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In der Schweiz erscheint Jahrzehnte nach der knappen Referendumsablehnung des Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ein EU-Beitritt in absehbarer Zeit ausgeschlossen. Auch die über ein breites Parteienspektrum jahrelang gepflegte Unterstützung für eine Vertiefung der wirtschaftlichen Integration in die EU ist mittlerweile praktisch verstummt. Viele sehen „Brüssel“ als undemokratisches Gebilde an, auf dessen Agenda die Aushöhlung der Schweizer Souveränität, der Volksrechte und nicht zuletzt des hohen Wohlstandsniveaus weit oben steht. Die antieuropäischen Ressentiments werden insbesondere von der rechtspatriotischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) wirksam geschürt, aber auch andere beklagen ein angebliches Demokratiedefizit, übermäßige Zentralisierung, einen ausufernden Wohlfahrtsstaat oder einen überspitzten Marktradikalismus. Eine kritische Rolle im Verhältnis zur EU spielen die Gewerkschaften, für die bis in die 1990er Jahre der einheimische Lohnschutz eine überwiegend ablehnende Haltung zur Zuwanderung implizierte.

Seit dem EWR-Nein 1992 hat sich ein dauerhaft tragfähiger Kompromiss zwischen EU-Gegner:innen und Integrationsbefürwortenden herausgebildet – der Weg der „Bilateralen“. Mit diesen Verträgen wird verhindert, dass die Schweiz von der EU wie ein Drittstaat behandelt wird, was angesichts der geografischen Lage, der kulturellen Verbindungen und vor allem der wirtschaftlichen Verwebung mit den Nachbarländern die Schweiz in eine prekäre Situation bringen würde. Nach deutlicher Annahme in einem Referendum trat der erste Teil der bilateralen Verträge mit der EU 2002 in Kraft. Diese umfassten neben Regelungen zu technischen Handelshemmnissen, zum Land- und Luftverkehr vor allem die wirtschaftlich bedeutende und politisch brisante Personenfreizügigkeit. Damit erhalten die Bürger:innen der Schweiz und der EU das Recht, Arbeitsplatz und Wohnsitz frei zu wählen, wenn sie im Wohnsitzland eine Erwerbsarbeit ausüben oder über ausreichende finanzielle Mittel verfügen. Mit den Bilateralen II wurde die Zusammenarbeit ab 2004 sukzessive vertieft, wobei insbesondere der Beitritt der Schweiz zum Schengener Abkommen von großer praktischer Relevanz ist.

Bemerkenswert an den Bilateralen ist die „Guillotine-Klausel“, nach der bei Kündigung eines einzigen Abkommens das ganze Paket hinfällig wird. In einem sozioökonomisch und wirtschaftlich dynamischen Umfeld ist das statische Paket der Bilateralen ein fragiles Gebilde, das ständiger Anpassungen oder Nachverhandlungen bedarf – auf Schweizer Seite vor allem des autonomen Nachvollzugs der regulatorischen Änderungen in der EU. Die Schweizer Bundesregierung erließ daher 2013 ein Verhandlungsmandat für ein Rahmenabkommen, das die Dynamisierung sowie die Streitschlichtung bei den Bilateralen institutionalisieren sollte. Die Verhandlungen führten 2018 zu einem Vertragsentwurf. Nach drei Jahren Zögern hat die Schweizer Bundesregierung nun im Mai 2021 die Verhandlungen einseitig abgebrochen. Der Grund hierfür ist, dass sich innenpolitisch Widerstand zeigte, der zu einem Nein bei einem Referendum hätte führen können: Auf der rechten Seite die SVP und die übrigen Völkischen, denen die EU ohnehin zuwider ist. Durch die Mitte wurde die sinngemäße Anwendung der Unionsbürgerschaft für unakzeptabel erklärt, da damit der Zugang zu Sozialleistungen im Wohnsitzstaat etwas leichter ist als durch das Personenfreizügigkeitsabkommen festgelegt. Auch ein Schutz vor Ausweisungen von EU-Bürger:innen mit geregeltem Bleiberecht bei Bezug von Sozialhilfe schien vielen inakzeptabel. Dass bei der Streitschlichtung der Gerichtshof der EU einbezogen werden sollte, wurde als Auslieferung an fremde Richter:innen und mit der Schweizer Souveränität inkompatibel erklärt. Dies allein hätte aber vermutlich nicht für eine Ablehnung gereicht. Der Sargnagel war die Haltung der Gewerkschaften und des mit ihnen verbundenen Flügels der Sozialdemokratischen Partei, die angesichts technischer Anpassungen beim inländischen Lohnschutz einen zunehmenden Lohndruck durch im Auftrag ausländischer Firmen in der Schweiz tätige EU-Bürger:innen befürchteten.

Aktuell befindet sich das Verhältnis Schweiz – EU in einer Art Schwebezustand. Es gab zwar eine Erklärung des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und die gespenstischen Freudenfeuer der Völkischen auf den Schweizer Gipfeln, aber es ist bizarr, dass seit Verhandlungsabbruch praktisch keine Diskussion um das weitere für die Schweiz essenzielle Verhältnis zur EU stattfindet. Eine schweigende Mehrheit der Akteur:innen in Wirtschaft und Politik scheint zu hoffen, dass man das Problem aussitzen und sich auf dem bilateralen Weg schon irgendwie durchwursteln wird. Eine kleine Minderheit sieht angesichts der Blockade eine neue Chance für einen EU-Beitritt. Für einen Schwexit, im Falle der Schweiz also die Kündigung der Bilateralen und Neuverhandlungen der Beziehungen wie nach dem Brexit, gibt es aber keine Unterstützung. Einerseits fehlt das Narrativ der vergangenen Größe, das beim knappen Entscheid zum Brexit eine Rolle spielte, zum anderen sind sich auch die pathetischsten der Schweizer EU-Gegner:innen der geografischen Lage und der Größenverhältnisse bewusst, wodurch bei einer weiteren Zerrüttung des Verhältnisses mit der EU die Schweiz weit mehr zu verlieren hätte als die EU.

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© Der/die Autor:in 2021

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DOI: 10.1007/s10273-021-2995-1