führungsteam wird daher auch partei-politisch bunter und die Verhandlungen über die europäische Gesetzgebung noch komplexer werden.

Hat die Europäische Union jetzt eine echte Volksvertretung?

Die Wahl zum Europäischen Parlament der letzten Mai-Woche 2019 hat eine Reihe von Überraschungen gebracht. Die erste, vielleicht wichtigste Überraschung war, dass es in Europa eine „stille Mehrheit“ gibt, eine pro-europäische. Meinungsumfragen haben seit einiger Zeit gezeigt, dass das Vertrauen in die EU und ihre Institutionen in den letzten Jahren stark angestiegen ist und eine historisch hohen Stand erreicht hat. Dies musste jedoch durch Wahlen bestätigt werden. Die Wahlbeteiligung ist um fast ein Fünftel gestiegen und liegt europaweit bei 50 %; in Deutschland sogar leicht über 60 %. Dies ist immer noch weniger als für die meisten nationalen Wahlen, aber mehr als die Beteiligung an den (Zwischen-)Wahlen zum US-amerikanischen Parlament (Congress).

Wahlen zum Europäischen Parlament galten früher als Wahlen zweiter Ordnung (nationale Wahlen als die erster Ordnung). Vielleicht könnte man jetzt die Wahlen zum Europäischen Parlament als „1,5. Ordnung“ betrachten. Die Verwendung der Mehrzahl „Wahlen“ ist weiterhin angemessen, da die Wahlkämpfe in den verschiedenen Mitgliedsländern ganz unterschiedlich verlaufen sind und die Ergebnisse weitestgehend vom nationalen Kontext bestimmt wurden. Dies sollte nicht überraschen. Es bestätigt das alte Sprichwort: „Alle Politik ist lokal“. Die „europäische Frage“ fehlte jedoch nicht ganz. In vielen Ländern spielten europäische Themen eine wichtige Rolle und relevante tagespolitische Themen wurden zunehmend in einen europäischen Kontext gestellt. Dies gilt insbesondere für Umweltfragen und Migration.

Eine zweite Überraschung ist, dass die verschiedenen populistischen und „Euro-skeptischen“ Parteien nicht wesentlich an Terrain gewonnen haben. Mit einer Ausnahme (Italien) haben sie in vielen Fällen sehr viel weniger Stimmen erreicht, als ursprünglich erwartet. Dies gilt für Deutschland, wo die AfD nicht zulegen konnte, und auch für Frankreich, wo Le Pen zwar knapp mehr Stimmen als Präsident Macron, aber immer noch weniger als sie bei der letzten Europawahl von 2014 erreichen konnte.

Das pro-europäische Zentrum hat also seine Position in etwa gehalten; es ist aber zunehmend zersplittert. Im Europäischen Parlament ist nunmehr eine Koalition von mindestens drei Parteien für eine Mehrheit erforderlich. Dies spiegelt die Ergebnisse auf nationaler Ebene gut wider: In vielen Ländern, so auch in Deutschland, erhielten die beiden größten Parteien zusammen weit weniger als die Hälfte der Stimmen.

Innerhalb des Europäischen Parlaments wird die derzeitige „informelle“ große Koalition der „pro-europäischen“ Parteien weiterhin dominieren. Sie verfügt immer noch über ca. zwei Drittel aller Abgeordneten. Dies bedeutet Stabilität, aber auch eine Gefahr. Wie bei jeder „großen Koalition“ besteht das Risiko darin, dass die Wähler den Eindruck haben, dass sich die Politik, unabhängig von der Partei, für die sie stimmen, nicht ändert.

Ein drittes wichtiges, aber vielleicht weniger überraschendes Ergebnis ist, dass die entscheidende Trennlinie in den meisten Ländern nicht mehr zwischen rechts und links verläuft, sondern vielmehr beim Thema Migration und Einwanderung. Dies ist ein hoch emotionales Thema, das die EU in eine schwierige Situation bringt. Generell steht die europäische Integration für offene Grenzen, was es den Pro-Europäern instinktiv erschwert, Zäune zu errichten. Aber genau dies scheint die Bevölkerung in einigen Ländern zu fordern.

Europäische Identität

Hier scheint sich im Ansatz eine „europäische Identität“ zu entwickeln. Es ist in erster Linie die Einwanderung von außerhalb der EU, also die Flüchtlinge aus der arabischen oder islamischen Welt, gegen die sich das Unbehagen in der Bevölkerung richtet. Das „wir“ gegen „sie“ ist somit implizit europäisiert worden. Es bedeutet zunehmend, „wir Europäer“, gegen „sie, die Nicht-Europäer“. Nur wenige der rechten Parteien spielen noch die Karte: „Wir, aus diesem Land (Deutsche, Franzosen)“ gegen „sie, alle anderen“. Die erfolgreicheren Populisten setzen sich jetzt implizit für ein „stärkeres Europa“ ein. Für sie bedeutet dies ein Europa mit Zäunen, aber es ist interessant, dass sie den Zaun im Großen und Ganzen an der europäischen Außengrenze und nicht an den nationalen Grenzen errichten wollen. Großbritannien stellt hier eine Ausnahme dar. Es scheint das einzige wichtige Land zu sein, in dem die EU-Binnenwanderung nicht als anders und weitaus akzeptabler angesehen wird als die Einwanderung aus Drittländern. Es bleibt aber ein grundsätzliches Problem, das besonders in Deutschland oft als ein Hindernis auf dem Weg des Europäischen Parlaments zu einer vollwertigen Vertretung des europäischen Volkes angesehen wird.

Degressive Proportionalität

Die Zahl der Sitze im Europäischen Parlament, die in jedem Mitgliedstaat zur Wahl stehen, folgt dem Grundsatz der „degressiven Proportionalität“. Dieses Oxymoron bedeutet, dass die Zahl der Personen, die einen Abgeordneten wählen können, in den kleineren Mitgliedstaaten geringer ist. Für die großen Mitgliedstaaten wie Deutschland, Italien oder Frankreich beträgt das Verhältnis von Abgeordneten zur Bevölkerung etwa 1 zu 800 000. Das andere Extrem sind die kleinsten Mitgliedstaaten mit weniger als einer halben Million Einwohnern und immer noch 6 Abgeordneten, was dazu führt, dass weniger als 100 000 Personen einen Abgeordneten wählen. Eine Stimme in einem kleinen Land kann also etwa zehnmal so viel wiegen wie eine Stimme in einem großen Land. Besonders das Bundesverfassungsgericht hat in einem wichtigen Urteil die demokratische Legitimierung des Europäischen Parlaments deswegen infrage gestellt.

Eine erste Frage, die man stellen kann, ist nach den konkreten Auswirkungen dieser „degressiven Proportionalität“. Sie bedeutet, dass in kleineren Mitgliedstaaten erfolgreichere Parteien im Europäischen Parlament tendenziell überrepräsentiert sind: Sie werden mehr Abgeordnete haben, als ihr Anteil an der Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen rechtfertigen würde. Hat dieser Mechanismus die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments maßgeblich beeinflusst?

Für eine Antwort kann man die Zahl der Abgeordneten, welche die großen politischen Parteien(-Familien) erreicht haben, mit der Zahl der Abgeordneten vergleichen, die sie erhalten hätten, wenn es nur europaweite Listen gegeben hätte. In diesem Fall hätte jeder Wähler das gleiche Gewicht, unabhängig davon, ob er oder sie in einem kleinen oder großen Land wohnt. Die Abbildung 1a zeigt für jede der wichtigsten Parteienfamilien oder Fraktionen das Gewicht im Europäischen Parlament (d. h. der prozentuale Anteil der Abgeordneten dieser Gruppe im Verhältnis zur Gesamtzahl von 751) sowie den Anteil an der Gesamtzahl der europaweit abgegebenen Stimmen. In Abbildung 1b ist dann wiederum für die größeren Fraktionen nur die Differenz zwischen der tatsächlichen Zahl der Abgeordneten und der Zuteilung dargestellt, die sich aus dem Anteil an der Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen ergeben hätte.

Abbildung 1
Wahlen zum Europäischen Parlament 2019
Abbildung 1a
Das Gewicht der großen Fraktionen im Europäischen Parlament: Tatsächliche und proportionale Verteilung
Das Gewicht der großen Fraktionen im Europäischen Parlament: Tatsächliche und proportionale Verteilung

EVP = Europäische Volkspartei, S&D = Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, ECR = Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer, ALDE+ = Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, GUE/NGL = Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken, Grüne/EFA = Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz, EFDD = Europa der Freiheit und der direkten Demokratie, EANP = Europäische Allianz der Völker und Nationen, NI = Fraktionslose.

Quelle: eigene Berechnungen auf Grundlage der amtlichen Wahlergebnisse (Europäisches Parlament).

Abbildung 1b
Tatsächliche und proportionale Sitzverteilung
Tatsächliche und proportionale Sitzverteilung

Die erste Abbildung zeigt nur kleinere Veränderungen bei den großen politischen Parteien. Die EVP ist die Partei mit der größten Zahl von Sitzen, 181 gegenüber 160 für die nächstgrößere Partei, die Sozialisten (S&D). In Bezug auf die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen ist der Abstand jedoch sehr gering. Die EVP (bzw. die der EVP angeschlossenen Paritäten) erhielt rund 23 % aller Stimmen, gegenüber 21,5 % für die S&D. Wäre die Zahl der Abgeordneten proportional zu den gesamten Wählerstimmen, würde der Unterschied zwischen der EVP und der S & D auf weniger als 10 Abgeordnete schrumpfen. Dies kommt daher, dass die EVP in vielen kleinen Ländern stärker ist, während die S&D in einigen wenigen großen Ländern (Spanien, Italien, Großbritannien) einen großen Teil ihrer Stimmen erhielt. Wenn das ungarische Mitglied der EVP (Fidesz) die Fraktion in Straßburg verlassen würde, würde die EVP über 10 Mitglieder des Europäischen Parlaments (MdEP) verlieren, aber nur wenige Wählerstimmen, da Ungarn ein kleines Land ist. Die Zahl der Abgeordneten einer „EVP ohne Fidesz“ würde ihren Anteil an der Volksabstimmung besser widerspiegeln.

Die Diskrepanz zwischen den erhaltenen Stimmen und der Zahl der Abgeordneten ist besonders groß für die nächsten beiden wichtigen Fraktionen, nämlich die Liberalen (ALDE) und die Grünen (Greens): Die ersteren haben viel mehr Abgeordnete in Straßburg, aber weniger Stimmen. Die genaue Zusammensetzung der Faktionen ist noch nicht vollständig geklärt, doch ALDE zählt derzeit etwa 110 Abgeordnete, gegenüber nur etwa 70 für die Grünen. Bei der Gesamtzahl der Stimmen ist das Verhältnis umgekehrt: Die mit ALDE verbundenen Parteien erhielten europaweit nur etwa 12,5 Mio. Stimmen, gegenüber fast 20 Mio. für die Grünen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Grünen in kleineren Ländern tendenziell schwächer sind. Sie haben in 13 (meist kleinen Mitgliedstaaten) keine Sitze erhalten, und ein großer Teil ihrer Stimmen kam von ihrem großen Erfolg in Deutschland, wo für einen Abgeordneten viele Stimmen nötig sind. Die Liberalen dagegen erzielten Sitze in fast allen (25) Mitgliedstaaten. Wenn es europäische Listen gäbe, hätten die Grünen mehr Abgeordnete (88) als die Liberalen (56).

Die große Diskrepanz zwischen der relativen Stärke in Bezug auf die Gesamtstimmen und den Abgeordneten im Europäischen Parlament zwischen den Grünen und den Liberalen ist auch auf die sehr unterschiedliche Wahlbeteiligung in verschiedenen Ländern zurückzuführen. Bei geringer Beteiligung sind weniger Stimmen pro MdEP erforderlich. Die geringe Zahl der Europa-Abgeordneten der Grünen ist auch darauf zurückzuführen, dass die Grünen die meisten Stimmen in einem großen Land mit hoher Wahlbeteiligung (Deutschland) erhalten haben. Im Gegensatz dazu erzielten die Liberalen in einigen kleinen Ländern mit geringer Wahlbeteiligung gute Ergebnisse.

Demokratische Legitimität des Europäischen Parlaments

Die Abweichung von dem Prinzip „ein Mann, eine Stimme“ hat also einen gewissen Einfluss auf die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments gehabt. Dies impliziert aber nicht sofort, dass das Europäische Parlament nicht demokratisch legitimiert ist. Das Prinzip „degressive Proportionalität“ beruht auf der doppelten Legitimität der EU, also sowohl einer Union gleichermaßen souveräner Staaten als auch einer Union der Völker. Diese doppelte politische Grundlage spiegelt sich auch direkt in den Abstimmungsregeln des Europäischen Rates wider, die eine doppelte Mehrheit in Bezug auf die Zahl der Mitgliedstaaten und auf die Bevölkerungszahl erfordern.

Die entscheidende Frage ist aber nicht die theoretische Grundlage der demokratischen Legitimität des Europäischen Parlaments, sondern die gelebte Realität. In vielen Ländern gibt es Wahlsysteme, die dazu führen, dass die Zusammensetzung des Parlaments nicht proportional die Stimmenanteile widerspiegelt. Wenn dies aber allgemein akzeptiert wird, ist das System trotzdem legitim. In den USA haben alle, auch die kleinsten Staaten, zwei Sitze im Senat. Trotzdem wird dessen demokratische Legitimität nicht infrage gestellt.

In Europa hat die Sorge um den Schutz von Minderheiten zu diesem System mit einer Überrepräsentation der Wähler in kleinen Ländern geführt. Wenn dies allgemein als ein wesentlicher Teil der EU akzeptiert wird, auch wenn es manchmal zu Machtverschiebungen führt, sollte man das Europäische Parlament durchaus als demokratisch legitimiert ansehen.

Eine Demokratie lebt davon, dass die Verlierer den Machtverlust hinnehmen und das System als Ganzes nicht infrage stellen. Der eigentliche Test der demokratischen Legitimität ist also nicht die Einhaltung des Prinzips „ein Mann, eine Stimme“, sondern die politische Akzeptanz des Ergebnisses. Es wird sich im täglichen politischen Kampf der nächsten Zeit zeigen, ob die Verteilung der Abgeordneten im Europäischen Parlament so allgemein akzeptiert wird. Wenn dies geschieht, und danach sieht es vorläufig aus, wäre das Europäische Parlament auf dem Weg, die wahre europäische Volksvertretung zu werden.

Stärkung der Handlungsfähigkeit Europas: Elemente einer fortschrittlichen Agenda nach den Wahlen 2019

Die Befürchtungen vor der Europawahl 2019 waren groß. Populisten, vor allem Rechtsnationalisten sind auf dem Vormarsch, das europäische Integrationsprojekt ist in Gefahr. Eine Allianz von rechtsgerichteten Kräften, vom Ex-Trump-Berater Steve Bannon mit viel amerikanischem Geld geschmiedet, könnte das Europäische Parlament lähmen. Diese Befürchtungen haben sich nach Schließung der letzten Wahllokale am 26. Mai 2019 nicht bewahrheitet. Gleichwohl ist die europäische Politik komplexer und unübersichtlicher geworden. Zurzeit werden die wichtigsten Posten in den europäischen Institutionen – Europäisches Parlament, Europäische Kommission, Europäischer Rat und Europäische Zentralbank (EZB) – noch verhandelt, mit unklarem Ausgang. Es bestehen auch noch einige Unklarheiten bei der Fraktionsbildung im Europäischen Parlament. Aber was können wir wenige Tage nach der Wahl über die Perspektiven für die europäische Integration im kommenden Jahrzehnt schon jetzt sagen? Welche institutionellen Erneuerungen und welche Ansätze im Bereich Wirtschafts- und Sozialpolitik könnten die europäische Integration im Dienst einer fortschrittlichen Politik stärken und damit die (rechts-)populistische Gefahr auch längerfristig abwehren? Wie kann vor dem Hintergrund der Wahlergebnisse die europäische Handlungsfähigkeit gesteigert werden?

Europawahl 2019

Um ein zugegebenermaßen grobes Raster für die Einordnung der Wahlergebnisse zu erhalten, werden im Folgenden die politischen Kräfte zusammengefasst, die man mit dem Etikett „fortschrittlicher Internationalismus“ versehen kann. Damit ist eine Politik gemeint, die für eine stärkere politische Integration und insbesondere für die Übertragung politischer Entscheidungsbefugnisse an inter- und supranationale Gremien eintritt, und zwar mit dem Ziel, durch Regulierung Marktergebnisse effektiver zu korrigieren als dies in einer Welt der immer engeren internationalen Wirtschaftsbeziehungen und damit Standortkonkurrenz der Fall wäre. Hierzu zählen im Europäischen Parlament eindeutig die Sozialdemokraten und die Grünen. Auch die meisten Parteien der „Fraktion der Europäischen Volkspartei“ (EVP) und der „Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa“ (ALDE) stehen in dieser Tradition. Es gibt bekannte Ausnahmen wie die ungarische Fidesz, aber auch Parteien, die durch Verfechtung stark wirtschaftsliberaler Ansätze oder integrationsskeptischer Positionen nicht Teil einer entsprechenden Koalition sein können. In der Linksfraktion „Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke“ (GUE/NGL) stehen einige Parteien sehr nahe an den traditionellen, integrationsorientierten Positionen der Sozialdemokraten, während andere grundlegende antikapitalistische Positionen vertreten und/oder der europäischen Integration ablehnend gegenüberstehen. Euroskeptische und anti-europäische Parteien der Rechten lehnen natürlich den internationalistisch-progressiven Ansatz rundweg ab.

Durch diese Linse betrachtet, gab es bei den Europawahlen zwar erhebliche Verluste für die Sozialdemokraten, aber deutliche Gewinne für die Grünen, die andere eindeutig progressiv-internationalistische Fraktion. Die EVP verlor erheblich, aber die Liberalen gewannen, insbesondere durch die Aufnahme von Macrons „La République en Marche“ (LREM) und durch Zugewinne der britischen Liberaldemokraten. Beide haben eine klare föderalistische Ausrichtung und Macron gehört zu denen, die am lautesten nach einem Europa mit einer „capacité d‘agir“ rufen. Die Parteien der linken Gruppe verloren leicht, während es die rechten Euro­skeptiker und Anti-Europäer – mit der wichtigen Ausnahme von Salvinis Lega in Italien – versäumten, ihre Position gegenüber 2014 merklich zu verbessern. Die deutlich höhere Wahlbeteiligung – um rund 9 Prozentpunkte – ist ein Zeichen gestiegenen Bewusstseins der Wähler und Wählerinnen für die Bedeutung der europäischen Politik bei der Suche nach Antworten auf die drängenden Probleme unserer Zeit. Dieses Vertrauen darf nicht enttäuscht werden.

Denn Gefahren lauern durchaus. Nach über sechs Jahren wirtschaftlicher Erholung ist in weiten Teilen Europas die Wirtschafts- und Beschäftigungslage derzeit günstig. Dies hat vielerorts das Schwert der Antikapitalisten und Nationalisten abgestumpft, die von hoher Arbeitslosigkeit, Austerität und der Stimmung gegen Immigranten profitieren. Ein erneuter allgemeiner Abschwung oder eine Wirtschaftskrise, z. B. in Italien, könnte aber leicht die wirtschaftspolitischen Abwehrkräfte Europas überfordern. Zudem lassen sich unter der Oberfläche der gerade diskutierten Fraktionen des Europäischen Parlaments eine Reihe beunruhigender Trends erkennen. Innerhalb der christdemokratischen „Familie“ hat das relative Gewicht derjenigen zugenommen, die sich eindeutig hin zu euroskeptischen und nationalistischen Kräften wenden – allen voran Orbans Fidesz-Partei, aber auch beispielsweise die Österreichische Volkspartei (ÖVP). Wenn die Sozialdemokratie der „Kern“ des fortschrittlichen Internationalismus ist, dann gibt gleichzeitig ihr Schrumpfen Anlass zur Sorge, denn selbst eine parallele Zunahme von Grünen und (Sozial-)Liberalen führt dazu, dass die Koalitionsbildung komplexer wird. Und innerhalb der Sozialdemokratie fordern einige Parteien zunehmend einen größeren nationalen Spielraum, um die „vier Freiheiten“ (freier Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr) zu begrenzen und auf nationaler Ebene eine marktkorrigierende Politik zu betreiben.

Kurzfristig erforderlich ist es, die europäischen Spitzenämter mit qualifizierten Personen (beiderlei Geschlechts!) zu besetzen, die der neuen Komplexität im Europäischen Parlament gerecht werden und Spannungen mit dem Rat entschärfen. Die Macht des christ- und sozialdemokratischen Duopols ist jedenfalls gebrochen und die Liberalen und Grünen werden nicht mit leeren Händen aus diesem Prozess hervorgehen. Letztlich ist es nicht so wichtig, welche Posten genau Margrethe Vestager, Manfred Weber, Frans Timmermanns und andere bekommen, sondern wichtig ist das Gesamtergebnis. Und aus der hier eingenommenen Perspektive wird es nicht zuletzt entscheidend sein, inwieweit in der EVP und ALDE die Kräfte die Oberhand behalten, die zum „fortschrittlichen Internationalismus“ gerechnet werden können. Entsteht stattdessen von den Euroskeptikern und Populisten her eine Sogwirkung nach rechts, könnte es noch durchaus zu der vor der Wahl verbreitet befürchteten Lähmung der europäischen Integration kommen.

Elemente einer fortschrittlich-internationalistischen Agenda

Anschließend werden einige Politikfelder betrachtet, die besonders wichtig sind, wenn sich tatsächlich eine Koalition im Europäischen Parlament, in der neu zusammengesetzten EU-Kommission und im Rat herausbildet, die die europäische Integration vertiefen möchte. Diese Felder haben gemeinsam, dass die externen Effekte (Spillovers) von einem Mitgliedstaat auf die anderen überspringen können. Die Vorschläge können und sollten in einen umfassenden Ansatz (Narrativ) für eine „just transition“ (gerechter Übergang) zu einer dekarbonisierten Ökonomie eingefasst (geframt) werden.

Eine wichtige Vorbemerkung: Wenn die Economic Governance des Euroraums nicht reformiert wird, ist trotz einiger Fortschritte in den vergangenen Jahren die Gefahr einer erneuten schweren Krise keineswegs gebannt. Die Reformnotwendigkeiten und Alternativen wurden allerdings in dieser Zeitschrift und auch an anderer Stelle von mir intensiv debattiert.1 Daher soll an dieser Stelle auf eine Diskussion verzichtet werden. Es bleibt festzuhalten, dass ohne Lösungen für die bereits länger bekannten Probleme, wie z. B. prozyklisch wirkende fiskalische Regeln, fehlende sichere Staatsanleihen, Divergenzen und Boom-Bust-Zyklen, und die grundsätzliche Fragilität nationaler Bankensysteme, die nachfolgenden Erörterungen Makulatur zu bleiben drohen.

Vetopunkte reduzieren, auf externe Effekte konzentrieren

Die Aufteilung der Zuständigkeiten in der Multi-Level-Governance der EU ist das Ergebnis eines pfadabhängigen historischen Prozesses. Vorschläge für eine Umstrukturierung der Kompetenzen und insbesondere für Bereiche, in denen die EU-Ebene eine größere Rolle spielen sollte, sind jedoch in der Regel nicht systematisch, sondern stückweise und werden stark durch die Wahrnehmung der Akteure beeinflusst, in welche Richtung sich die Politik in den betreffenden Bereichen kurzfristig bewegt. Das führt lediglich zu einer Blockade, die eine stärkere europäische Handlungsfähigkeit verhindert. Diese erfordert, dass dort, aber nur dort, wo es einen klaren europäischen „Mehrwert“ gibt, die Vetorechte der Mitgliedstaaten (Einstimmigkeitserfordernis) aufgehoben oder niedrigere Schwellenwerte für Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit eingeführt werden sollten. Das entscheidende Kriterium hierbei sollte das Ausmaß der Policy-Spillovers zwischen den Ländern sein. Wenn die von der nationalen Politik getroffenen Entscheidungen keine oder nur geringe Auswirkungen auf andere Mitgliedstaaten haben, gibt es wenig Gründe, ihre Freiheit einzuschränken.

Der wohl wichtigste Einzelschritt in diesem Zusammenhang wäre die Abschaffung der im EU-Vertrag verankerten Einstimmigkeitsregel in der Steuerpolitik. Nationale Sozialpolitiken, öffentliche Dienstleistungen und Investitionen benötigen zuverlässige öffentliche Ressourcen über Steuern. Darüber hinaus beeinflusst die Struktur der nationalen Steuersysteme entscheidend die Verteilungsergebnisse. Die Mobilität von Kapital und hochqualifizierten Arbeitskräften in der EU führt zu einem Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten um diese Produktionsfaktoren, was unter anderem zu einem schnelleren Rückgang der Unternehmenssteuersätze innerhalb als außerhalb der EU geführt hat.2 Die Verringerung des schädlichen Steuerwettbewerbs wäre daher ein wichtiger Schritt, um die staatliche Handlungsfähigkeit zu stärken und gleichzeitig sicherzustellen, dass wohlhabende Individuen und Unternehmen ihren Anteil zahlen. Eine Abkehr von der Einstimmigkeit bei der Besteuerung würde es wesentlich vereinfachen, Steuerwettläufe nach unten zu verhindern, z. B. durch die Vereinbarung von Mindeststeuersätzen und die Erschließung neuer Steuerquellen. Die ausscheidende EU-Kommission hat jüngst Vorschläge unterbreitet, die Einstimmigkeit schrittweise zu überwinden,3 die prioritär von den neu besetzten europäischen Institutionen aufgegriffen werden müssen.

Ein zweites Beispiel sind die automatischen Stabilisatoren (die automatischen Erhöhungen der öffentlichen Ausgaben bzw. Rückgänge von Steuern und Sozialbeiträgen in einem Konjunkturabschwung und jeweils umgekehrt in einem Aufschwung). Da Nachfrageeffekte auf die Handelspartner (insbesondere innerhalb der Währungsunion) übergreifen, profitieren andere Länder von dem Stabilisierungseffekt. Deswegen sollten die Mitgliedstaaten Anreize erhalten, die Wirkkraft ihrer automatischen Stabilisatoren zu stärken, indem sie deren Werte beispielsweise auf ein vereinbartes Mindestmaß anheben. Dies könnte im Rahmen des Europäischen Semesters geschehen, wobei die Wahl und Gewichtung der politischen Maßnahmen im Ermessen der Mitgliedstaaten liegen.4

Für Politiken, bei denen die Spillovers nicht so stark ausgeprägt sind, eine Gruppe von Ländern sich aber in einem bestimmten Feld stärker integrieren möchte, sollte über eine Lockerung der restriktiven Bestimmungen bei der sogenannten „verstärkten Zusammenarbeit“ nachgedacht werden. Hierzu hat unter anderem die Spinelli-Gruppe konkrete Vorschläge gemacht.5 Da allerdings die Gefahr eines regulatorischen „Flickenteppichs“ besteht, sind diesem Weg der Binnendifferenzierung Grenzen gesetzt.

Spillovers als entscheidendes Kriterium zu bestimmen, bedeutet aber auch: Wenn es keine Hinweise auf grenzüberschreitende externe Effekte gibt, dann sollte die EU darauf verzichten, konkrete Politiken gegenüber den Mitgliedstaaten durchzusetzen. Das Monitoring und die länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters sind sehr umfassend, detailliert und präskriptiv. Sie sind auch letztendlich durchsetzbar, indem rechtliche Sanktionen verhängt werden, obwohl dies zumindest bisher eher eine theoretische Möglichkeit ist. Daraus folgt, dass die länderspezifischen Empfehlungen im Europäischen Semester thematisch enger gefasst sein und viel klarer zwischen losen Empfehlungen (z. B. auf der Grundlage von Benchmarkingübungen und gestützt auf akademische Forschung) und solchen, deren Einhaltung für die ordnungsgemäße Funktion der EU bzw. der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) wichtig sind, unterscheiden sollten.

Sozialer Dialog und Lohnentwicklung

Die Lohnentwicklung (insbesondere die Entwicklung der Lohnstückkosten) weist erhebliche grenzüberschreitende Spillovers auf. Im Euroraum ohne Wechselkurse sind die Lohnstückkosten ein wesentlicher Faktor für die binnen- und außenwirtschaftliche Entwicklung. Konkret beeinflussen sie über die Preise einerseits die Realzinsen und damit die interne Nachfrageentwicklung, andererseits die preisliche Wettbewerbsfähigkeit. Zugleich werden sie ihrerseits durch diese Größen beeinflusst. Wettbewerbsfähigkeit und Nachfrage bestimmen insbesondere gemeinsam und in gleicher Richtung die Leistungsbilanzpositionen und damit auch den Aufbau von Verschuldung. Diese Wirkungen und Wechselwirkungen bildeten den Kern der Krise im Euroraum.6

Diese Zusammenhänge legen „Investitionen“ in den Aufbau effektiver Tarifverhandlungsinstitutionen auf nationaler Ebene und auch zur Verbesserung der Lohnkoordination auf EWWU-Ebene nahe. Koll und Watt schlagen institutionelle Reformen für den Euroraum vor, die eine solche institutionelle Stärkung fördern würden, insbesondere durch die Entwicklung oder Ergänzung des bestehenden Makroökonomischen Dialogs (MED) auf EU-Ebene, in dem Spitzenvertreter des Rates für Wirtschaft und Finanzen (ECOFIN), der Eurogruppe, der Zentralbanken, der EU-Kommission und der Sozialpartner zusammenkommen.7 Im Ergebnis sollte ein Makroökonomischer Dialog sowohl für den Euroraum als auch in jedem Mitgliedstaat eingerichtet werden.

Eine strategische europäische Industriepolitik

In den letzten Jahren ist es zu einer Renaissance der akademischen Debatte über strategische Industriepolitik gekommen.8 Das zunehmende Bewusstsein, dass umfassende Klimaschutzmaßnahmen dringlich sind, hat der industriepolitischen Debatte zusätzlichen Auftrieb gegeben.9 Hier soll nicht im Einzelnen darauf eingegangen, sondern lediglich einige wesentliche Prinzipien festgehalten werden.

Bei der Industriepolitik geht es im Kern auch um externe Effekte, die von konkurrierenden Unternehmen im Marktprozess außer Acht gelassen und folglich nicht generiert werden. Der Staat übernimmt deshalb eine koordinierende Rolle. Eine europäische Handlungsebene wird hierbei gleichzeitig von zwei Seiten begründet. Einmal sollen Synergien genutzt sowie Verdopplung und Zersplitterung vermieden werden. Andererseits muss dafür Sorge getragen werden, dass industriepolitisch verbrämte staatliche Beihilfen keine negativen Auswirkungen auf Produzenten in anderen Mitgliedstaaten entfalten.

Wenn auch im Einzelfall über die genaue Auslegung diskutiert werden muss, bleiben die Beihilferegeln grundsätzlich ein wichtiger Pfeiler des Binnenmarkts und verhindern Subventionswettläufe. Kritischer zu sehen sind die kartellrechtlichen Aktivitäten der EU-Kommission. Angesichts der globalen Verflechtungen (und auch geopolitischen Herausforderungen)10 ist eine kurzfristige Orientierung an der Preissetzungsmacht auf nationalen Märkten jedenfalls nicht ausreichend. Um global zu bestehen, müssen in manchen Sektoren Zusammenschlüsse getätigt werden, um Skalenerträge zu verbessern. Schlüsseltechnologiefelder sollten europäisch „besetzt“ werden. Aber eine Industriepolitik sollte auch zu einer regional ausgewogeneren Entwicklung in ganz Europa beitragen.11 Hier sind jedoch schwierige Trade-offs zu berücksichtigen: Effizienz- und „First Mover Advantage“-Überlegungen werden eher dazu führen, dass bestehende Hochproduktivitätszentren bevorzugt werden (Agglomerationseffekte). Der soziale Dialog auf intersektoraler wie sektoraler Ebene ist auch hier ein wichtiges Element für eine zukunftsweisende Industriepolitik.

„Just transition“ als übergeordnetes Narrativ

Viele der in diesem Aufsatz angesprochenen Elemente ließen sich unter der Rubrik „just transition“ zu einem Gesamtpaket zusammenschweißen, das das Potenzial, das dem Projekt der europäischen Integration innewohnt, stärker zur Geltung bringt. Der Klimawandel ist gewissermaßen die „Mutter aller Spillovers“. Jede Tonne Treibhausgase, die emittiert wird, betrifft über die Auswirkungen auf das Klima alle Mitgliedstaaten.12 Es ist auch bekannt, dass eine Dekarbonisierung ohne sozialpolitische Flankierung, insbesondere durch die aus Effizienzsicht sehr zu empfehlende Erhöhung der Preise für fossile Brennstoffe, schwerwiegende soziale Auswirkungen hat. Bezieher niedriger Einkommen geben einen höheren Anteil davon für fossile Brennstoffe aus und haben weniger Spielraum als wohlhabendere Bürger, in technologische Lösungen zu investieren, um die Steuerlast zu umgehen.

Das gilt einmal innerhalb der Länder, wie die Proteste der Gilets Jaunes (Gelbwesten) in Frankreich sehr eindringlich deutlich gemacht haben. Aber auch zwischen den Mitgliedstaaten müssen Hindernisse beiseite geräumt werden, wenn ein effektiver Klimaschutz realisierbar sein soll. Der Energiemix, die Fortschritte bei der Dekarbonisierung und das Einkommensniveau sind zwischen den EU-Mitgliedstaten sehr unterschiedlich. Daher ist es dringend erforderlich, innerhalb und zwischen den Ländern eine Politik des „gerechten Übergangs“ zu entwickeln. Es ist ethisch geboten, aber auch aus pragmatischen Gründen notwendig, weil es ohne sie in demokratischen Staaten kaum überwindbare Widerstände gegen die notwendige Dekarbonisierungspolitik geben wird.

EU-weite CO2-Steuer

Eine EU-weite, schrittweise steigende CO2-Steuer ist notwendig. Sie erfasst die externen Effekte der CO2-Emissionen und beeinflusst über relative Preise das Verhalten jedes Wirtschaftsakteurs bei praktisch jeder Entscheidung. Ein vorab angekündigter Aufwärtspfad ermöglicht eine Anpassung und schafft gleichzeitig die notwendige Sicherheit für längerfristige Investitionsentscheidungen.

Die Einnahmen aus der CO2-Steuer sollten nach den Grundsätzen des „gerechten Übergangs“ umverteilt werden. So könnte beispielsweise die Hälfte der Einnahmen gleichmäßig pro Kopf an die Bürger zurückgegeben werden, was sowohl innerhalb als auch zwischen den Ländern eine Umverteilungswirkung hätte.13 Die andere Hälfte könnte zur Finanzierung europäischer öffentlicher Investitionen in die Emissionsminderung oder -anpassung, oder zur Finanzierung relevanter europäischer Forschung verwendet werden. Auch dieser Teil könnte eine mehr oder weniger ausgeprägte Umverteilungskomponente enthalten, die die regionale Konvergenz fördert.

Die Einführung auf EU-Ebene entkräftet stark das Gegenargument, dass sich die nationale Wettbewerbsfähigkeit verschlechtert. Zudem könnte (nur) eine CO2-Steuer auf EU-Ebene mit einer Grenzabgabe ausgestattet werden. Länder, die mit der EU Handel treiben, müssten nachweisen, dass sie vergleichbare Maßnahmen zur Internalisierung der CO2-Emissionen ergreifen, die sich auch in ihren Exportpreisen niederschlagen. Andernfalls wäre eine (WTO-kompatible) Grenzabgabe zu zahlen. Die Stringenz der Anforderung kann je nach Entwicklungsstand des jeweiligen Landes variieren. Dies würde die Flucht energieintensiver Produktion in außereuropäische Standorte vermeiden und einen großen Anreiz für Drittländer schaffen, ihre eigenen Klimaschutzmaßnahmen zu erhöhen. Die von den Importeuren gezahlten Abgaben würden zusätzliche öffentliche Einnahmen generieren.

Arbeitnehmer stärken

Gleichzeitig könnten Initiativen ergriffen werden, um den interprofessionellen und sektoralen sozialen Dialog zu stärken und die Stimme der Arbeitnehmer auf EU- und nationaler Ebene zu stärken. Dies hätte einen doppelten Nutzen für den Erfolg der Strategie. In instrumenteller Hinsicht würde sie dazu beitragen, die Umsetzung einer gerechten Dekarbonisierung zielführend zu gestalten. Und es würde den Bürgern und Arbeitnehmern das Gefühl geben, eine „Stimme“ in den sicherlich teilweise schwierigen Entscheidungsprozessen zu haben.

Weil der Nutzen einer Dekarbonisierung EU-weit ist, deren Kosten aber oft regional stark konzentriert sind, könnten Transfers zur Lösung spezifischer Probleme – beispielsweise die sozialverträgliche Abwicklung des polnischen Kohlebergbaus – in Betracht gezogen werden. Dies hat im Wesentlichen die gleiche Logik wie der bereits bestehende (aber quantitativ kleine) European Globalisation Adjustment Fund, der vom innereuropäischen Handelswettbewerb negativ betroffene Arbeitnehmer entschädigt. Gleichzeitig sollte die europäische Ebene weitgehend darauf verzichten, die nationale Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zu beeinflussen.

Ein solcher Rahmen bietet einerseits ein konsistentes „internationalistisch-progressives“ Narrativ. Andererseits ist er flexibel genug, damit die verschiedenen politischen Parteien, die ihn tragen, auch im parteipolitischen Wettbewerb eine Debatte über Prioritäten und notwendige Kompromisse führen können. Und natürlich lassen sich darunter zusätzliche Elemente subsumieren: eine Reform der Agrarpolitik oder Vorschläge wie die grüne Finanzierung über die Europäische Zentralbank und die Europäische Investitionsbank14 und Reformen in der Nachbarschafts- und Handelspolitik (insbesondere in Hinblick auf Afrika).

  • 1 A. Watt: Vorschlag einer deutsch-französischen Expertengruppe zur Reform des Euroraums – Analyse und Bewertung, in: Wirtschaftsdienst, 98. Jg. (2018), H. 2, S. 94-99, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2018/heft/2/beitrag/frankreich-und-deutschland-starke-partner-fuer-ein-stabiles-europa.html (12.6.2019); W. Koll, A. Watt: Convergence and stability in the Euro Area through effective macroeconomic policy coordination, IMK Studies, Nr. 61e, 2018; A. Watt, A. Watzke, S. Watzke: Overcoming Euro Area fragility, IMK Report, Nr. 139, 2019; H. Herr, J. Priewe, A. Watt: Conclusion: euro area reforms – the ways forward, in: Still time to save the euro. A new agenda for growth and jobs with a focus on the euro area’s four largest countries, Social Europe Publishing, 2019, S. 281-306.
  • 2 P. Genschel, A. Kemmerling: Accelerating Downhill: How the EU Shapes Corporate Tax Competition in the Single Market, in: Journal of Common Market Studies, 45. Jg. (2011), H. 3, S. 585-606.
  • 3 European Commission: Towards a more efficient and democratic decision making in EU tax policy, COM(2019)8, 15.1.2019.
  • 4 A. Watt: Strengthening the automatic stabilisers in Europe: Why, what and how?, in: T. Niechoj et al. (Hrsg.): Stabilising an unequal economy? Public debt, financial regulation and income distribution, Marburg 2011, S. 197-220.
  • 5 Spinelli Group: Manifesto for the Future of Europe: a Shared Destiny, 2018, http://spinelligroup.eu/2018manifesto (12.6.2019).
  • 6 W. Koll, A. Watt, a. a. O., S. 5 ff.
  • 7 Ebenda.
  • 8 Z. B. D. Rodrik: Industrial Policy for the Twenty-First Century, KSG Working Paper, Nr. RWP04-047, 2004; M. Mazzucato: The Entrepreneurial State: debunking public vs. private sector myths, London 2013; Zeitgespräch „Industriepolitik – ineffizienter staatlicher Eingriff oder zukunftsweisende Option?“ mit Beiträgen von H. Bardt, C. M. Schmidt, P. Bofinger, H. Belitz, M. Gornig, K. Aiginger, in: Wirtschaftsdienst, 99. Jg. (2019), H. 2, S. 87-105, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2019/2/industriepolitik-ineffizienter-staatlicher-eingriff-oder-zukunftsweisende-option/ (12.6.2019).
  • 9 P. Bofinger: Industrial policy: is there a paradigm shift in Germany and what does this imply for Europe?, Social Europe, 27.5.2019.
  • 10 Z. B. S. Dullien: Kontrolle bei Übernahmen durch Nicht-EU-Ausländer auch zur Verteidigung von Technologieführerschaft sinnvoll, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 68. Jg. (2019), H. 1, S. 45-52.
  • 11 G. Simonazzi, G. Celi, D. Guarascio: Developmental industrial policies for convergence within the European Monetary Union, in: H. Herr, J. Priewe, A. Watt (Hrsg.), a. a. O., S. 187-211.
  • 12 Zwar wird nicht jedes Land gleichermaßen betroffen sein, aber die Unsicherheit ist groß, und kein Land kann damit rechnen, ohne Schaden zu entkommen.
  • 13 Bei Treibhausgasemissionen in der EU von derzeit rund 4 ½ Mrd. t/Jahr würde eine CO2-Steuer von beispielsweise 50 Euro/t mehr als 200 Mrd. Euro einbringen, was rund 400 Euro/Kopf entspricht. Ein Transfer von 200 Euro/Kopf in die Haushalte würde in Rumänien fast 2 % des jährlichen Pro-Kopf-BIP ausmachen, in Deutschland jedoch weniger als 0,5 %.
  • 14 P. Degrauwe: Green money without inflation, Social Europe, 19.3.2019; A. Watt: Monetary financing of public investment: a viable way forward for the euro area?, in: European Journal of Economics and Economic Policies: Intervention, 13. Jg. (2016), H. 2, S. 241-254.

Der rechte Block Italiens und die politische Ökonomie des Niedergangs

Der rechte Block ist der klare Gewinner der italienischen Wahl zum Europäischen Parlament und steht unter der Kontrolle von Matteo Salvinis rechter Politik. Seine Partei, die „Lega“, die jetzt in einer Regierungskoalition mit der Fünf-Sterne-Bewegung ist, hat 34,3 % der Stimmen erhalten; vor fünf Jahren hatte die Lega 6,2% und 2018 bei den Wahlen in Italien 17 %. Die rechte Koalition mit Berlusconis Forza Italia (jetzt 8,8 %) und den Postfaschisten der Ende der 1990er Jahre entstandenen „Fratelli d‘Italia“ (jetzt 6,5 %) hat alle denkbaren Ereignisse überlebt, führt eine große Mehrheit der Regionalregierungen und wartet nur auf die nächsten Wahlen, um die Stimmen der Hälfte der Italiener zu ergattern. Dieses große rechtsgerichtete Votum ist Ausdruck einer Bevölkerungsgruppe, die den sozialen Abstieg vor Augen hat. Sie verbindet Verarmung, von der die meisten Italiener betroffen sind, sinkende Chancen und geringere soziale Mobilität mit der Angst vor dem Verlust von Einfluss und der nationalen Identität, wofür die Migration verantwortlich gemacht wird.1

Darüber hinaus hat der rechte Block den einzigen politischen Führer – Matteo Salvini – an seiner Spitze, der in der Lage ist, das Narrativ des Landes zu gestalten und die Medien zu dominieren, einschließlich seiner gefährlichen Nutzung des Rassismus und der faschistischen Vergangenheit Italiens. Die Lega konnte die Wähler vergessen lassen, dass sie zehn Jahre in der nationalen Regierung mit dem Mitte-Rechts-Bündnis unter Silvio Berlusconi waren. Auch eine Reihe von Gerichtsuntersuchungen zu Wirtschaftsdelikten einiger Lega-Politiker – von denen einige rechtskräftig verurteilt wurden – hatte keinen Einfluss auf die Entscheidung der Wähler. Außerdem hat es dem rechten Block nicht geschadet, mit der Fünf-Sterne-Bewegung eine Regierung zu bilden. Tatsächlich ist die „Lib-Pop-Politik“ der Regierung unter dem Vorsitz von Giuseppe Conte maßgeschneidert für den rechten Block, mit Maßnahmen, die Liberalismus – Flat Tax, Deregulierung, Steueramnestie, Wirtschaftsförderung – und Populismus in der Sozialpolitik – erleichterte Rentenbedingungen und die Einführung des „Staatsbürgerschafts­einkommens“ – verbinden.2 Der rechte Block wird somit durch politische, wirtschaftliche, soziale, ideologische und kommunikative Faktoren zusammengehalten, die sich kaum schnell auflösen dürften. Diese soziale und politische Kraft wird die italienische Politik wahrscheinlich mehrere Jahre lang beeinflussen.

Was ist mit der Fünf-Sterne-Bewegung passiert? Sie ist mit 17,1 % der Stimmen in der Tat der große Verlierer der Europawahlen. Sie verliert die Hälfte der Wähler im Vergleich zu 2018 und ist sogar im Vergleich zu den letzten Europawahlen vor fünf Jahren geschwächt. Ohne eine politische Richtung außer ihrer „Anti-Eliten-Rhetorik“ – etwas, das man von einer politischen Gruppe erwarten könnte, die behauptet, weder rechts noch links zu sein – sind die Fünf Sterne jetzt hauptsächlich darum bemüht, noch ein paar Monate in der Regierung zu bleiben, und werden das Bündnis mit der Lega nicht brechen.

Der dritte wichtige Akteur auf der politischen Bühne Italiens, die Demokratische Partei (PD), liegt nun bei 22,7 % der Stimmen und zeigt eine gewisse Erholung nach 18,7 % im Jahr 2018. Zu Beginn der Amtszeit von Matteo Renzi 2014 erreichte sie 40,8 %. Wir haben jetzt eine Achterbahnfahrt der Parteien erlebt, wobei zuerst ihre Stimmen verdoppelt und dann halbiert wurden. An der Regierung zu sein, ist in der Tat kein einfacher Weg, um Wähler zu gewinnen, zumindest wenn man nicht die Lega ist.

Die hohe Mobilität der Wähler ging mit einem Rückgang der Wahlbeteiligung von 73 % im Jahr 2018 auf 56 % bei der Europawahl 2019 einher. Der rechte Block hatte 13 Mio. Stimmen gegenüber 12 Mio. im Jahr 2018, wobei die Stimmen der Lega von 5,7 Mio. auf 9,1 Mio. anstiegen und die Wähler von Forza Italia aufnahm. Die „Fratelli d‘Italia“ erhöhten ihre absoluten Stimmen. Die Demokratische Partei hat ihre 6 Mio. Stimmen behalten. Die Fünf Sterne haben die Hälfte der im vergangenen Jahr erzielten Stimmen verloren, wobei die Wähler entweder die Lega wählten oder sich enthielten. Es ist daher zu erwarten, dass sich die hohe politische Volatilität und kürzere Zyklen von Erfolg und Misserfolg fortsetzen werden.

Der wirtschaftliche Niedergang Italiens

Diese Wahlergebnisse müssen im Zusammenhang mit der schlechten wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Italiens gesehen werden. Seit Juli 2018, der Bildung der Regierung Lega-Fünf-Sterne, befindet sich Italien in einer (leichten) Rezession. Aber der Niedergang des Landes hat eine viel längere Geschichte. Abbildung 1 zeigt, dass Italiens Bruttoinlandsprodukt (BIP) heute noch immer 5 % unter dem Niveau des realen BIP von 2008 liegt. Zuerst war der starke Rückgang durch die Finanzkrise 2008, die ihren Ursprung in den USA hat, dann im Jahr 2011 durch die Schuldenkrise im Süden Europas bedingt.

Abbildung 1
Entwicklung des italienischen Bruttoinlandsprodukts
preis-, saison- und kalenderbereinigt
Entwicklung des italienischen Bruttoinlandsprodukts

Quelle: Istat, Statistiche flash, Stima Preliminare, del Phil, 31.1.2019.

Dieser Rückgang hat zwei Hauptursachen. Der strukturelle liegt in der Verschlechterung der Produktionskapazität des Landes, mit einem Rückgang um 20 % der Investitionen und der Industrieproduktion im letzten Jahrzehnt, einhergehend mit einem niedrigen Niveau der Ausgaben für Forschung und Innovation, was zu Arbeitslosigkeit, stagnierender Produktivität und niedrigen Löhnen führte. Darüber hinaus stieg in den letzten zwei Jahrzehnten nur bei den reichsten 10 % der Italiener das Einkommen. Die 25 % der Arbeitnehmer des privaten Sektors mit den niedrigsten Löhnen haben 20 % der Reallöhne verloren. Die Vermögensunterschiede nehmen zu, die Einkommensunterschiede zwischen Nord und Süd sind unhaltbar geworden.

Die zweite Ursache für den Niedergang Italiens liegt in der Austeritätspolitik, die die Entwicklung der europäischen Integration mit den für die Währungsunion festgelegten Regeln und den politischen Fehlern während der Krise tief geprägt hat. Wir erinnern uns vielleicht daran, dass die USA 2008 die öffentlichen Ausgaben massiv ausgeweitet und ihr „quantitative Easing“ eingeleitet haben; jetzt haben sie eine Staatsdefizitquote von fast 5 % und ein Wachstum von 3,5 %. In Europa war die Reaktion auf die Krise von 2008 umgekehrt: monetäre Restriktionen und Ausgabenkürzungen. Die Krise von 2011 in Südeuropa war das Ergebnis der politischen Unfähigkeit, den Euroraum zu stabilisieren und die griechische Krise zu bewältigen, obwohl diese finanziell eher klein dimensioniert war. Drei Jahre vergingen, bevor Mario Draghi seinen Kurs änderte (das „Whatever it takes“ vom Juli 2012). Die verspätete monetäre Expansion konnte den Abschwung stoppen, aber die Divergenz zwischen dem bescheidenen Wachstum des europäischen Kerns und dem Rückstand der Peripherie vergrößerte sich. Jetzt liegt die öffentliche Defizitquote für die europäischen Länder insgesamt bei 1 %, die europäische Wirtschaft stagniert und der Preis – insbesondere für Südeuropa – ist ein verlorenes Jahrzehnt.

Ein Jahrzehnt ohne Wachstum hat es Italien wiederum unmöglich gemacht, seine hohe Staatsverschuldung einzudämmen – was jedoch mit einer niedrigen privaten Verschuldung und einem beträchtlichen privaten Vermögen, vor allem im Eigenheimbereich, einhergeht. Die Staatsverschuldung Italiens, die aktuell 132 % des BIP beträgt, war Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens, das die Europäische Kommission gegen Italien eingeleitet hat, sobald die Europawahlen beendet waren. Damit begann eine neue Phase der Drangsalierung und des potenziellen Konflikts zwischen Rom und Brüssel.

Der Erfolg der Rechten auf europäischer Ebene

Wie sieht die Entwicklung Italiens im europäischen Kontext aus? Die Europawahlen haben die Stärke des rechten, nationalistischen und populistischen Votums gezeigt, aber auf europäischer Ebene gibt es keine Konsolidierung eines rechten Blocks, der in der Lage ist, die Politik der EU zu ändern. Der rechte Block dominiert Italien, Polen und Ungarn; er belegt bei den Wahlergebnissen in Frankreich mit Marine Le Pen und in Großbritannien mit der Brexit-Partei den ersten Platz, hat aber keine Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis und die Regierung dieser Länder. Er hat ein erhebliches Gewicht in Österreich (wo die extreme Rechte aus der Regierung gedrängt wurde) und Belgien und scheint sich in einer politischen Nische in Deutschland, Griechenland, Spanien und Nordeuropa stabilisiert zu haben. In keinem Land erreicht er Hegemonie über das politische System und die Gesellschaft – wie in Italien, Polen und Ungarn. Im Europäischen Rat – in dem die Regierungen sitzen – haben diese drei Länder kein Gewicht bei europäischen Entscheidungen. Polen und Ungarn wurden wiederholt unter die Lupe genommen und Italien wird weiterhin an der Seitenlinie bleiben. Im Europäischen Parlament ist der Erfolg der Rechten sehr begrenzt und steigt von 20 % auf 23 % der Sitze, wobei sich die Abgeordneten wahrscheinlich in zwei oder drei Fraktionen aufteilen werden, deren Zusammenarbeit eher schwierig wird. Der Einfluss der Rechten auf die europäische Politik dürfte daher begrenzt sein, da die nationale Politik diese politischen Formationen antreibt. Ohne die Möglichkeit, das Parlament und die Ernennungen auf die Spitzenposten der Kommission und der Europäischen Zentralbank zu beeinflussen, geschweige denn die europäischen Regeln zu ändern, hat die Rechte – insbesondere in Italien – die brüsselfeindlichen Töne gemäßigt, die vor einem Jahr noch die nationalen Wahlen und die Regierungsbildung geprägt haben.

Populisten und Linke auf europäischer Ebene

Ein weiteres wichtiges Ergebnis auf europäischer Ebene ist der Rückgang populistischer Tendenzen. In Italien spiegelt sich im Zusammenbruch der Fünf Sterne bei der Wahl die Inkonsistenz ihrer Politik und ihre Unfähigkeit, die Regierung zu führen, wider. Eine populistische Politik, die die „Rechts-Links-Gegensätze“ leugnet, hat an Bedeutung verloren, ohnehin war sie nichts anderes als die Vorbereitung auf einen Rechtsruck. Die Ergebnisse der Europawahl zerstören die Illusion, eine linke Variante des Populismus aufbauen zu können. In Spanien halbiert Unidas Podemos seine Sitze im Europäischen Parlament, gefangen zwischen der Erholung der Sozialistischen Partei auf nationaler Ebene und der Stärke der Unabhängigkeitsbewegung in Barcelona. In Paris liegt France Insoumise mit Jean Luc Mélenchon bei 6,3 % der Stimmen. Die anderen linksradikalen Kräfte in Griechenland, Portugal, Deutschland und Nordeuropa haben ihr klares linkes Profil beibehalten und gemischte Ergebnisse erzielt: Alexis Tsipras hat in Griechenland eine Niederlage erlitten und Neuwahlen gefordert; in Portugal haben die linken Parteien die sozialistische Regierung extern unterstützt und ihren Konsens gefestigt; die Linke in Deutschland hat Stimmen verloren. Betrachtet man den starken Rückgang fast aller sozialdemokratischen Parteien (mit Ausnahme von Portugal, Spanien, den Niederlanden, Dänemark und einigen anderen Ländern), so ist die politische Lücke, die sich nach links öffnet, offensichtlich, und zwar indem der „Rechts-Links-Gegensatz“ wieder die Politik dominiert.

Was bleibt dann noch vom Widerspruch zwischen Eliten und Populismus, zwischen „oben“ und „unten“ in der Politik, die in den letzten Jahren so viel Aufmerksamkeit erregt hatte? Dem rechten Block ist es gelungen, die „Spitze“ der nationalen Wirtschaftseliten mit den unteren Bevölkerungsschichten zu versöhnen. An der „Spitze“ nimmt die politische Repräsentation proeuropäischer Eliten neue Formen an; im Europäischen Parlament gleicht der Aufstieg einiger Kräfte in der liberalen Fraktion die Verluste der bürgerlichen und sozialistischen Parteien teilweise aus, wie im Falle von Emmanuel Macron in Frankreich, der Gaullisten und Sozialisten die Stimmen wegnimmt. Die Sozialdemokraten sind – wie schon seit zwei Jahrzehnten – paralysiert angesichts der Entscheidung, sich an der „Spitze“ als Partei der proeuropäischen, neoliberalen Eliten nahe am Macron-Modell zu positionieren oder zu ihren „linken“ Wurzeln, zu ihrer Klassenbasis zurückzukehren und dem Populismus der Rechten Raum und Wähler wegzunehmen. Die radikale Linke ist derzeit zu fragmentiert und zerbrechlich, um einen solchen Raum einzunehmen. Der Erfolg der Grünen in einigen Ländern, vor allem in Deutschland mit vielen Stimmen bei Jungwählern, zeigt keine klare Position, hat aber das Potenzial, den Horizont und die Agenda dessen zu erneuern, was wir immer noch die „Linke“ nennen.

Italien versus Europa?

Das Jahrzehnt des politischen Umbruchs in Italien ist auf den wirtschaftlichen Niedergang des Landes zurückzuführen. Es ist unwahrscheinlich, dass eine politische Stabilisierung ohne einen neuen Wachstumskurs möglich ist, was wiederum eine andere europäische Vision erfordern würde, die über den kurzsichtigen Neoliberalismus hinausgeht. Nichts davon wird wohl am Horizont Europas auftauchen; Stillstand ist das wahrscheinlichste Szenario für die Brüsseler Politik.3

Es gibt einen paradoxen Widerspruch zwischen den politischen Turbulenzen in Italien und dem „business as usual“ in Europa. Und es ist auch auffällig, dass der rechte Block Italiens sowie die Fünf-Sterne-Lega-Regierung bei den letzten Wahlen keine antieuropäischen Argumente vorgebracht haben. In Großbritannien, Frankreich, Ungarn oder Polen wurde der Erfolg der Rechten durch eine stark antieuropäische Rhetorik angeheizt; Nationalismus ist ein wichtiger Bestandteil ihrer Ideologie. In Italien war der Nationalismus immer gemäßigt und die proeuropäischen Neigungen waren im gesamten politischen Spektrum stark. Es mag daher überraschen, dass antieuropäische Gefühle nicht wesentlich zur Konsolidierung des italienischen Rechtsblocks beigetragen haben, der in dieser Frage tatsächlich zwischen der proeuropäischen neoliberalen Elite, den wirtschaftlichen „Verlierern“, die sich über die EU-Politik ärgern, und den ideologischen Nationalisten gespalten ist.

Hinter dieser „weichen“ Position zu Europa stehen eine ideologische Komponente sowie ein Abwägen der Möglichkeiten. Der italienische Rechtsblock teilt mit den Eliten Europas die gleiche neoliberale Sichtweise auf die Wirtschaft und fügt lediglich einige Forderungen nach Sozialschutz für die „Verlierer“ hinzu. Es gibt auch pragmatische Gründe: 2018 behielt die italienische Regierung im Wesentlichen die Sparpolitik der EU mit einem mit Brüssel ausgehandelten Defizit von 2,04 % des BIP bei, mit der Folge minimaler expansiver Auswirkungen der öffentlichen Ausgaben, die zunahmen, weil die Zinsausgaben aufgrund der „Spreads“ anstiegen. Die öffentlichen Investitionen wurden von allen Regierungen gekürzt, einschließlich derjenigen, die von den Fünf Sternen und der Lega angeführt wurden, wodurch sich die Nachfrage, die Infrastruktur und die Lebensbedingungen verschlechterten. Unter Androhung eines Vertragsverletzungsverfahrens und angesichts früherer Haushaltsverpflichtungen gegenüber Brüssel müssen im Herbst 2019 Ressourcen in Höhe von mehreren Mrd. Euro in zweistelliger Größenordnung bereitgestellt werden, um eine automatische Mehrwertsteuererhöhung zu vermeiden. Moderate Töne im Dialog mit Brüssel können, wie in der Vergangenheit, helfen, einen Kompromiss bei Budget und Verschuldung zu finden. Aber die wirtschaftlichen Folgen werden düster bleiben. Für den Teufelskreis zwischen Wachstums- und Sparpolitik ist kein Ende in Sicht. Und mangelhafte Politik wird den Teufelskreis aus verschlechterter wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, stagnierender Produktivität, Innovations- und Wettbewerbslücken gegenüber Europa, Arbeitsplatzverlust, Prekarisierung der Arbeit und niedrigen Löhnen fördern.

Vieles davon ist im langfristigen Niedergang Italiens nicht neu. Neu ist heute, in einem Kontext größerer wirtschaftlicher Herausforderungen, dass die politische Ökonomie des Niedergangs zum Erkennungsmerkmal des rechten Blocks und der Politik der Lega-Fünf-Sterne-Regierung geworden ist, eine gefährliche Mischung aus Liberalismus und Populismus, eine Kombination aus wirtschaftlicher Härte, sozialer Desintegration und politischer Degradierung, die Italien zum extrem rechten Ergebnis bei den Europawahlen 2019 geführt hat.

Title:After the European Parliamentary Elections – More Europe or Less?

Abstract:The European Parliamentary Elections in late May 2019 illustrated recent developments: Voter turnout rose sharply, the major popular parties suffered losses, but the feared triumph of the Eurosceptic and populist parties failed to materialise. The question of democratic legitimacy does arise in view of the list of candidates with regard to one nation and degressive proportionality. But the election results have been widely accepted. How the individual parliamentary groups actually vote cannot always be attributed to the colour of the party. There are many different coalitions here. There will be no shortage of work in the future, however. The new Parliament‘s agenda ranges from industrial policy and labour issues to socially just climate policy.

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DOI: 10.1007/s10273-019-2463-3

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