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Dieser Beitrag ist Teil von Energiepreiskrise und Kriegssanktionen – die Energieversorgung von morgen

Sanktionen und ihre Wirksamkeit stehen seit Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine im Mittelpunkt der Diskussion um eine angemessene Reaktion. Spätestens seit die Grausamkeit des Krieges immer deutlicher wird und eine Bezahlung der Gaslieferungen in Rubel ins Spiel gebracht wurde, mehren sich Stimmen, die ein Erdgasembargo fordern. In der Diskussion um mögliche Folgen eines solchen Embargos schwanken die Prognosen von schwerwiegenden, aber handhabbaren Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung bis hin zu Massenarbeitslosigkeit und Deindustrialisierung. Im Kern steht die Frage, wie viel des russischen Erdgases primär bis zum kommenden Winter ersetzt und eingespart werden kann. Im Folgenden geben wir einen Überblick über vorliegende Analysen zu Auswirkungen eines Stopps russischer Erdgaslieferungen sowie zu Einspar- und Substitutionspotenzialen. Wir beziehen uns dabei primär auf Erdgas, da ein Ersatz ausbleibender Erdöl- und Steinkohle­lieferungen über die Weltmärkte einfacher möglich ist.

Stand der Diskussion

Seit Beginn des Krieges sind viele Studien zu den gesamtwirtschaftlichen Effekten eines Rückgangs der Erdgaslieferungen aus Russland und potenziellen Substitutionsmöglichkeiten erschienen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR Wirtschaft) gibt einen Überblick über Prognosen zu Abschlägen auf das deutsche BIP als Folge einer Verschärfung der Energiekrise (SVR Wirtschaft, 2022, Berger et al., 2022). Die Studien enthalten Szenarien, die von der Annahme eines Anstiegs der Erdöl- und Erdgaspreise bis hin zu einem massiven – temporären oder permanenten – Angebotsschock hinsichtlich der Verfügbarkeit von Erdgas rangieren. Die Abschläge liegen zwischen 0,2 und 6 Prozentpunkten relativ zu einem Basisszenario (Berger et al., 2022). Sollten die Gaslieferungen ausbleiben, sind die Wirkungen also massiv. Die Schätzungen liegen teilweise im Bereich des Einbruchs der wirtschaftlichen Aktivität aufgrund der Coronakrise 2020, wobei die Folgen eines Schocks in der Dimension eines Embargos natürlich mit ganz erheblichen Unsicherheiten verbunden wären (z. B. Bayer et al., 2022, SVR Wirtschaft, 2022, Berger et al., 2022).

Kritik an diesen Schätzungen stützt sich primär darauf, dass die Auswirkungen eines Schocks von der Stärke, die insbesondere bei einem kompletten Wegfall der Erdgaslieferungen gegeben wäre, nicht von den Modellen erfasst werden könnten. Bedingt durch einen solchen Schock käme es zu technischen, logistischen und ökonomischen Rigiditäten und Friktionen sowie Kaskadeneffekten, die durch die Modelle unterschätzt würden. Die Modellierer:innen wiederum verweisen auf äußerst konservative Annahmen hinsichtlich der unterstellten Substitutionsmöglichkeiten in der kurzen Frist (Bachmann et al., 2022).

Reduktion des Erdgasverbrauchs

Unsicherheit über die Wirkungen eines Erdgasembargos resultieren primär aus den Auswirkungen eines massiven Anstiegs der Gaspreise und potenzieller physischer Knappheiten von Erdgas. Hier spielt eine Reduktion des Erdgasverbrauchs durch Verhaltensanpassungen bei Haushalten ebenso eine Rolle wie Ersatz- und Einsparmöglichkeiten in Stromerzeugung und Industrie. Einen Überblick über die deutsche Verbrauchsstruktur bei Erdgas gibt Abbildung 1. Schätzungen zur Möglichkeit von Substitution in der Industrie sind auf einzelwirtschaftlicher Basis aufgrund der Komplexität der Lieferverflechtungen und der privaten Natur der zugrunde liegenden Informationen mit hoher Unsicherheit behaftet. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft, BDEW, schätzt die Möglichkeit für eine Substitution bis zum Winter 2022/2023 in den am stärksten betroffenen Branchen auf 2,6 % (Papiergewerbe) bis 13,2 % (Ernährung und Tabak). Für die größten industriellen Verbraucher von Erdgas, die Metallerzeugung und Grundstoffchemie, werden 12,5 % bzw. 4 % angegeben (BDEW, 2022). Die zugrunde liegenden Informationen sind allerdings schwer verifizierbar. Hinzu kommt, dass die „Substitutions- und Reduktionspotenziale […] statisch ermittelt [sind] und ohne Berücksichtigung marktlicher Effekte und ohne Bewertung der Wirtschaftlichkeit der einzelnen Optionen“ (BDEW, 2022, 7). Sie enthalten ebenfalls nicht die Möglichkeit eines Ersatzes durch Importe. Letztere sind jedoch insbesondere für die Schätzung potenzieller Kaskadeneffekte von hoher Bedeutung und werden in einigen Modellrechnungen wie Bachmann et al. (2022) zumindest auf Sektorenebene aggregiert berücksichtigt. Unklar ist ebenfalls, welche Prozesse skalierbar sind und welche bei einer auch nur anteilsmäßigen Einschränkung der Lieferung von Erdgas komplett und langfristig zum Erliegen kommen würden.

Abbildung 1
Erdgasverbrauch in Deutschland (2021) insgesamt (links) und in der Industrie (rechts)
Erdgasverbrauch in Deutschland (2021) insgesamt (links) und in der Industrie (rechts)

Quelle: Zukunft Gas (2022). * Gewerbe, Handel, Dienstleistungen

Einsparpotenziale bei den Haushalten liegen insbesondere in den 80 % ihres Verbrauchs, die sie für die Erzeugung von Wärme nutzen. Dabei wird geschätzt, dass eine Reduktion der Raumwärme um 1 °C zu einer Minderung des Verbrauchs für Heizenergie von 5 % bis 6 % führt (BDEW, 2022). Aber auch Lüftungsverhalten oder der Einbau von Thermostaten kann zu weiteren Einsparungen führen. Ob diese Potenziale gehoben werden, hängt allerdings in hohem Maße von den Reaktionen auf die steigenden Gaspreise ab, die schwer abzuschätzen sind. Empirische Studien für die USA kommen zu Preiselastizitäten von -0,2, die im Winter und für ärmere Haushalte bedeutend höher ausfallen können (Auffhammer und Rubin, 2018). Das bedeutet, dass ein Preisanstieg von 10 % zu einem Verbrauchsrückgang von 2 % führen würde. Allerdings können Nachfrageveränderungen bei großen Preisveränderungen anders ausfallen und auch die Übertragbarkeit ist nicht klar. So werden sich gestiegene Gasrechnungen für viele Haushalte in Mietwohnungen erst mit Abrechnung der Heizkosten manifestieren. Würde die Politik, z. B. im Rahmen eines Aktionsplans Energieeffizienz, Energieeinsparungen speziell anreizen, dürften die Einsparungen deutlich höher ausfallen.

Wie stark der Rückgang im Verbrauch in Haushalten und Wirtschaft sein wird, ist nicht zuletzt von der Entwicklung des Gaspreises abhängig. Wie diese ausfallen wird, ist allerdings ebenfalls schwer prognostizierbar. Das aktuelle Niveau der Gaspreise lässt trotz höherer Kosten für LNG-Gas, das inzwischen Russland als größte europäische Importquelle abgelöst hat, vermuten, dass hier bereits Risikoaufschläge in größerem Umfang eingepreist sind. Wie stark der Preis bei einem Embargo weiter steigen würde, ist insofern in gewissem Umfang Spekulation. Die eingangs erwähnten Modellrechnungen gehen beispielsweise von Gaspreisen bis zu 190 Euro/MWh aus. Der SVR Wirtschaft verwendet in seinen eigenen Berechnungen einen Gaspreis von 350 Euro/MWh (SVR Wirtschaft, 2022), Behringer et al. (2022) unterstellen einen Gaspreis von 900 Euro/MWh. Weitere Potenziale zum Ersatz von Erdgas werden in der Stromerzeugung gesehen. Im Jahr 2021 wurden im Bereich der öffentlichen Versorgung 51 TWh Strom aus Erdgas produziert. Rein mengenmäßig wäre ein Ersatz dieser Menge selbst unter Berücksichtigung der Ende 2021 und 2022 wegfallenden nuklearen Erzeugungskapazitäten durch die verstärkte Auslastung von Stein- und Braunkohlekraftwerken sowie eine Aktivierung von Reservekraftwerken ohne weiteres möglich. Einschränkungen hinsichtlich der Substituierbarkeit ergeben sich allerdings aus der gekoppelten Nutzung von Erdgas zur Erzeugung von Strom und Wärme in der öffentlichen wie auch industriellen Versorgung (BDEW, 2022).

Insgesamt kommt der BDEW auf ein kurzfristiges Reduktionspotenzial auf der Nachfrageseite von 19 % des gesamten Erdgaskonsums in Deutschland. Bezogen auf Importe aus Russland entspricht dies ungefähr einem Anteil von einem Drittel bis zur Hälfte.1 Agora Energiewende (2022) sieht ein kurzfristiges Einsparpotenzial bei Strom und Fernwärme, Gebäuden und Industrie in Deutschland von bis zu etwa 25 % im Vergleich zum Gasverbrauch 2021. Insgesamt liegen diese Schätzungen über dem Einsparpotenzial, das von Aurora (2022) für die gesamte EU mit 14 % gesehen wird. Auch Bruegel sieht für die EU eine Angebotslücke von 10 % bis 15 % im Falle eines Embargos, die aber geschlossen werden könne (McWilliams et al., 2022).

Alternative Importmöglichkeiten

Möglichkeiten eines Ersatzes der russischen Lieferungen durch Importe über andere Pipelines und Flüssiggas (LNG) sind nach Einschätzung der Europäischen Kommission, der internationalen Energieagentur, IEA, und Aurora nur in eingeschränktem Maße möglich (EC, 2022; IEA, 2022; Aurora, 2022). Dabei beziehen sich die Schätzungen in der Regel auf die gesamte EU. Der Import aus Norwegen und Nordafrika könnte etwas gesteigert werden (McWilliams et al., 2022). Das zusätzliche Pipeline-Potenzial für die EU wird auf 10 Mrd. m3 (IEA, 2022) bis 15 Mrd. m3 (Aurora, 2022) geschätzt; für zusätzliche Flüssiggasimporte sieht die IEA einen maximalen Aufwuchs von 60 Mrd. m3 (wobei 20 Mrd. m3 für realistischer gehalten werden), während die EU von 50 Mrd. m3 ausgeht und Aurora 24 bis 41 Mrd. m3 für machbar hält. Entscheidend ist, in welchem Umfang und in welcher Zeit LNG-Importe, etwa aus den USA und Katar, russisches Gas ersetzen könnten. Die USA haben angekündigt, schon in diesem Jahr gemeinsam mit internationalen Partnern mindestens 15 Mrd. m³ LNG-Gas mehr als geplant an die EU zu liefern (Europäische Kommission, 2022).

Technische Restriktionen in Bezug auf LNG ergeben sich insbesondere aus verfügbaren Terminalkapazitäten für die Anlandung, aber auch den Kapazitäten inner­europäischer Pipelines zum Transport von Häfen zum Verbrauchsort, insbesondere zwischen Spanien und Frankreich (Leopoldina, 2022). Wirtschaftliche Beschränkungen entstehen aus dem Wettbewerb um beschränkte LNG-Mengen, die kurzfristig auf internationalen Märkten verfügbar sind, und damit der Zahlungsbereitschaft im Verhältnis zu anderen Abnehmern, insbesondere in Asien. Nach diesen Schätzungen ergibt sich ein Ersatzpotenzial von 20 % bis 50 % des im Jahr 2021 über Pipelines aus Russland in die EU gelieferten Erdgases. Welcher Anteil dieser zusätzlichen Importe auf Deutschland entfallen würde, ist unklar und wird auch davon abhängen, welche Kapazitäten sich Deutschland auf den internationalen Märkten sichern kann bzw. – im Falle einer sinnvollen stärkeren EU-Kooperation bei der Erschließung weiterer Importpotenziale – von der Aufteilung dieser Mengen auf EU-Ebene. Deutschland verfügt zwar bisher über keine eigenen LNG-Terminals, kann aber grundsätzlich auf LNG-Importkapazitäten und Pipelineanschlüsse in anderen EU-Staaten zurückgreifen (Agora, 2022).

Insgesamt verbleibt nach den verschiedenen Berechnungen bei komplettem Wegfall der Gaslieferungen aus Russland eine Deckungslücke auf der Angebotsseite für den Winter 2022/2023, die allerdings zwischen den verschiedenen Studien stark variiert. Sie reicht von 11 % auf EU-Ebene (Aurora, 2022) und 25 bis 32 % für Deutschland (Agora Energiewende, 2022). Dies setzt allerdings ein Auffüllen der Erdgasspeicher vor dem Winter 2022/2023 zur intertemporalen Umverteilung der Erdgaslieferungen voraus. Inwieweit eine solche Befüllung möglich sein wird, dürfte ebenfalls vom Zeitpunkt eines Stopps der russischen Lieferungen abhängen.

Unsicherheiten in den Schätzungen

Die vorherigen Ausführungen sollten deutlich gemacht haben, mit wie viel Unsicherheit Verbrauchsreduktionen und zusätzliche Erdgasimporte aus anderen Ländern für Deutschland verbunden sind. Im Bereich der Haushalte ist schwer zu prognostizieren, welche Verhaltensänderungen und Investitionen durch einen massiven Anstieg der Erdgaspreise ausgelöst werden. In der Industrie beruhen die Abschätzungen der Verbrauchsminderungspotenziale zu einem großen Teil auf Experteneinschätzungen und direkten technischen Möglichkeiten innerhalb der Unternehmen. Es ist zu erwarten, dass Energiepreissteigerungen helfen werden, weitere Potenziale marktgetrieben zu erschließen. Ob Produktionsrückgänge oder -ausfälle (beispielsweise in Teilen der Chemieindustrie) auf Branchen und Betriebe, die diese als Inputs nutzen, durchschlagen werden, ist ex ante aufgrund der vielen Produkte auch schwer überschaubar. Beispiele aus der Vergangenheit zeigen allerdings (Moll, 2022), dass Substitutionspotenziale ex ante oft unterschätzt werden und Not eben doch erfinderisch macht.

Was sollte die Politik also tun?

Unabhängig davon, ob es zu einem Erdgasembargo auf russischer oder deutscher Seite kommt oder auch nur zu einem starken Einbruch der Erdgaslieferungen aufgrund anderer politischer Entscheidungen, braucht es schnelle und konsequente Maßnahmen, die auf ein solches Szenario vorbereiten und potenzielle Konsequenzen effizient adressieren. Ohne eine solche Vorbereitung auf den Fall eines Lieferstopps läuft Deutschland Gefahr, von einer drastischen Reduktion der Lieferungen – vor allem wenn sie erst zum nächsten Winter eintritt – unvorbereitet getroffen zu werden, mit potenziell massiveren Folgen. Szenarien eines weiteren Anstieg der Erdgaspreise, aber auch potenzieller physischer Knappheiten, müssen detailliert analysiert werden. Dies impliziert allerdings nicht notwendigerweise eine administrativ gesteuerte Zuteilung des Erdgases. Dem Preismechanismus sollte soweit wie möglich Raum gelassen werden. Ohne die durch Substitutions- und Einsparanreize ausgelöste Minderung der Gasnachfrage dürften die Rückwirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung weitaus höher ausfallen.

Eine Deckelung oder Absenkung der Energiepreise würde diese Anreize nehmen und die Lenkungswirkung relativer Preise reduzieren. Steuern und Abgaben auf Energie sollten nur dort reduziert werden, wo dies auch über die aktuelle Krise hinaus sinnvoll erscheint (beispielsweise in Bezug auf Entlastungen des Strompreises). Steuereinnahmen schaffen finanzielle Handlungsspielräume, die eine Unterstützung stark betroffener gesellschaftlicher Gruppen und Industrien möglich machen, auch ohne die Signalwirkung der Preise einzuschränken. Dies kann im Falle der Haushalte beispielsweise über Pauschalzahlungen erfolgen. Eine Diskussion entsprechender Maßnahmen und Finanzbedarfe findet sich in Kalkuhl et al. (2022).

Finanzielle Unterstützungen für Unternehmen sollten so ausgestaltet werden, dass sie eine angemessene Risikoaufteilung zwischen Staat und Unternehmen ermöglichen und damit Anreize erzeugen, Maßnahmen nur in Anspruch zu nehmen, wenn dies tatsächlich erforderlich ist. Pauschale Unterstützungsmaßnahmen überfordern nicht nur die staatlichen Haushalte, sondern sind auch aus ökonomischer Perspektive ineffizient. Die Rolle des Staates sollte sich darauf fokussieren, bei existenziellen Risiken unterstützend tätig zu werden. Allerdings werden Trade-Offs zwischen Zielgenauigkeit der Maßnahmen und der Geschwindigkeit ihrer Implementierung nicht immer zu vermeiden sein. Hohe Preise fossiler Energieträger reizen gleichzeitig private Investitionen in grüne Energie, Energieeffizienz und Sektorenkopplung an, ohne die die Transformation des Energiesystems und auch umfangreiche Verbrauchsreduktionen nicht gelingen werden. Allerdings ist weder diese Erkenntnis neu, noch die Einsicht, dass die Transformation verlässliche Rahmenbedingungen braucht, die Innovationen und Investitionen fördern. Die aktuelle Situation hat allerdings die Dringlichkeit, Trägheiten zu überwinden und das Tempo zu erhöhen, noch einmal deutlich erhöht. Die Situation kann und sollte genutzt werden, um im Rahmen eines umfassenden „Aktionsplans Energieeffizienz“ Potenziale zur Einsparung fossiler Energieträger zu heben.

Nationale Maßnahmen sollten durch eine verstärkte Kooperation zwischen den EU-Mitgliedstaaten ergänzt werden (Leopoldina, 2022). Eine solche Kooperation kann die Folgen ausfallender russischer Lieferungen mindern, indem beispielsweise importierbare Mengen bestmöglich verteilt werden und die Gefahr durch nationale Alleingänge ausgelöste Preisschübe reduziert wird. Ungenutzte Kapazitäten für Pipeline-Importe oder LNG-Anlandung kann sich Europa im Falle eines Embargos nicht leisten. Ebenso braucht es eine konstruktive Weiterentwicklung der Energieaußenpolitik auf deutscher und EU-Ebene. Die Forderung einer stärkeren Energieautarkie hat zwar aktuell Konjunktur. Der Preis für eine solche Autarkie, sollte sie überhaupt möglich sein, wäre allerdings hoch. Deutschland und die EU sind tief in die globale Wirtschaft integriert und profitieren immens von der internationalen Arbeitsteilung. Internationale Wirtschaftsverflechtungen sind nicht der Grund der deutschen Energiekrise. Grund ist die strategische Abhängigkeit von einzelnen Anbietern. Statt Unabhängigkeit braucht es Diversifizierung. Diversifizierung fördert Resilienz gegen Schocks – unabhängig davon, ob diese politischer Natur sind oder von Naturkatastrophen ausgelöst werden. Autarkie dagegen versichert nicht gegen Katastrophen vor der eigenen Haustür (Pittel, 2022).

Hindernisse im Falle eines Embargos

Auch wenn zumindest in einigen Bereichen klar erscheint, welche politischen Maßnahmen sinnvoll wären, dürfte es nicht immer einfach sein, diese auch um- und durchzusetzen. So ist Widerstand gegen hohe Energiepreise unausweichlich und dürfte auch bei gezielter Unterstützung von Unternehmen und vulnerablen Gruppen kaum zu vermeiden sein. Die gesellschaftliche Akzeptanz der Maßnahmen stellt damit aus politischer Sicht eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar, der durch zielgerichtete und transparente Kommunikation entgegengewirkt werden sollte. Klar ist, wenn die marktlichen Anreize sich nicht entfalten können, dann sind die Kosten eines Embargos weitaus höher.

Kurzfristige Schwachstellen können insbesondere in der Industrie durch die Umstellung von Lieferbeziehungen für Energie, aber auch für Vorprodukte entstehen. Hier besteht auch die Gefahr, dass sich bereits bestehende Lieferengpässe bei Rückwirkungen der europäischen Gas- und Energiekrise auf andere Länder zumindest temporär verschärfen. Es ist trotzdem entscheidend, dass diese Umstellungen umgehend angestoßen werden. Hierfür dürfte es erforderlich sein, hohe Gaspreise für Haushalte und Unternehmen zu verstetigen. Aber auch auf technischer Ebene kann die Aufrechterhaltung der Versorgung privilegierter Abnehmer zu Herausforderungen hinsichtlich der Aufrechterhaltung einer funktionalen Gasversorgung führen, beispielsweise bei einem Druckabfall in den Gasleitungen.

Ausblick

Die Schätzungen der kurzfristigen Reaktionsmöglichkeiten bei einem Ausfall russischer Gaslieferungen sind mit großen Unsicherheiten belastet und notwendigerweise weder vollständig noch abschließend. Je mehr Zeit für Analysen besteht, desto mehr Informationen werden vorliegen und hoffentlich eine bessere Basis für Politikempfehlungen bieten. Als Konsequenz beschränken sich unsere Politikempfehlungen auf grundlegende Aspekte, die der Ausgestaltung von Maßnahmen zugrunde liegen sollten. Viele wichtige Fragen konnten dabei nicht oder nur am Rande adressiert werden. Dies umfasst beispielsweise Alternativen zu einem kompletten Embargo über die Einführung einer Importabgabe auf russisches Gas und Öl (Edenhofer und Ockenfels, 2022) oder die Einzahlung der Einnahmen aus den Lieferungen fossiler Energien auf ein Treuhandkonto (Biederbeck, 2022).

Auch mittel- und langfristige Implikationen für die Klimapolitik wurden nicht diskutiert. Obwohl Grund zur Hoffnung besteht, dass diese Krise den Ausstieg aus fossilen Energieträgern beschleunigen wird und die Unterstützung für die Energiewende gestiegen scheint, gibt es durchaus Anlass zur Besorgnis. Unternehmen und Bürger:innen sehen zwar aktuell den Versicherungswert von Klimapolitik für die Energiesicherheit, wie lange dieses Bewusstsein und die Unterstützung allerdings bestehen bleiben, ist durchaus nicht sicher. Dies gilt insbesondere, wenn bei länger anhaltenden hohen Energiepreisen und Inflation finanzielle Spielräume enger werden. Letztlich ist die Gefahr einer längerfristigen Renaissance fossiler Energieträger auf internationaler Ebene nicht auszuschließen. Neue Erschließungen fossiler Energievorkommen würden das Angebot erhöhen und könnten in der längeren Frist zu einem gewissen Lock-In führen. Ob es dazu kommt, wird nicht zuletzt von den Erwartungen der fördernden und exportierenden Länder abhängen – und davon, wie ernst die eingegangenen Verpflichtungen zur Erreichung der Pariser Klimaschutzziele genommen werden.

  • 1 Schätzungen der Nettoimporte von Erdgas aus Russland hängen von der Zurechnung von Ringflüssen und deutschen Gasexporten ab (Bundesnetzagentur 2022). So ist auch die Angabe, dass 55 % im Jahr 2020 der deutschen Erdgasimporte aus Russland stammen (BP 2021), unter dieser Einschränkung zu sehen. Im Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2020 lag der Anteil der aus Russland stammenden Gasimporte an allen Gasimporten Deutschlands laut BAFA bei 39 % (BAFA, 2022).

Literatur

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BAFA (2022), Erdgasstatistik: Entwicklung des deutschen Gasmarktes (monatliche Bilanz 1998 – 2021, Einfuhr seit 1960), Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle

Bayer, C., A. Kriwoluzky und F. Seyrich (2022), Stopp russischer Energieeinfuhren würde deutsche Wirtschaft spürbar treffen, Fiskalpolitik wäre in der Verantwortung, https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.837950.de/diw_aktuell_80.pdf (7. April 2022).

BDEW (2022), Kurzfristige Substitutions- und Einsparpotenziale Erdgas in Deutschland, https://www.bdew.de/media/documents/Kuzfristige_Gassubstitution_Deutschland__final_17.03.2022_korr1.pdf (7. April 2022).

Behringer, J., S. Dullien, A. Herzog-Stein, P. Hohlfeld, K. Rietzler, S. Stephan, T. Theobald, T. Thomas, S. Tober und S. Watzka (2022), Ukraine-Krieg erschwert Erholung nach Pandemie, IMK Report, 174.

Berger, E., S. Bialek, N. Garnadt, V. Grimm, L. Other, L. Salzmann, M. Schnitzer, A. Truger, V. Wieland (2022), A potential sudden stop of energy imports from Russia: Effects on energy security and economic output in Germany and the EU. German Council of Economic Experts Working Paper, 1.

Biederbeck, M. (2022), Denken wir den Importstopp neu!, Wirtschaftswoche, 7. März 2022.

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Pittel, K. (2022), Energiepolitik in der Ukraine-Krise, Absolut Impact, 1.

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Title:The Consequences of an Embargo on Russian Gas

Abstract:Sanctions and their effectiveness are at the centre of the discussion about an appropriate response to Russia’s war of aggression against Ukraine. At the latest since the atrocities of the war became evident and payment for gas supplies in roubles was brought into play, voices calling for a natural gas embargo have been growing. In the discussion about the possible consequences of such an embargo, forecasts vary from serious but manageable effects on economic development to mass unemployment and deindustrialisation. Regarding the short run, the main question is: How much of Russian natural gas supply can be replaced and saved by next winter. We provide an overview of existing analyses on savings and substitution potentials, followed by some fundamental policy principles aimed at dealing with a halt in Russian natural gas supplies

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© Der/die Autor:in 2022

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DOI: 10.1007/s10273-022-3151-2