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Frankreich und andere EU-Staaten vor allem aus Osteuropa werben heftig für eine Renaissance der Atomkraft. Die EU-Kommission soll dazu gebracht werden, diese Energie­erzeugung als nachhaltig zu deklarieren. Und sie ist dem mit ihrem Entwurf vom 31.12.2021 auch nachgekommen. Dabei zeigen alle Modellrechnungen wie auch die Erfahrungen mit den letzten Neubauten in England, Frankreich, Finnland, dass schon wegen der benötigten Zeit von Planung bis Fertigstellung neue AKWs kaum zur Bekämpfung des Klimawandels beitragen können. Ökonomisch ist das mit Shakespeares Hamlet so zu bewerten: „Though this be madness, yet there is method in it.“ Vollends bizarr erscheint die Debatte, wenn es um die Kostenrechnung geht. Dass neue AKWs, welcher Bauweise auch immer, überhaupt ernsthaft diskutiert werden, liegt am systematischen Ausblenden dreier Kostenfaktoren: der Kosten von Bau und Betrieb, der Versicherung bei Unfällen, der Endlagerung. Das aktuell größte Projekt bei AKW-Neubauten in Europa liegt in Großbritannien, Hinkley Point C. 2016 begonnen, steigen die Baukosten beständig und liegen mittlerweile bei 27 Mrd. Euro, Datum der Fertigstellung offen (FR, 2021). Das wäre auf deutsche Verhältnisse übertragen fast die Hälfte des nicht kleinen Klima- und Transformationsfonds des Bundesfinanzministeriums. Dabei wurde dieses Mammutprojekt nur möglich, weil die britische Regierung den Betreibern über Jahrzehnte eine Einspeisevergütung garantiert hat, die schon jetzt fast das Doppelte des Preises für Offshore-Windkraft-Elektrizität beträgt (SZ, 2021). Die erste Schlussfolgerung zu einer Einordnung als nachhaltig müsste also lauten, dass solche Subventionen von der EU künftig nicht mehr erlaubt werden dürfen. Denn die Regelung für Hinkley Point C hatte tatsächlich das vorherige Placet der Kommission, sodass auch der von Österreich angerufene EuGH später keinen formalen Fehler finden konnte (Zeit, 2020).

Noch verzerrender sieht es bei der Haftung für Unfälle aus. Im Unterschied zu Regelungen für Betreiber anderer Industrieanlagen oder private Haushalte – man denke nur an Haftpflichtprämien für Autohalter:innen – sind AKWs in Europa bis zur Lächerlichkeit untergedeckt. Eine Studie von Green Planet Energy (2017) schlussfolgerte: „So lägen die wahrscheinlichen Kosten für einen Super-GAU in Europa bei 100 bis 430 Milliarden Euro, während die international vereinbarte Haftungs- und Deckungsvorsorge meist auf dreistellige Millionenbeträge begrenzt ist.“ Das Haupt-Atombetreiberland Frankreich zeigt eine Relation von Haftungsbetrag und tatsächlich zu erwartender Schadenshöhe von 1:143, zwei seiner osteuropäischen Sekundanten sogar von 1:787 (Ungarn) oder von 1:1.351 (Tschechien). Die zweite Schlussfolgerung für eine tatsächlich nachhaltige EU-Politik sollte also sein: Auch Eigentümer von Nuklearenergieanlagen sollten bei Unfällen zukünftig voll haften müssen und dafür müssten realistische Schadensschätzungen vorliegen. Um Manipulationen auszuschließen, sollten tatsächliche Versicherungspolicen privater Anbieter verlangt werden und diese hätten auch nachzuweisen, dass ihre Vermögenswerte durch einen Atomunfall der von ihnen versicherten Anlagen nicht selbst signifikant tangiert werden. Das französische Beispiel mit vielen überalterten Anlagen zeigt die Notwendigkeit einer realistischen Neubewertung überdeutlich. Schon das nur zeitweise Abschalten von zwei Meilern im Dezember 2021 wegen neu entdeckter Mängel ließ den Kurs des Betreibers, der EDF, um 13 % einbrechen (Tagesschau, 2021).

Auch bei den Kosten für Abbau und Endlagerung schneidet Atomenergie im Vergleich zur erneuerbaren Energie dramatisch schlecht ab. Vor Jahren hat das Bundeswirtschaftsministerium eine Kostenschätzung in Auftrag gegeben. Die Gutachter kamen auf etwa 170 Mrd. Euro über viele Jahrzehnte, merkten aber auch an, das könne noch erheblich teurer werden (FAZ, 2016). Und der Großteil davon blieb natürlich an den Steuerzahler:innen hängen, nicht bei den Betreibern. Die mussten nach dem Entsorgungsfondsgesetz von 2017 nur 24 Mrd. Euro einzahlen und haben damit alle weitere Verantwortlichkeit abgegolten. Dass bis heute in ganz Europa nach langen Jahrzehnten der Atomenergie noch gar kein richtiges Endlager existiert, sei nur am Rande vermerkt (World Nuclear Waste Report, 2019). Die dritte Schlussfolgerung ist somit: Auch die realistischen Kosten für die Endlagerung müssten in Zukunft den Betreibern voll auferlegt werden. Eigentlich bedürfte es einer europaweiten Gesetzesänderung, dass aufgrund der Langfristigkeit der Verbindlichkeiten und des immens hohen Finanzbedarfs dafür eine Nachschusspflicht auch bei Gesellschaften mit eigentlich beschränkter Haftung einzuführen ist.

Literatur

FAZ (2016), Das kostet den Steuerzahler der Atommüll, 2. Mai.

FR (2021), Britischer Meiler kostet mehr, 3. Februar.

Green Planet Energy (2017), Kosten eines Super-GAUs übersteigen internationale Haftungsgrenzen um das Hundert- bis Tausendfache.

SZ (2021), Das Märchen von der sauberen Energie, 22. Dezember.

Tagesschau (2021), Frankreich muss zwei Meiler abschalten, 16. Dezember.

World Nuclear Waste Report (2019), The World Nuclear Waste Report.

Zeit (2020), EuGH erklärt Subventionen für britisches AKW für rechtmäßig, 22. September.

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© Der/die Autor:in 2022

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DOI: 10.1007/s10273-022-3079-6