Seit dem Haushaltsjahr 2020 sind die Bundesländer verpflichtet, das Verschuldungsverbot nach Art. 109 (3) GG zu beachten. In diesem Zusammenhang konnten sie sich für ein Konjunkturbereinigungsverfahren entscheiden. Mit Ausnahme von Bayern wenden alle Bundesländer ein solches Verfahren zur Ermittlung der Konjunkturkomponente an. Aus den bisher durchgeführten Verfahren und ermittelten Konjunkturkomponenten lassen sich erste Schlussfolgerungen für mögliche und teilweise notwendige Weiterentwicklungen ziehen.
Für das Haushaltsjahr 2020 mussten die Bundesländer nach Art. 143d Grundgesetz (GG) erstmals einen Haushalt aufstellen, der dem Verschuldungsverbot des Art. 109 (3) S. 5 GG entspricht. Das Konjunkturbereinigungsverfahren soll es den Haushalten ermöglichen, abhängig von der konjunkturellen Entwicklung „atmen“ zu können.
Abseits des grundsätzlichen Neuverschuldungsverbots ist es aus makroökonomischer Sicht vernünftig, die automatischen Stabilisatoren zum Ausgleich konjunktureller Ausschläge in ihrer Wirksamkeit nicht zu beeinträchtigen. Daher kann nach Art. 109 (3) S. 2 GG eine Konjunkturkomponente berücksichtigt werden, die den fiskalischen Handlungsspielraum, abhängig von der konjunkturellen Lage, erweitert oder beschränkt. Abgesehen von Bayern haben sich alle Bundesländer dazu entschieden, ein Konjunkturbereinigungsverfahren zu implementieren, das die jeweilige Konjunkturkomponente ermittelt. Es lassen sich grundsätzlich zwei Verfahren unterscheiden (Deutsche Bundesbank, 2017, 36 f.). Zum einen makrobasierte Verfahren, die makroökonomische Kennzahlen aggregieren und auf den jeweiligen Länderanteil umrechnen. Sofern es die Länder betrifft, wird auch vom aggregierten Quotierungsverfahren gesprochen (Bauer et al., 2010, 17). Hier kann noch einmal zwischen dem Bundesverfahren und dem Konsolidierungshilfeverfahren unterschieden werden.1 Zum anderen steuerglättende Verfahren, die auf unterschiedliche Weise Aufkommensschwankungen in den Steuereinnahmen der Länder bereinigen, also glätten. Hier kann wiederum zwischen dem Steuertrendverfahren und dem Steuerniveauverfahren unterschieden werden. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die von den Bundesländern genutzten Konjunkturbereinigungsverfahren.
Tabelle 1
Konjunkturbereinigungsverfahren der Länder
Verfahren | Bundesland | |
---|---|---|
makrobasierte Verfahren | Bundesverfahren | BW, BE |
Konsolidierungshilfeverfahren | BB, HB, HE, NI, NW, SL, SH, ST | |
steuerglättende Verfahren | Steuertrendverfahren | HH, RP |
Steuerniveauverfahren | MV, SN, TH |
Quelle: Landesverfassungen und Landeshaushaltsordnungen; eigene Darstellung.
Makrobasierte Verfahren
Makrobasierte Verfahren folgen im Kern dem EU-Verfahren zur Ermittlung der Konjunkturkomponente. Ohne hier auf jedes Detail eingehen zu können, vollziehen sich die makrobasierten Verfahren in zwei Schritten (Deutsche Bundesbank, 2017, 39 f.). Zunächst wird eine Schätzung der Ex-ante-Konjunkturkomponente vorgenommen, d. h. der Konjunkturkomponente zum Zeitpunkt der Aufstellung des Haushaltsentwurfs, die einen Einfluss auf die zulässige Nettokreditaufnahme hat. Hierzu wird ermittelt, wie groß die (negative bzw. positive) Produktionslücke ist, also die Abweichung der Produktion vom geschätzten Produktionspotenzial der Volkswirtschaft. Das Produktionspotenzial wird mithilfe der Cobb-Douglas-Produktionsfunktion geschätzt, die als „Commonly Agreed Method“ von allen EU-Mitgliedstaaten angewendet wird. Die Daten für die Schätzung des Produktionspotenzials in Deutschland stammen aus einer Vielzahl statistischer Quellen, unter anderem den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen sowie der Anlagenvermögensrechnung und Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts.
Die Produktionslücke wird mit der Budgetsemielastizität der Länder multipliziert. Die Budgetsemielastizität gibt an, um wie viel Prozentpunkte sich das Verhältnis von Finanzierungssaldo und dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) ändert, wenn sich das BIP um 1 % erhöht bzw. vermindert (BMF, 2019, 36). Die Budgetsemielastizität wird von der OECD und der EU-Kommission für die Mitgliedstaaten berechnet und anschließend vom Bundesministerium der Finanzen (BMF) auf die Ebenen Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen aufgeteilt. Das ist zuletzt 2018 geschehen. Demnach beträgt die Budgetsemielastizität der Länder derzeit 0,134. Das Produkt von Produktionslücke und Budgetsemielastizität der Länder ergibt die Ex-ante-Konjunkturkomponente der Ländergesamtheit. Dieser Wert muss schließlich noch in der vertikalen Aufteilung auf das jeweilige Land umgerechnet werden. Dies erfolgt mithilfe eines Quotierungsschlüssels, der sich aus dem Anteil der Steuereinnahmen eines Landes am Steueraufkommen der Ländergesamtheit ergibt.2 Tabelle 2 veranschaulicht das Vorgehen am Beispiel der Berechnung der Ex-ante-Konjunkturkomponente im ersten Nachtragshaushalt 2021 des Landes Berlin.
Tabelle 2
Berechnung der Ex-ante-Konjunkturkomponente im ersten Nachtragshaushalt 2021 des Landes Berlin
lfd. Nr. | Mio. Euro | |
---|---|---|
1 | nominales BIP | 3.514.900 |
2 | nominales Produktionspotenzial | 3.578.100 |
3 (= 1-2) | Produktionslücke | -63.200 |
4 | Budgetsemielastizität Länder (ohne Einheit) | 0,134 |
5 (= 3*4) | Ex-ante-Konjunkturkomponente Ländergesamtheit | -8.475,10 |
6 | Anteil Berlins (ohne Einheit) | 0,062 |
7 (= 5*6) | Anteil Berlins | -528,00 |
8 | Budgetsemielastizität Gemeinden (ohne Einheit) | 0,574 |
9 (= 3*8) | Ex-ante-Konjunkturkomponente Gemeindegesamtheit | -3.627,70 |
10 | Anteil Berlins (ohne Einheit) | 0,043 |
11 (= 9*10) | Anteil Berlins | -154,50 |
12 (= 7+11) | Ex-ante-Konjunkturkomponente Berlin | -682,50 |
Quelle: Nachtrag zum Haushaltsplan von Berlin für das Haushaltsjahr 2021, 144; eigene Darstellung.
In einem zweiten Schritt wird zum Haushaltsabschluss die Ex-post-Konjunkturkomponente ermittelt. Hier unterscheiden sich die makrobasierten Verfahren aufgrund der herangezogenen Kennzahlen. So bereinigen Baden-Württemberg und Berlin, die sich an das Bundesverfahren anlehnen, zur Berechnung der Ex-post-Konjunkturkomponente die Ex-ante-Konjunkturkomponente um die Abweichung des tatsächlichen nominalen BIP bei Haushaltsabschluss vom geschätzten nominalen BIP bei Haushaltsaufstellung.
Das Konsolidierungshilfeverfahren ermittelt die Ex-post-Konjunkturkomponente, indem die Ex-ante-Konjunkturkomponente um die Steuerabweichungskomponente bereinigt wird. Die Steuerabweichungskomponente wird definiert als „Abweichung zwischen den tatsächlichen Steuereinnahmen im jeweiligen Haushaltsjahr, soweit sie nicht auf Rechtsänderungen zurückzuführen sind, und den geschätzten Steuereinnahmen zum Zeitpunkt der Berechnung der Ex-ante-Konjunkturkomponente“ (Stabilitätsrat, 2011, 1). Dem liegt also die Prämisse zugrunde, dass alle Abweichungen der Ist-Steuereinnahmen von den geschätzten Steuereinnahmen bei Haushaltsaufstellung konjunkturbedingte Ursachen haben, sofern sie nicht durch Änderungen im Steuerrecht induziert sind.3
Die Ermittlung einer Ex-post-Konjunkturkomponente ist, erst einmal unabhängig von ihrer konkreten Berechnung betrachtet, sinnvoll. Denn nur so ist es möglich, die bei Haushaltsaufstellung recht vagen Schätzungen nachträglich an die realen Verhältnisse anzupassen und die durch die Konjunkturkomponente veränderte zulässige Nettokreditaufnahme zu korrigieren, obgleich das eine eher volatile Haushaltspolitik nach sich zieht. Allerdings können nur so auch unvorhersehbare Ereignisse, wie z. B. die Coronapandemie, sachgerecht im Haushalt abgebildet werden.
Grundsätzlich ist für die Landesebene aber die Ermittlung der Ex-post-Konjunkturkomponente nach dem Konsolidierungshilfeverfahren dem Bundesverfahren vorzuziehen. Durch die Berücksichtigung der Steuerabweichungskomponente werden die stark konjunkturreagiblen Steuereinnahmen der Länder als nachvollziehbarer und realistischer Maßstab einbezogen. Damit wird die Situation in den Ländern besser abgebildet als durch die weiter auf der gesamtstaatlichen Produktionslücke fußenden Berechnung der Ex-post-Konjunkturkomponente im Bundesverfahren.
Steuerglättende Verfahren
Steuerglättende Verfahren nutzen keine makroökonomischen Kennzahlen, um die Konjunkturkomponente zu berechnen. Sie konzentrieren sich auf den Umstand, dass auf Landesebene allein die Steuereinnahmen die wesentliche konjunkturreagible Größe im Landeshaushalt sind. Im Kern werden hier die Steuereinnahmen um Aufkommensschwankungen bereinigt (d. h. geglättet), wobei die Abweichungen als konjunkturbedingt interpretiert werden.
Das Steuertrendverfahren schreibt hierzu einen in der Vergangenheit einmalig festgelegten Startwert mit einer trendmäßigen Wachstumsrate fort. Das Trendwachstum stellt gewissermaßen die Entwicklung der geschätzten Normallage der Volkswirtschaft des jeweiligen Landes dar. Folgerichtig werden alle (positiven wie negativen) Abweichungen von diesem Trend als konjunkturell bedingt interpretiert.
Das Steuerniveauverfahren nutzt hingegen kein fortgeschriebenes Trendwachstum, sondern einen rollierenden, d. h. fortlaufend neu berechneten Durchschnitt der Steuereinnahmen eines bestimmten Zeitraums als Basis. Hier werden wiederum alle Abweichungen von diesem Durchschnitt als konjunkturell bedingt interpretiert.
Vergleich der Verfahren
Vor dem Hintergrund, dass die Mehrheit der Bundesländer erst im Haushaltsjahr 2020 begonnen hat, ein Konjunkturbereinigungsverfahren durchzuführen, ist eine abschließende Beurteilung und Bewertung der Funktionsfähigkeit der jeweiligen Konjunkturbereinigungsverfahren noch nicht möglich. Da in sie noch keine vollen Konjunkturzyklen eingefasst sind, ist nicht klar, inwiefern die Verfahren tatsächlich in der Lage sind, Auf- und Abschwünge symmetrisch zu berücksichtigen, ohne zu einer bestimmten Seite zu verzerren. Unterschiedliche Simulationen der Auswirkungen verschiedener Konjunkturbereinigungsverfahren (Arbeitskreis, 2016; Deutsche Bundesbank, 2017) kamen jedoch zu dem Ergebnis, dass die unterschiedlichen Verfahren in den simulierten Jahren durchaus stark voneinander abweichende Konjunkturkomponenten ergeben hätten. Demnach hätte sich je nach Verfahren der fiskalische Handlungsspielraum der Länder unterschieden.
So zeigen die Simulationen, dass die verschiedenen Konjunkturbereinigungsverfahren sowohl hinsichtlich der prognostizierten Normallage als auch der größeren bzw. kleineren Spielräume zur Aufnahme von Krediten, die sie eröffnen, mitunter große Unterschiede aufweisen. Je nach Kennziffer weisen jedoch alle Verfahren spezifische Vor- und Nachteile auf, die keine eindeutige Gütebewertung zulassen (Arbeitskreis, 2016, 47). Darüber hinaus muss hervorgehoben werden, dass die Ergebnisse aufgrund ihres simulativen Charakters vorsichtig zu interpretieren sind. Die Güte eines Konjunkturbereinigungsverfahrens, die sich in erster Linie anhand seiner symmetrischen und damit ausgewogenen Berücksichtigung von Auf- und Abschwüngen ergibt, kann erst dann bewertet werden, wenn die Verfahren über einen oder mehrere Konjunkturzyklen hinweg praktisch angewendet wurden.
Ein damit eng verknüpftes, zentrales Problem aller Konjunkturbereinigungsverfahren ist die Tatsache, dass die zentrale Kennzahl der Normallage, unabhängig davon, wie sie im jeweiligen Verfahren definiert wird, lediglich geschätzt und nicht beobachtet werden kann. Obwohl es also ökonomisch sinnvoll ist, im Rahmen der Kreditaufnahmekapazitäten eine Konjunkturkomponente zu berücksichtigen, wird gerade dadurch die Ermittlung fiskalischer Handlungsspielräume diffus. Neben der Symmetrie, die das zentrale Gütekriterium eines Konjunkturbereinigungsverfahrens ist, sollten daher auch die Revisionsanfälligkeit, die potenzielle Manipulationsanfälligkeit sowie Transparenz respektive Nachvollziehbarkeit in die Betrachtung einbezogen werden.
Die Tatsache, dass die makrobasierten Verfahren auf Produktionspotenzialschätzungen beruhen, die wiederum über die Schätzung verschiedener Variablen vorgenommen wird, deutet schon darauf hin, dass diese Verfahren eine höhere Revisionsanfälligkeit haben als die steuerglättenden Verfahren (Feld et al., 2021, 6). Je größer der Anteil an Schätzvariablen bei der Ermittlung der Konjunkturkomponente ist, desto größer ist mitunter auch die Notwendigkeit, Ergebnisse ex post zu revidieren und an neue Erkenntnisse anzupassen, was wiederum die Vagheit des Verfahrens und schließlich die Sprunghaftigkeit der Finanzpolitik erhöht (Deutsche Bundesbank, 2022, 55).
Eine hohe Manipulationsanfälligkeit bei der Berechnung der Konjunkturkomponente läuft der ökonomischen Vernunft dieser Größe zuwider, da es gerade nicht darum gehen darf, dass sie zur diskreten Schaffung oder Begrenzung finanzieller Handlungsspielräume der Politik instrumentalisiert werden kann. Insofern sind jene Verfahren besonders manipulationsanfällig, die entweder durch geringe Nachvollziehbarkeit oder geringe Transparenz gekennzeichnet sind. So sind die makrobasierten Verfahren aufgrund ihrer hohen Komplexität und der Schätzvariablen, die mithilfe ökonometrischer Modelle berechnet werden, relativ manipulationsanfällig, sofern ihre einzelnen Parameter im Zeitverlauf „einfach“ variiert werden können. Aus Sicht der Bundesländer verfängt dieses Argument allerdings nicht, da die wesentlichen Schätzvariablen auf EU- und Bundesebene ermittelt werden und daher von den einzelnen Landesregierungen politisch kaum beeinflussbar sind.
Die steuerglättenden Verfahren zeichnen sich durch eine vergleichsweise hohe Transparenz und Nachvollziehbarkeit aus, da sie die Konjunkturkomponente mit nur wenigen verfügbaren Kennziffern bestimmen. Daher sind sie nur eingeschränkt manipulationsanfällig. Die Art der Berücksichtigung von Steuerrechtsänderungen bietet hier jedoch Raum für Gestaltung. Dies gilt allerdings auch für die Konsolidierungshilfeverfahren, da auch bei ihnen die Steuerrechtsänderung bei der Ermittlung der Steuerabweichungskomponente eine Rolle spielen.4
Bei der Gegenüberstellung der berechneten Ex-ante-Konjunkturkomponenten für das Haushaltsjahr 2021 müssen drei Umstände beachtet werden. Erstens war auch das Haushaltsjahr 2021 wesentlich von der Coronapandemie und ihren Auswirkungen geprägt. Diese besondere Situation erfordert eine vorsichtige Bewertung der dargestellten Konjunkturkomponenten. Zweitens haben die Analysen der Haushaltspläne ergeben, dass längst nicht alle Bundesländer bei der rechnerischen Darstellung ihrer Konjunkturbereinigung so transparent sind, wie z. B. Berlin. So lassen sich für Sachsen keine Angaben zur Konjunkturkomponente finden, Schleswig-Holstein und das Saarland legen wiederum nicht die einzelnen Berechnungsschritte offen. Drittens erlaubt eine solche Punktbetrachtung nur eines Haushaltsjahres keine gesicherte Aussage über die Güte der jeweiligen konkret umgesetzten Konjunkturbereinigungsverfahren des Bundes und der Länder im Zeitverlauf. Dennoch lassen sich aus dem bisher vorliegenden empirischen Material erste instruktive Erkenntnisse ableiten.
Auffällig ist zunächst die allgemein große Spannweite, in der sich die berechneten Konjunkturkomponenten bewegen. Sie reicht von gut 1,3 Mrd. Euro in Rheinland-Pfalz bis hin zu null Euro in Mecklenburg-Vorpommern. Dass Mecklenburg-Vorpommern 2021 das einzige Land war, dessen Konjunkturbereinigungsverfahren keine konjunkturbedingte Kreditaufnahme zugelassen hat, lässt sich überwiegend mit der vergleichsweise restriktiven Definition der Abweichung von der Normallage in dem Land erklären. Nach § 18 (2) LHO besteht eine Abweichung von der konjunkturellen Normallage nur, wenn die Höhe der Steuereinnahmen den rollierenden Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre um 3 % über- oder unterschreitet. Da die bei der Haushaltsaufstellung geschätzten Steuermindereinnahmen für 2021 den Durchschnitt um weniger als 3 % unterschritten haben, lag also definitionsgemäß keine Abweichung von der konjunkturellen Normallage vor.
Darüber hinaus fällt auf, dass sowohl Hamburg als auch Rheinland-Pfalz, die beide das Steuertrendverfahren nutzen, mit einer negativen Konjunkturkomponente von jeweils über 1 Mrd. Euro relativ stark nach oben ausreißen. Angesichts der vorgestellten Simulationen, die gezeigt haben, dass die Konjunkturkomponenten im Steuertrendverfahren sehr volatil sind, ist demgegenüber aber bei einem konjunkturellen Aufschwung in den Folgejahren eine stärker positive Konjunkturkomponente zu erwarten als bei den anderen Bundesländern. In der Tabelle 4 werden die Konjunkturkomponenten der Tabelle 3 in das prozentuale Verhältnis zum nominalen BIP (linke Spalte) bzw. der Steuereinnahmen (rechte Spalte) des jeweiligen Landes gesetzt. Damit relativieren sich die absoluten Abstände der Konjunkturkomponenten zueinander. Allerdings stehen auch hier Hamburg und Rheinland-Pfalz mit weitem Abstand an der Spitze.
Tabelle 3
Vergleich der Ex-ante-Konjunkturkomponenten 2021
Verfahren | Bundesland | in Mio. Euro |
---|---|---|
Bundesverfahren | Bund (nachrichtlich) | -13.865,0 |
Baden-Württemberg | -150,2 | |
Berlin | -682,5 | |
Konsolidierungs- hilfeverfahren | Brandenburg | -255,4 |
Bremen | -101,9 | |
Hessen | -674,2 | |
Niedersachsen | -673,0 | |
Nordrhein-Westfalen | -231,0 | |
Saarland | -85,0 | |
Sachsen-Anhalt | -1,6 | |
Schleswig-Holstein | -240,2 | |
Steuertrendverfahren | Hamburg | -1.195,7 |
Rheinland-Pfalz | -1.362,0 | |
Steuerniveauverfahren | Mecklenburg-Vorpommern | 0 |
Thüringen | -288,0 |
Sachsen ist aufgrund fehlender eindeutiger Daten nicht berücksichtigt.
Quelle: Haushaltspläne, Stabilitätsberichte und Finanzberichte der Länder und des Bundes; eigene Darstellung.
Tabelle 4
Ex-ante-Konjunkturkomponenten im Verhältnis zum jeweiligen Landes-BIP bzw. Steuereinnahmen 2021
Bundesland | in % zum jeweiligen Landes-BIP | in % zu den jeweiligen Steuereinnahmen |
---|---|---|
Hamburg | 0,944 | 10,007 |
Rheinland-Pfalz | 0,840 | 9,697 |
Thüringen | 0,440 | 4,021 |
Berlin | 0,419 | 2,889 |
Brandenburg | 0,325 | 2,957 |
Bremen | 0,298 | 2,611 |
Saarland | 0,239 | 2,525 |
Schleswig-Holstein | 0,230 | 2,350 |
Hessen | 0,223 | 2,982 |
Niedersachsen | 0,213 | 2,479 |
Nordrhein-Westfalen | 0,032 | 0,369 |
Baden-Württemberg | 0,028 | 0,369 |
Sachsen-Anhalt | 0,002 | 0,021 |
Mecklenburg-Vorpommern | 0 | 0 |
Bund (nachrichtlich) | 0,388 | 4,732 |
Quelle: Ergebnisse der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen der Länder (Stand: Februar 2022); Statistisches Bundesamt; Gruppierungsübersichten in den Haushaltsplänen 2021 der Länder und des Bundes; eigene Berechnungen.
Abbildung 1 veranschaulicht die konjunkturbedingten Kreditaufnahmekapazitäten der Länder und des Bundes pro Kopf in Euro. Dass selbst bei der Anwendung des gleichen Konjunkturbereinigungsverfahrens dennoch die spezifischen institutionellen Rahmenbedingungen, vor allem die landesrechtliche Ausgestaltung des Verfahren, eine große Rolle bei der Ermittlung der Konjunkturkomponente spielen können, verdeutlicht der Vergleich zwischen Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern. Obwohl beide Länder das Steuerniveauverfahren anwenden, war es für Thüringen 2021 bei Haushaltsaufstellung möglich, rund 136 Euro je Einwohner an konjunkturbedingten Krediten aufzunehmen, wohingegen Mecklenburg-Vorpommern keinerlei Kreditaufnahmekapazitäten nutzen konnte. Dies liegt an den strengen Zügeln, die Mecklenburg-Vorpommern an das Verfahren angelegt hat.
Abbildung 1
Konjunkturbedingte Kreditaufnahmekapazität je Einwohner:in 2021
Quelle: Statistische Ämter der Länder (Stand: April 2022) sowie Statistisches Bundesamt; eigene Berechnungen.
Neben der konkreten landesrechtlichen Konstruktion der Konjunkturbereinigungsverfahren hat aber auch der Zeitpunkt der Haushaltsaufstellung einen großen Einfluss auf die Höhe der konjunkturbedingten Kreditaufnahme. Das wird bei einem Vergleich zwischen Baden-Württemberg und Berlin sehr deutlich. Beide Länder wenden das Bundesverfahren an, doch während Baden-Württemberg nur rund 14 Euro je Einwohner an konjunkturbedingten Krediten aufnehmen konnte, waren es in Berlin gut 186 Euro. Das liegt vor allem daran, dass Berlin in seinem ersten Nachtragshaushalt 2021, auf den sich der dargestellte Wert bezieht, bereits die wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronapandemie, die 2020 noch massiv unterschätzt wurden, einbeziehen konnte. So lag der Ermittlung der Konjunkturkomponente eine negative Produktionslücke von 63,2 Mrd. Euro zugrunde. Die Konjunkturkomponente von Baden-Württemberg basiert auf Schätzungen aus der Herbstprojektion 2019, da das Land für 2020 und 2021 einen Doppelhaushalt erlassen hat. Demnach sind die wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronapandemie dort noch nicht eingepreist und die prognostizierte negative Produktionslücke betrug lediglich 8,8 Mrd. Euro. Darüber hinaus macht Baden-Württemberg von der Möglichkeit, für Nachtragshaushalte auch die Konjunkturkomponente neu zu berechnen, keinen Gebrauch, sodass die realen Verhältnisse unterjährig im Haushalt nicht abgebildet werden.
Fazit
Gerade vor dem Hintergrund des Vorhabens der amtierenden Bundesregierung, das Konjunkturbereinigungsverfahren in der laufenden Legislaturperiode zu evaluieren, spielt die Bewertung der bisher eingesetzten Verfahren eine wichtige Rolle. Obgleich durch die technisch gesehen vier existierenden Verfahren in Deutschland ein Flickenteppich an Regelungen entstanden ist und sich die konkrete Anwendung gleicher Verfahren zwischen den Ländern noch einmal unterscheidet, sind damit Experimentierräume geschaffen, die auch als Chance begriffen werden können. So ist es nicht nur möglich, dass die verschiedenen Regelungen auf die spezifischen Ländersituationen individuell aufsetzen, sondern es können darüber hinaus künftig differenzierte Analysen unter Berücksichtigung verschiedener Kontextbedingungen durchgeführt werden.
Demnach ist es auch nicht möglich, eine eindeutige Empfehlung eines Verfahrens für alle Länder und Ebenen auszusprechen, da wohlüberlegt zwischen den Vor- und Nachteilen abgewogen werden muss. So sind die makrobasierten Verfahren zwar überaus komplex und daher schwer nachvollziehbar, allerdings aber gerade aufgrund ihrer ökonometrischen Verankerung auf EU-Ebene standardisiert und gegenüber diskretionären Eingriffen insbesondere der Länder gut geschützt.
Anders verhält es sich auf Bundesebene, denn hier sind durchaus Gestaltungsspielräume vorhanden, indem bestimmte Variablendefinitionen verändert werden können. So setzt sich z. B. die Variable „Arbeitspotenzial“ in der Cobb-Douglas-Produktionsfunktion unter anderem aus der Partizipationsrate und den Arbeitsstunden je erwerbstätiger Person zusammen. Je nachdem wie diese Variablen statistisch konkret definiert werden, wäre es prinzipiell möglich, das Produktionspotenzial nach oben zu schrauben und damit die Spielräume für konjunkturbedingte Kredite aufgrund größerer negativer Produktionslücken zu erhöhen. Diese Möglichkeit gibt es aber nicht bei allen Variablen, da einige Daten direkt von der OECD bzw. EU-Ebene geliefert werden.
Steuerglättende Verfahren sind wiederum aufgrund ihrer Nachvollziehbarkeit und der transparenten Datengrundlage gut evaluier- und überprüfbar, jedoch auf Länderebene potenziell manipulationsanfälliger, sowohl bei der Festlegung des jeweiligen Stützzeitraums zur Definition des Trends bzw. rollierenden Durchschnitts als auch hinsichtlich der Berücksichtigung von Steuerrechtsänderungen. Allerdings lassen sich aufgrund der bisherigen Erkenntnisse einige Empfehlungen ableiten, die als Minimalbedingungen für die Weiterentwicklung der Konjunkturbereinigungsverfahren in Deutschland berücksichtigt werden sollten.
So muss das oberste Gebot die symmetrische Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung im Auf- und Abschwung sein. Konjunkturbereinigungsverfahren dürfen zu keiner Seite instrumentalisiert werden. Aufgrund der bisher begrenzten Datenlage lässt sich die praktische Umsetzung des Grundsatzes noch nicht abschließend beurteilen. Daher ist es wichtig, dass sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene Symmetriekonten eingeführt werden, auf die jeweils die jährliche und kumulierte Konjunkturkomponente verbucht werden. Bisher haben nur Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ein funktionierendes Symmetriekonto gesetzlich verankert.
Um darüber hinaus allgemeine Haushaltsdisziplin zu wahren und keine Fehlanreize zu setzen, sollte die durch konjunkturelle Abschwünge entstandene haushälterische Schieflage nicht ausschließlich durch Kredite auszugleichen sein. So sieht die Landesverfassung Sachsen im Art. 95 (4) vor, dass Steuermindereinnahmen grundsätzlich nur bis zu 99 % der durchschnittlichen Steuereinnahmen der vorangegangen vier Jahre durch Kredite ausgeglichen werden dürfen. Dies befördert die Konsolidierungsanstrengungen des Landeshaushalts, da der fehlende Prozentpunkt im laufenden Haushaltsvollzug zu erwirtschaften ist.
Schließlich sollten die Stützzeiträume der steuerglättenden Verfahren, die die Berechnungsgrundlage für entweder den Trend oder den rollierenden Durchschnitt sind, im Idealfall wenigstens einen Konjunkturzyklus umfassen, um eine rechnerische Annäherung an die Normallage zu gewährleisten. Hier decken die Länder, die sich für steuerglättende Verfahren entschieden haben, ein recht breites Spektrum ab, dass im Rahmen des Steuertrendverfahrens von acht Jahren in Rheinland-Pfalz bis hin zu 30 Jahren in Baden-Württemberg reicht.5 Auch hier ist es zwar nicht möglich, einen konkreten, idealen Stützzeitraum für alle Länder zu definieren. Allerdings sind hier ebenso Minimalbedingungen vorstellbar, die die Güte des Konjunkturbereinigungsverfahrens gewährleisten können. So muss es darauf ankommen, dass die Stützzeiträume hinreichend lang sind, um größere Schwankungsbreiten und somit erratische Fiskalpolitiken zu verhindern. Darüber hinaus sollte die Definition eines Anfangspunkts gut begründet und evaluiert werden. Problematisch wäre es z. B., wenn der Beginn eines Stützzeitraums auf einen konjunkturellen Abschwung gefallen ist und demnach die Gefahr besteht, dass die darauf basierenden Konjunkturkomponenten systematisch überschätzt werden und vice versa.
- 1 Diese Spielart makrobasierter Verfahren lehnt sich an das ursprünglich vom Stabilitätsrat entwickelte Bereinigungsverfahren an, das seinerzeit von den Ländern angewendet werden musste, die nach Art. 143d (2) GG Konsolidierungshilfen erhalten haben. Daher wird es als Konsolidierungshilfeverfahren bezeichnet.
- 2 Für Stadtstaaten unterscheidet sich das Verfahren von den Flächenländern, indem auch die Budgetsemielastizität der Gemeinden und der Quotierungsschlüssel auf Grundlage des Steueraufkommens der Gemeinden in Anschlag gebracht wird.
- 3 So waren z. B. die Mindereinnahmen des Länderanteils an der Umsatzsteuer 2020 nicht nur auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronapandemie zurückzuführen, sondern auch auf die befristete Absenkung des Umsatzsteuersatzes. Um die Konjunkturkomponente nicht zu verzerren, müssen die Mindereinnahmen aufgrund der Steuerrechtsänderungen herausgerechnet werden. Das BMF nimmt regelmäßig Schätzungen des Einflusses von Steuerrechtsänderungen auf die Steuereinnahmen vor.
- 4 So bezieht Schleswig-Holstein im Gegensatz zu den anderen Bundesländern auch solche Steuerrechtsänderungen in die Berechnung mit ein, die zwar noch nicht in der Steuerschätzung berücksichtigt sind, die aber bereits als sicher gelten können und über deren Berücksichtigung Einvernehmen im Stabilitätsrat herrscht (§ 4 (2) und (3) LVO KBV).
- 5 Baden-Württemberg nutzt erst seit dem Haushaltsjahr 2020 das Bundesverfahren. Bis dahin hat es das Steuertrendverfahren verwendet.
Literatur
Arbeitskreis „Haushaltsrecht und Grundsatzfragen“ der Rechnungshöfe des Bundes und der Länder (2016), Konjunkturbereinigungsverfahren in Deutschland, Arbeitspapier der Unterarbeitsgruppe „Konjunkturbereinigungsverfahren“.
Bauer, T., H. Gebhardt, M. Groneck, R. Kambeck, F. Matz und C. Schmidt (2010), Ermittlung der Konjunkturkomponenten für die Länderhaushalte zur Umsetzung der in der Föderalismuskommission II vereinbarten Verschuldungsbegrenzung, Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung.
BMF – Bundesministerium der Finanzen (2019), Aufteilung der 2018 neu berechneten Budgetsemielastizität auf Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen, Monatsbericht des BMF.
Deutsche Bundesbank (2017), Zur Konjunkturbereinigung der Länder im Rahmen der Schuldenbremse, Monatsbericht, März.
Deutsche Bundesbank (2022), Die Schuldenbremse des Bundes: Möglichkeiten einer stabilitätsorientierten Weiterentwicklung, Monatsbericht, April.
Feld, L., L. Nöh, W. Reuter und M. Yeter (2021), Von der Corona-bedingten Schuldenaufnahme zur Wiedereinhaltung der Schuldenbremse, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
Stabilitätsrat (2011), Verfahren zur Konjunkturbereinigung.