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„Belgien führt die Viertagewoche ein“, war Mitte Februar 2022 in vielen Zeitungen zu lesen. Die Schlagzeile verleitet zu Fehlinterpretationen, denn natürlich wird auch in Belgien die Arbeitszeit nicht von der Regierung festgelegt, sondern von Angestellten und Betrieben bzw. Tarifparteien ausgehandelt. Im Kern geht es bei der beabsichtigten Reform der belgischen Regierung nicht um staatlich verordnete Arbeitszeitverkürzung, sondern um eine Flexibilisierung. Bei gegebener Wochenarbeitszeit soll es Vollzeit-Angestellten ermöglicht werden, diese auf weniger Tage zu verteilen, indem – mit Zustimmung des Arbeitgebers – die tägliche Arbeitszeit erhöht wird. Bisher gilt in Belgien im Regelfall eine tägliche Höchstarbeitszeit von acht Stunden (Deutscher Bundestag, 2018, 3).

Ziel der Reform sei eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, mit deren Hilfe die Erwerbsbeteiligung erhöht werden soll. Bemühungen in diese Richtung erscheinen durchaus angebracht, denn die Erwerbsquoten in Belgien sind unterdurchschnittlich. Bei den Frauen lag sie im dritten Quartal 2021 mit 67 % 2 Prozentpunkte unter dem EU-Durchschnitt. In Deutschland nahmen dagegen 75 % aller Frauen im Erwerbsalter am Arbeitsmarkt teil (Eurostat, 2022).

Die Frage, ob die Regelung ein Modell für Deutschland sein könnte, führt in die Auslegung des Arbeitszeitgesetzes. Grundsätzlich beträgt die tägliche Höchstarbeitszeit acht Stunden. Sie kann aber auf bis zu zehn Stunden erhöht werden, wenn innerhalb eines halben Jahres ein Ausgleich erfolgt, sodass die Arbeitszeit im Durchschnitt acht Stunden werktäglich – das inkludiert den Samstag – nicht überschreitet. Wer vier Tage lang jeweils zehn Stunden arbeitet, kommt werktäglich lediglich auf 6,7 Stunden im Durchschnitt. Die Vollzeit-Viertagewoche nach belgischem Vorbild wäre mithin realisierbar. Mehr als zehn Stunden werktäglich sind allerdings nur in eng begrenzten Ausnahmefällen möglich.

Eine andere Frage ist, ob solch ein Modell für Angestellte und Betriebe attraktiv wäre. Aus Sicht der Arbeitnehmenden ist der zusätzliche freie Tag gegen anderweitig sehr lange Arbeitstage abzuwägen. Angestellte und Betriebe hätten zudem kaum noch Spielraum, die tägliche Arbeitszeit bedarfsgerecht und flexibel zu handhaben. Hinzu kommt, dass viele Betriebe eine gleichmäßige Auslastung ihrer Anlagen anstreben oder Dienstleistungen zu festen Zeiten erbringen müssen, etwa im Einzelhandel. Die mediale Aufmerksamkeit verdankt das belgische Vorhaben daher wohl eher dem verbreiteten Wunsch, man könne einen Tag weniger arbeiten, ohne dabei entsprechend weniger zu verdienen. Dies ist im Kern eine Frage, die von den Tarifparteien beantwortet werden muss. Diese verhandeln autonom und differenziert über Arbeitszeit und Entgelt. Dennoch stehen Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich im Raum.

Verkürzt lautet die Argumentation der Befürwortenden, dass eine Reduzierung der Arbeitszeit durch eine entsprechend höhere Produktivität ausgeglichen werden könne. Als Beleg wird auf verschiedene Unternehmen hingewiesen, die eine solche Arbeitszeitverkürzung erfolgreich vorgenommen haben, sowie auf Erfahrungen aus Island, wo die Viertagewoche eingeführt worden sei. Hinsichtlich der Unternehmensbeispiele ist auf die Tarifautonomie zu verweisen. Wenn sich beide Seiten auf ein Modell einigen, kann schwerlich etwas dagegen eingewendet werden. Das isländische Beispiel taugt bei näherer Betrachtung kaum als Beleg. Erstens ist in Island keineswegs die Viertagewoche eingeführt worden. Vielmehr gab es eine moderate Verkürzung der Arbeitszeit, weit überwiegend in einzelnen Einrichtungen des öffentlichen Dienstes. Zweitens musste diese teilweise durch mehr Überstunden ausgeglichen werden. Drittens ging die Arbeitszeitverkürzung mit Arbeitsverdichtung einher. Viertens konnten zwar viele Einrichtungen ihr Leistungsniveau halten, teils musste aber mehr Personal eingestellt werden (Haraldsson und Kellam, 2021).

Es erscheint fraglich, ob Effizienzsteigerungen im isländischen öffentlichen Dienst eine Blaupause für eine massive Steigerung der Stundenproduktivität in der deutschen Privatwirtschaft darstellen könnten. Ebenso wenig wahrscheinlich erscheint, dass in deutschen Unternehmen eine 20 %ige Produktivitätsreserve schlummert, die aus unerfindlichen Gründen bislang nicht gehoben werden konnte, zumal die Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität im Trend eher rückläufig sind. Daher erscheint es angebracht, die Frage der Kombination von Arbeitszeit und Entgelt auch weiterhin den Tarifparteien zu überlassen.

Literatur

Deutscher Bundestag (2018), Tägliche und wöchentliche Höchstarbeitszeiten in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Wissenschaftliche Dienste, AZ WD 6 - 3000 - 074/18.

Eurostat (2022), Erwerbsquoten nach Geschlecht, Alter und Staatsangehörigkeit, https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/lfsa_argan/default/table?lang=de (28. Februar 2022).

Haraldsson, G. D. und J. Kellam (2021), Going Public: Iceland’s Journey to a Shorter Working Week, https://autonomy.work/wp-content/uploads/2021/06/ICELAND_4DW.pdf (25.Februar 2022).

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© Der/die Autor:in 2022

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DOI: 10.1007/s10273-022-3123-6