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Laut Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung erreicht die ostdeutsche Wirtschaft auch 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nur 80 % der westdeutschen Arbeitsproduktivität. Dieser Unterschied in der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität geht Hand in Hand mit vielen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme, denen Ostdeutschland heute gegenübersteht. Um die Ursachen des aggregierten Produktivitätsgefälles zu verstehen, wird die neuere Literatur zum Ost-West-Gefälle diskutiert, die granulare Daten auf Firmen- und Produktebene verwendet. Die Evidenz zeigt die Relevanz von Produktivitätsunterschieden auf Firmenebene für die aggregierte Lücke deutlich und stellt gängige Hypothesen infrage, die aus aggregierten Daten abgeleitet werden.

In der deutschen Öffentlichkeit erscheint Ostdeutschland noch immer oft als Problemfall. Während in der Vergangenheit dabei eher wirtschaftliche Schwierigkeiten wie mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitslosigkeit und Massenabwanderung als Themen dominierten, rückten in den vergangenen Jahren Narrative von abgehängten Regionen und Bürger:innen zweiter Klasse in den Vordergrund und zeichnen das trostlose Bild einer von vielen Problemen erschütterten Region, welche sich, so die vielerorts vertretene These, in der Folge z. B. in fremdenfeindlichen Demonstrationen äußern würden. Obwohl diese Sicht von außen ein Zerrbild Ostdeutschlands liefert, dass Menschen etwa in Leipzig, Dresden oder Erfurt zunehmend mit Befremdung und Achselzucken zur Kenntnis nehmen, gibt es natürlich handfeste Herausforderungen auch im Osten. Dieser Beitrag geht von der Prämisse aus, dass viele wirtschaftliche und gesellschaftliche Schwierigkeiten ihre Ursache im Produktivitätsrückstand des Ostens haben. Arbeitsproduktivität, oft gemessen als Wertschöpfung pro Beschäftigtem, ist der entscheidende Gradmesser für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und somit für Löhne und Vermögensaufbau und beeinflusst lokale Steuereinnahmen und Zukunftsinvestitionen sowie die Zukunftsperspektiven junger Menschen. Auch wenn der direkte Bezug zur Produktivitätslücke vielen Menschen nicht allgegenwärtig sein dürfte, so beeinflussen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die breite Berichterstattung zum Thema letztlich auch das Selbstwertgefühl einer ganzen Region.

Selbstverständlich war dieser Produktivitätsrückstand bereits Gegenstand vieler hochwertiger wissenschaftlicher Untersuchungen (z. B. Burda und Hunt 2001; Snower und Merkl 2006 sowie zahlreiche Forschungsberichte der Wirtschaftsforschungsinstitute). Allerdings erschöpft sich ein großer Teil dieser Analysen mit der Feststellung des Rückstands auf aggregierter Ebene – also in einem binären Vergleich des Ostdurchschnitts mit dem Westdurchschnitt – und einer darauf aufbauenden theoretischen oder durch andere Mittelwertvergleiche angereicherten Diskussion des Unterschieds. Zu den zentralen Befunden dieser Art von Studien gehört, dass der Osten wohl noch immer die verlängerte Werkbank des Westens sei, an seiner kleinteiligen Wirtschaftsstruktur leide und seine Produkte möglicherweise auch einen preislichen Nachteil haben könnten. Feiner gegliederte Produktivitätsanalysen etwa auf einzelbetrieblicher Ebene sind eher die Ausnahme. Dabei ist gerade diese Sichtweise sehr vielversprechend. Zum einen sind weder die Wirtschaften in Ost noch West monolithische Blöcke, sondern sie bestehen aus vielen 100.000 miteinander verwobenen und sehr heterogenen Unternehmen. Zum anderen sind es die wirtschaftlichen Entscheidungen dieser Einzelunternehmen, etwa im Hinblick auf Investitionen, Produktspezifikationen, Forschung und Weiterbildung der Belegschaft, um nur einige zu nennen, die den Ost-West-Unterschied im Aggregat bestimmen. Aus diesem Grund verfolgt dieser Artikel das Ziel, vielfach geäußerte Erklärungen für den aggregierten Ost-West-Unterschied mit Hilfe von einzelbetrieblichen Daten einem Test zu unterziehen.1

Der Produktivitätsunterschied im Aggregat und seine mikroökonomischen Komponenten

Die Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung der Länder zeigen für die aggregierte Arbeitsproduktivität (vgl. Abbildung 1) zum einen den spektakulären Aufholprozess der ostdeutschen Länder seit der Wiedervereinigung und zum anderen einen noch immer bestehenden Rückstand gegenüber dem Westen von etwa 20 %. Trotz des berechtigten Stolzes auf den enormen Aufholprozess und die im Vergleich zu anderen osteuropäischen Nachbarn hohe Produktivität, erklärt sich die negative Sicht auf die wirtschaftliche Situation im Osten durch den Vergleich mit dem Westen und die noch immer bestehende Produktivitätslücke. Dieser Vergleichsmaßstab resultiert in erster Linie aus der Geschichte der neuen Bundesländer, die im historischen Vergleich Kraftzentren der deutschen Wirtschaft waren.

Abbildung 1
Arbeitsproduktivität in Ostdeutschland
Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigem, Westdeutschland = 100
Arbeitsproduktivität in Ostdeutschland

Quelle: Statistisches Bundesamt, volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder, Ost und West jeweils ohne Berlin.

Wie lässt sich nun der in der Grafik abgebildete aggregierte Unterschied mikroökonomisch untersuchen? Ein guter Startpunkt ist die Produktivitätszerlegung nach Olley und Pakes (1996) in der die aggregierte Produktivität, in unserem Beispiel die Produktivität einer Region, in die durchschnittliche Produktivität auf Einzelunternehmens­ebene und die Kovarianz zwischen Marktanteil und Produktivität auf Unternehmensebene zerlegt wird. Folglich steigt die aggregierte Produktivität einer Region, wenn die Unternehmen (bei konstantem Marktanteil) produktiver werden oder wenn sich Marktanteile (bei unveränderter einzelbetrieblicher Produktivität) von weniger produktiven zu produktiveren Unternehmen verschieben. Hier wird der erste der beiden Kanäle, also die Produktivität auf Unternehmensebene, untersucht. Es wird also um die Frage gehen, ob die ostdeutschen Unternehmen weniger produktiv als ihre westdeutsche Konkurrenz sind und, wenn ja, was mögliche Ursachen sind. Der zweite Kanal in der Produktivitätszerlegung, die Faktorreallokation, ist Gegenstand aktueller Forschung und wird, so bleibt zu hoffen, in absehbarer Zeit unser Bild vom aggregierten Produktivitätsrückstand des Ostens vervollständigen.

Deskriptive Ergebnisse

Eine erste interessante Frage ist, ob der Rückstand des Ostens auf Unternehmensbene überhaupt besteht oder ob der Rückstand nur durch etwaige Nachteile in der Faktorallokation zu erklären wäre. Die Antwort ist eindeutig, denn mehrere Studien auf Basis unterschiedlicher Datensätze bestätigen einen Rückstand des Ostens auch auf einzelbetrieblicher Ebene.2

Bevor wir in die Ursachenforschung einsteigen, ist es zunächst interessant, ob der Rückstand auf Unternehmensebene in der Breite besteht oder ob er durch besonders viele unproduktive Ostunternehmen oder durch das Fehlen von Spitzenunternehmen erklärbar ist. Mertens und Müller (2020) zeigen für die Industrie, dass der Unterschied in der Breite besteht. Dafür berechnen sie die um den jeweiligen deutschlandweiten Branchenmittelwert bereinigte Arbeitsproduktivität der Unternehmen und präsentieren Dichtefunktionen der Produktivitätsverteilungen in Ost und West. Das Ergebnis zeigt eine Linksverschiebung der gesamten ostdeutschen Produktivitätsverteilung im Vergleich zum Westen mit minimalen Auffälligkeiten an den Rändern der Verteilung. Somit besteht der Unterschied – zumindest innerhalb von Industrien – in der Breite. Eine zweite Erkenntnis aus den Ergebnissen von Mertens und Müller (2020) ist aber, dass trotz der im Mittel niedrigeren Produktivität im Osten etwa ein Drittel der ostdeutschen Industrieunternehmen über dem Bundesdurchschnitt liegen. Somit lässt sich deskriptiv festhalten, dass ostdeutsche Unternehmen im Mittel weniger produktiv sind, dass dieser Rückstand zumindest in der Industrie nicht durch Phänomene an den Rändern der Produktivitätsverteilung erklärt werden kann und dass jenseits des Mittelwertunterschieds eine große Zahl ostdeutscher Unternehmen produktiver als der Bundesdurchschnitt und somit auch als viele westdeutsche Unternehmen ist.

Hypothese der verlängerten Werkbank

Die Hypothese der verlängerten Werkbank besagt im Grunde, dass die ostdeutsche Industrie weniger produktiv ist, weil sie sich zumindest in nennenswertem Ausmaß mit der Rolle des Produzenten standardisierter Massenware als Zulieferer für westdeutsche Unternehmen begnügt. Dadurch bliebe ostdeutschen Produzenten der Weg versperrt, durch die Herstellung diversifizierter Güter höhere Preise zu erzielen, was sich wiederum direkt in der mit Preisen bewerteten Produktivität (produzierte Menge mal Verkaufspreis) niederschlägt. Ein (hypothetisches) Beispiel wäre etwa die Herstellung des Reißverschlusses als Vorprodukt für die hochwertige in Westdeutschland gefertigte Outdoorjacke. Oft wird diese Hypothese als eine Art Residualerklärung verwendet, wenn andere Ursachen des Rückstands entweder bereits herausgerechnet oder theoretisch ausgeschlossen wurden. Das Fehlen von Zentralen von Großkonzernen mit den oft dort angesiedelten Marketing- und Entwicklungsabteilungen und das niedrige Niveau privater Forschungs- und Entwicklungsausgaben stützen die Hypothese der verlängerten Werkbank (Paqué, 2009, 158 ff.).

Mertens und Müller (2020) testen die Erklärungskraft dieser Hypothese im Verarbeitenden Gewerbe auf Unternehmensebene. Diese Daten werden seit Jahrzehnten in hoher Qualität von den statistischen Landesämtern bereitgestellt und beinhalten die Produktklassifikation in zehnstelliger Untergliederung, also in außerordentlicher Detailtreue.3 Wenn also die Hypothese der verlängerten Werkbank besagt, dass der Osten andere Güter herstellt, also etwa der Zulieferer standardisierter Zwischenprodukte für den Westen ist, dann darf für westdeutsche und ostdeutsche Produzenten, die in der gleichen zehnstellig untergliederten Produktklasse produzieren, die verlängerte Werkbank als Erklärung für Produktivitätsunterschiede keine Rolle spielen. Kurzum, wenn verlängerte Werkbänke eine wichtige Erklärung sind, müsste der Produktivitätsrückstand zwischen Betrieben, die das gleiche Produkt herstellen, spürbar niedriger sein als beim Vergleich aller Unternehmen. Mertens und Müller (2020) testen das im Rahmen von Produktionsfunktionsschätzungen bei denen die Produktionsstruktur einmal nur auf Ebene der Branchenstruktur kontrolliert wird und dann viel disaggregierter auf Ebene der hergestellten Produkte. Der Rückstand des Osten verringert sich bei Berücksichtigung der Produktionsstruktur auf detaillierter Produktebene nur minimal. Die Schlussfolgerung: Die Hypothese der verlängerten Werkbank kann den ostdeutschen Rückstand nicht erklären.

Niedrigere Preise für ostdeutsche Produkte

Eine weitere Hypothese, die erst durch Verwendung von Preisinformationen auf Produktebene geklärt werden kann, ist, dass ostdeutsche Produzenten für die gleichen Produkte weniger erlösen würden als ihre westdeutsche Konkurrenz. Der Unterschied zur Hypothese der verlängerten Werkbank ist also, dass es nun nicht mehr um die Herstellung standardisierter Zwischenprodukte geht, sondern um die Herstellung der gleichen Produkte. Um im Beispiel zu bleiben: Nun geht es nicht mehr um den Vergleich des ostdeutschen Reißverschlussherstellers mit dem westdeutschen Produzenten von Outdoorjacken, sondern nun wird argumentiert, dass ostdeutsche Hersteller für ihre Outdoorjacken geringere Preise erlösen als die westdeutsche Konkurrenz. Müller (1998) sowie Mertens und Müller (2020) finden in der Tat, dass es erhebliche Preisunterschiede zwischen ost- und westdeutschen Produkten gibt. Auf Ebene der zehnstellig untergliederten Produkte finden Mertens und Müller (2020), dass westdeutsche Hersteller bei etwa 70 % aller Industrieprodukte höhere Preise erzielen und der Osten bei etwa 30 % führend ist. Allerdings ist der ostdeutsche Vorsprung oft auf kleine Nischenprodukte begrenzt.

Bevor nun in die ökonometrische Analyse vorgedrungen wird, sind theoretische Vorüberlegungen zu den Ursachen von Outputpreisunterschieden angebracht. Ein wesentlicher Aspekt ist, dass Industriegüter grundsätzlich überregional handelbar sind und dass somit ostdeutsche Produzenten grundsätzlich die gleichen Käufer:innen und Märkte bedienen können, die auch der westdeutschen Konkurrenz offen stehen. Somit scheiden lokale Kaufkraftunterschiede als Ursache für Preisunterschiede aus. Waren in den Jahren nach der Wiedervereinigung das Wissen um und die Kontakte zu überregionalen Kunden beim ostdeutschen Management naturgemäß noch begrenzt, so kann dies Jahrzehnte nach der Einheit keine plausible Erklärung mehr sein. Preisunterschiede auf integrierten Märkten spiegeln also Unterschiede im Nutzen wider, den die Käufer:innen Produkten beimessen. Diese Nutzenunterschiede können objektiv aufgrund der Beschaffenheit der Produkte oder aufgrund von Reputationsunterschieden (z. B. Markennamen) bestehen.

Mertens und Müller (2020) zeigen in einem ersten Schritt in physischen Produktionsfunktionsschätzungen, also Schätzungen in denen die physische Outputmenge erklärt wird, dass ostdeutsche Produzenten bei gleichen Inputkosten etwa 20 % mehr Güter herstellen als ihre westdeutsche Konkurrenz. Somit stellt das durchschnittliche ostdeutsche Industrieunternehmen in der Tat mehr Güter zu niedrigeren Verkaufspreisen her, was auf die Produktion von einfacherer Massenware hindeutet. Vergleicht man in einem zweiten Schritt allerdings ost- und westdeutsche Produzenten, die bei gleicher Größe und bei gleichem Ressourceneinsatz das gleiche Produkt für das gleiche Preissegment produzieren, sind ostdeutsche Produzenten weniger produktiv als westdeutsche Unternehmen. Da diese Analyse das Preissegment der Produkte fixiert und ostdeutsche Unternehmen dennoch weniger produktiv als westdeutsche Unternehmen sind, schlussfolgern Mertens und Müller (2020), dass auch Outputpreisunterschiede keine Erklärung für den Produktivitätsrückstand des Ostens sind. Die Autoren zeigen auch, dass Preis- und Produktivitätsunterschiede im Zeitverlauf gesunken sind.

Schlussfolgerung und Ausblick

Dieser Beitrag hat eine mikroökonomische Perspektive der Produktivität Ostdeutschlands eingenommen und aufgezeigt, dass der Rückstand, den die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung im Aggregat ausweist, auch auf Ebene der einzelnen Unternehmen besteht. Damit wird deutlich, dass wirtschaftsstrukturelle Unterschiede etwa in der Branchen- oder Betriebsgrößenzusammensetzung nicht die alleinige Erklärung für den Rückstand sein können. Vielmehr wird auf Basis der Studie von Mertens und Müller (2020) diskutiert, dass Unterschiede in der Produktivität bestehen, selbst wenn Unternehmen verglichen werden, die bei gleichem Ressourceneinsatz das gleiche Produkt für das gleiche Preissegment herstellen.

Natürlich stellt sich damit die eigentliche Frage noch immer: Warum sind ostdeutsche Produzenten weniger produktiv? Als mögliche Erklärungsansätze bietet die Theorie unbeobachtbare Unterschiede in der Qualität der Inputfaktoren und der Managementqualität an, sowie historisch gewachsene Vorteile des Westens, etwa wenn es um den Bestand an Produktreputation und Markennamen geht. Dass der Westen noch immer einen wichtigen Reputationsvorsprung bei vielen Gütern hat, legen Ergebnisse von Mertens und Müller (2020) nahe, die Preisnachteile eher bei Konsumgütern und weniger bei Investititonsgütern finden.

Die Inputfaktoren Kapital und Vorleistungen sowie der darin eingebettete technologische Stand stehen grundsätzlich allen Marktteilnehmenden zur Verfügung. Ein Nachteil des Ostens ist hier nicht zu erwarten. Auch die ostdeutschen Beschäftigten haben im Hinblick auf ihre Ausbildung und formale Qualifikation keine Nachteile gegenüber dem Westen. Allerdings ist der Produktionsfaktor Arbeit weniger mobil als Kapital oder Vorleistungen, und daher sind hier unbeobachtbare Unterschiede möglich. Es haben vielfach jüngere und auf Karrierechancen ausgerichtete Menschen den Osten verlassen, und so liegt die Vermutung nahe, dass der Osten in verstärktem Maße überdurchschnittlich produktive Menschen verloren hat. Existierende empirische Studien finden jedoch keine Anhaltspunkte für eine geringere Produktivität auf Ebene der Beschäftigten (Smolny und Kirbach, 2011; Fuchs-Schündeln und Izem, 2012).

Ein entscheidender und in der Regel unbeobachtbarer Treiber von zwischenbetrieblichen Produktivitätsunterschieden ist die Qualität des Managements (Bloom und van Reenen, 2007). Zumindest in der Frühphase der Transformation war davon auszugehen, dass sich ostdeutsche Managerinnen und Firmenchefs elementare Kenntnisse etwa aus den Bereichen Marketing, Produktdesign und Controlling erst neu aneignen mussten. Auch ist es denkbar, dass es bei der innerbetrieblichen Organisation noch immer Unterschiede zum Westen gibt. Oberfichtner und Schnabel (2018) dokumentieren dies etwa am Beispiel der industriellen Beziehungen. Klar ist aber, dass die vorliegende Evidenz für eine Einschätzung der Relevanz von Managementunterschieden nicht ausreicht und dass dafür aktuelle, quantitative Forschung zu Ost-West-Unterschieden in der Managementqualität oder, etwas breiter, zu Unterschieden beim Intangible Capital dringend benötigt wird.

Schlussendlich können Aggregatunterschiede in der Produktivität, wie eingangs erwähnt, ihre Ursachen nicht nur in der einzelbetrieblichen Produktivität, sondern auch in der Effizienz der Faktorallokation haben. Die produktivitätsoptimale Allokation von Faktoren stellt sich nicht ein, wenn es Friktionen etwa in Form von Markteingriffen gibt. So sehen sich politische Entscheider:innen im Angesicht rapider Strukturwandelprozesse – und die deutsche Einheit war ein beispielloser Fall von Strukturwandel – oft genötigt, Härten des Wandels sozialpolitisch und durch Förderprogramme abzufedern. Ohne eine Bewertung dieser Politik vornehmen zu wollen, ist klar, dass sozial- und industriepolitische Maßnahmen das Potenzial haben, die optimale Allokation der Produktionsfaktoren in einer Region einzuschränken und somit die Produktivitätsentwicklung einer Region dauerhaft zu hemmen. Wenn etwa einzelbetriebliche Subventionen einseitig an die Schaffung von Arbeitsplätzen gekoppelt werden, mag das sozialpolitisch vertretbar sein. Es kann aber dazu führen, dass wertvolle Fachkräfte in den falschen (weil unproduktiven) Unternehmen gebunden werden. Indem sich künftige Forschung am Beispiel der deutschen Einheit und dem Aufbau Ost Einblicke in die langfristigen Folgen sozial- und industriepolitischer Eingriffe für die Faktorallokation verschafft, kann sie auch Lehren für aktuelle Strukturwandelprozesse etwa in den Bereichen Energiewende, Digitalisierung oder Pandemiebekämpfung ableiten.

  • 1 Die empirischen Befunde dieses Artikels beruhen wesentlich auf Ergebnissen aus Mertens und Müller (2020).
  • 2 So nutzen Czarnitzki (2005) Daten des Mannheimer Innovationspanels, Müller et al. (2017) das IAB Betriebspanel sowie Mertens und Müller (2020) die amtlichen Firmendaten der statistischen Ämter.
  • 3 Derartig detaillierte Produktionsdaten auf Firmenebene liegen für Deutschland nur für das Verarbeitende Gewerbe vor.

Literatur

Bloom, N. und J. Van Reenen (2007), Measuring and explaining management practices across firms and countries, The quarterly journal of Economics, 122(4), 1351-1408.

Burda, M. C. und J. Hunt (2001), From reunification to economic integration: productivity and the labor market in Eastern Germany, Brookings Papers on Economic Activity, 2, 1-92.

Czarnitzki, D. (2005), The extent and evolution of productivity deficiency in Eastern Germany, Journal of Productivity Analysis, 24(2), 211-231.

Fuchs-Schündeln, N. und R. Izem (2012), Explaining the low labor productivity in East Germany – A spatial analysis, Journal of Comparative Economics, 40(1), 1-21.

Mertens, M. und S. Müller (2020), The East-West German gap in revenue productivity: Just a tale of output prices?, IWH Discussion Papers, 14.

Müller, G. (1998), Schmalere Produktivitätslücke bei Beachtung von Preiseffekten, Wirtschaft im Wandel, 4(4), 14-19.

Müller, S., E. Dettmann, D. Fackler, G. Neuschäffer, V. Slavtchev, U. Leber und B. Schwengler (2017), Produktivitätsunterschiede zwischen West- und Ostdeutschland und mögliche Erklärungsfaktoren: Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2016, IAB-Forschungsbericht, 16.

Oberfichtner, M. und C. Schnabel (2019), The German Model of Industrial Relations: (Where) Does It Still Exist?, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 239(1), 5-37.

Olley, G. S. und A. A. Pakes (1996), The Dynamics of Productivity in the Tele­communications Equipment Industry. Econometrica, 64(6), 263-97.

Paqué, K. H. (2009), Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit, Hanser.

Smolny, W. und M. Kirbach (2011), Wage differentials between East and West Germany: are they related to the location or to the people?, Applied Economics Letters, 18(9), 873-879.

Snower, D. J. und C. Merkl (2006), The caring hand that cripples: The East German labor market after reunification, American Economic Review, 96(2), 375-382.

Title:The East-West-German Productivity Gap: Lessons from firm-level data?

Abstract:According to national accounts, the East German economy is at only 80 % of West German labour productivity even 30 years after the fall of the Iron Curtain. This difference in aggregate labour productivity goes hand in hand with many of the economic and societal problems East Germany faces today. To understand the sources of the aggregate productivity gap, this study discusses recent literature on the East-West gap that applies granular firm and product level data. The evidence clearly shows the relevance of firm-level productivity differences for the aggregate gap and challenges common hypotheses derived from aggregate data.

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© Der/die Autor:in(nen) 2021

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DOI: 10.1007/s10273-021-2835-3