Der Befund ist eindeutig: Die Inflation ist zurück. In Deutschland lag die Preissteigerung im April 2022 bei 7,4 % gegenüber dem Vorjahr – getrieben von den schnell steigenden Preisen für Energie (+35,3 %) und Nahrungsmittel (+8,6 %). Eine schnelle Rückkehr zu Inflationsraten von nahe null, wie vor der Pandemie, ist unwahrscheinlich (Schulmeister, 2020). Vielmehr wird für den weiteren Jahresverlauf eine Fortsetzung des Inflationsgeschehens erwartet. Ein Frühindikator für die Inflationsentwicklung ist die Erzeugerpreisentwicklung. Hier zeigt sich: Diese Inflation hat das Potenzial länger anzudauern. Auch die EZB geht davon aus, dass für 2022 im Durchschnitt der Eurozone mit einer hohen Inflationsrate zu rechnen ist. Innerhalb der Eurozone nimmt Estland mit einer Inflation von 19,1 % den Spitzenplatz ein. Deutlich unter dem Vergleichswert für Deutschland liegt die Preissteigerung in Frankreich (+5,4 %). Damit zeigt sich insgesamt eine große Spreizung der Inflationsraten innerhalb der Eurozone. Grundsätzlich stellt die Heterogenität der Mitgliedstaaten der Eurozone erhebliche Ansprüche an eine ausgewogene Geldpolitik der EZB.
Auch für Deutschland scheinen sich die Wirtschaftsforschungsinstitute einig: Nach jahrelanger Nahezu-Stagnation der Verbraucherpreise haben die Pandemie, zusammengebrochene Lieferketten, die energiewirtschaftliche Transformation (Hickel, 2022), Knappheiten auf Teilmärkten, die Öl- und Gaspreisentwicklung auf den internationalen Märkten, aber auch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zu einer Gemengelage beigetragen, in der die Verbraucherpreise merklich anziehen. Krieg ist ökonomisch destruktiv und Unsinn. Eine funktionierende, menschliche Gesellschaft ist auf Frieden angewiesen (Schrooten, 2022). Vor diesem Hintergrund ist die aktuelle Situation durch eine starke, weltweite und tiefgehende Verunsicherung geprägt; Verunsicherung und Angst sind inflationstreibend. Eine Lohn-Preis-Spirale ist derzeit in Deutschland nicht auszumachen. In Deutschland bleibt die Lohnentwicklung deutlich hinter der Preisentwicklung zurück. Steigende Löhne und Transfereinkommen können demnach aktuell nicht als Erklärung für das Inflationsgeschehen angeführt werden. Nur langsam entschließt sich die Politik zu Entlastungsmaßnahmen bei den privaten Haushalten.
Folglich stehen schon die Verlierer:innen der Inflation fest – es sind alle diejenigen, die die steigenden Preise nicht auf andere überwälzen können. Die Inflation trifft vor allem die Erwerbstätigen und diejenigen, die Transfereinkommen beziehen. Jahrelang wurde tatenlos mitangesehen, dass die Einkommensschere in der Gesellschaft immer weiter auseinander geht. Von der umfassenden Idee der sozialen Marktwirtschaft wurde sich schrittweise zugunsten einer sogenannten Leistungsorientierung verabschiedet. Schon jetzt ist klar, dass sich durch die Inflation Armut und Ungleichheit innerhalb Deutschlands in absehbarer Zeit weiter verschärfen werden. Das Realeinkommen sinkt derzeit für viele Menschen deutlich. Schon aus diesem Grunde muss eine tiefgreifendere Inflationsanalyse her.
Überlappende Krisen und die zunehmend infrage gestellte internationale Arbeitsteilung werden vielfach verantwortlich gemacht für die steigenden Preise. Das sind im Kern Effekte, die leicht zu dem Argument führen, dass es sich um Formen der importierten Inflation handeln könnte. Ist dann die EZB vollkommen machtlos gegenüber diesem Geschehen? Die EZB ist in der Eurozone die verantwortliche Instanz und für Geldwertstabilität und Inflationsbekämpfung zuständig. Ein erklärtes Ziel der EZB ist es, die Verbraucherpreisentwicklung gemessen am sogenannten Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) mittelfristig in der Größenordnung von 2 % zu halten.
Mit ihrer sehr lockeren Geldpolitik hatte die EZB in den vergangenen Jahren die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Eurozone gestützt. Der Leitzins liegt seit 2016 bei null. Die zentralen Elemente der ultralockeren Geldpolitik sind jedoch nicht nur der Leitzins von null, sondern auch negative Einlagezinsen für die Geschäftsbanken bei der Zentralbank und großzügige Anleiheaufkäufe. Anders als von monetaristisch fundierten Erklärungsansätzen vorhergesagt, hatte diese expansive Geldpolitik über Jahre nicht zu nennenswerten Inflationsraten geführt. Die einfachen, geldmengengesteuerten Inflationserklärungen schienen ihre Bedeutung zu verlieren. Die Verbraucherpreise stagnierten jahrelang weitgehend in Deutschland. Es ist festzuhalten, dass bei der Inflationsdiskussion nur die Verbraucherpreise betrachtet werden. Die jahrelange Steigerung der Immobilienpreise, des Goldpreises, von Aktienkursen und anderen Vermögenswerten wird nicht als Inflation betrachtet. Die EZB legt bei ihren geldpolitischen Entscheidungen in der Regel den HVPI zugrunde (Destatis, 2021). Die Inflationsberechnung konzentriert sich auf die Verbraucherpreise. Die Preisentwicklung von Vermögensgegenständen bleibt bei dieser Betrachtung außen vor. Gerade in den Jahren der expansiven Geldpolitik, also seit der internationalen Finanzkrise, haben die Preise auf den Märkten für Vermögengegenstände deutlich angezogen. So legten die Kurse für Aktien, der Preis für Gold und Immobilien kräftig zu. Die Preisentwicklungen auf den Märkten für „Assets“ bleiben aber bei der klassischen Inflationsbetrachtung unberücksichtigt. Das ist ein systematischer Fehler – er kann aber höchstens indirekt die aktuelle Preisentwicklung erklären.
Aktuell ist die Geldpolitik der EZB immer noch sehr expansiv ausgerichtet – der Leitzins ist mit 0 % extrem gering. Damit wird von Seiten der Zentralbank weiterhin die Politik des billigen Geldes betrieben. Die für Juli 2022 angekündigte Zinserhöhung zeigt das Zögern der EZB, eine deutliche geldpolitische Wende einzuleiten. Hohe Preissteigerungen sind aktuell keineswegs allein ein Phänomen der Eurozone. Vielmehr lassen sich ähnliche Entwicklungen weltweit feststellen. In den USA lag die Preissteigerung im April 2022 bei 8,4 % und damit über dem Vergleichswert für die Eurozone und Deutschland. Anders als die EZB hat die Federal Reserve (Fed) mit Zinssteigerungen auf die Inflationsentwicklung reagiert. In zwei Schritten wurde der Leitzins seit März 2022 auf bis zu 1 % erhöht. Weitere Zinsschritte werden diskutiert. Die Phase der sehr lockeren US-amerikanischen Geldpolitik ist offenbar beendet oder zumindest unterbrochen. Die zukünftigen geldpolitischen Entscheidungen der Fed werden auch von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in den USA abhängen. Denn anders als die EZB ist die Fed nicht nur der Wahrung der Preisstabilität, sondern auch der Beschäftigungsentwicklung verpflichtet. Die Fed kann durchaus als wichtige Taktgeberin für weltweite Geldpolitik gelten. Die Zinsschritte in den USA haben für die Eurozone aktuell vor allem zwei Konsequenzen: Zum einen ist der Wechselkurs des Euro gegenüber dem US-Dollar betroffen. Tendenziell wertet der Euro gegenüber dem US-Dollar ab. Zum anderen führen allein schon die Erwartungen der Finanzmärkte, dass die EZB der Fed mit Zinsschritten folgen wird, bereits jetzt zu einer faktischen Zinswende etwa bei den Bauzinsen, aber auch bei sonstigen Krediten. Investitionen verteuern sich schon jetzt.
Die Wechselkurseffekte sind erheblich. Waren für einen Euro vor einem Jahr noch 1,22 US-$ zu zahlen, so sind es inzwischen nur noch 1,07 US-$ (Stand: 26. Mai 2022). Da viele grenzüberschreitende Transaktionen in US-Dollar fakturiert werden, hat dies weitreichende Konsequenzen. Selbst bei gleichbleibenden Preisen gemessen in US-Dollar verteuern sich Importe gemessen in Euro durch die Wechselkurseffekte. Dieser Effekt dürfte auch bei Nahrungsmitteln und Energie nennenswert sein und einen Teil des Inflationsgeschehens erklären. Hierbei wird der Begriff der „importierten Inflation“ ins Spiel gebracht. Es ist jedoch schwierig, die Bedeutung des Wechselkurseffekts für das Inflationsgeschehen zu isolieren. Denn zeitgleich treten auf den vielen Märkten angebotsseitig Knappheiten auf. Somit vermischen sich hier unterschiedliche Faktoren. Klar wird jedoch: Die Zeiten, in denen durch eine naiv fortschreitende Globalisierung immer billiger produziert, konsumiert und investiert werden kann, sind vorbei. Damit steht die Weltwirtschaft vor einem Bruch mit einem der wichtigsten Paradigmen der vergangenen 40 Jahre. Globalisierung schafft nur unter stabilen Rahmenbedingungen Wohlstand. Und selbst dann nicht für alle Menschen gleichermaßen. Außenwirtschaftliches Preisdumping ist kein tragfähiges Wirtschaftsmodell.
Die Weltwirtschaft wird von wenigen Akteuren dominiert. Die Zinswende der Fed setzt auf eine Inflationsbegrenzung. Bislang ist dies nicht gelungen. Vielmehr steht das Gespenst einer Stagflation im Raum. Dies ist eine Kombination aus gesamtwirtschaftlicher Stagnation und hohen Inflationsraten. Aber es könnte noch schlimmer kommen. Die Konjunkturerwartung ist gedämpft. Es könnte zu hohen Inflationsraten in Kombination mit einer Rezession kommen – das ist eine reale Gefahr, in der aktuell fragilen Zeit. Diese Gefahr ist insbesondere für den Euroraum nicht zu unterschätzen. Auch das dürfte zu einer zögerlichen Zinsreaktion der EZB beitragen. Denn Zinssteigerungen in Kombination mit gesamtwirtschaftlichem Abschwung wirken in diesem Wirtschaftssystem krisenverschärfend.
In der Eurozone passiert genau das gerade. Die noch nicht vollzogene Zinswende der EZB wird bereits jetzt faktisch von den Kreditmärkten vorweggenommen. Vor allem seit März 2022 steigen die Zinsen für Kredite. Das Neugeschäft der deutschen Geschäftsbanken findet heute zu deutlich höheren Zinssätzen statt, als dies noch vor einem Jahr der Fall war. Die Geschäftsbanken in Deutschland fühlen sich offenbar weiterhin eher dem Gewinn als dem Gemeinwohl verpflichtet. Dies obwohl gerade die Sparkassen, aber auch die Genossenschaftsbanken satzungsgemäß andere Ziele als den Profit haben. Die Geldpolitik ist gegenüber der Zinsberechnung der Geschäftsbanken weitgehend machtlos. Die Erwartung steigender Zinsen lässt bereits jetzt die Finanzierungskosten für notwendige Investitionen in eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung steigen – das ist eine erhebliche Bremse für die Zukunftsgestaltung. Bei zusammenbrechenden Lieferketten, bestehender Wirtschaftsmodelle wie der Globalisierung ebenso wie bei der Transformation des Energiesektors haben wir es nun einmal mit Strukturproblemen zu tun. Im Zuge des Strukturwandels werden der alte Kapitalstock ebenso wie die alte Wachstumsstrategie „Globalisierung“ zumindest teilweise entwertet. Es geht darum, neue tragfähige Zukunftsstrukturen aufzubauen. Und dazu bedarf es Investitionen in Nachhaltigkeit und eine kluge Geldpolitik.
Nachhaltig ist genau das Gegenteil von billig. Umgekehrt gilt, dass nicht alles was teuer ist, nachhaltig ist. Jedoch ist klar, dass die aktuelle Situation dazu auffordert, über alte Politikideen nachzudenken. Dazu gehört auch, darüber nachzudenken, ob und inwieweit die EZB tatsächlich mit einer Zinswende die Inflation bekämpfen kann. Genau an diesem Punkt kann sie auf die Erfahrungen der Fed zurückgreifen. Und da wird klar, selbst wenn die Zinsen steigen, bleibt die Inflation zunächst erhalten. Zinserhöhungen der Zentralbank brauchen Zeit um zu wirken – in diesem Fall werden sie wahrscheinlich dämpfend wirken. Das würde weiter destabilisieren. Wir können also im Kern dankbar sein für die ruhige, von vielen als zögerlich beschriebene Politik der EZB.
Die EZB kann aber auch von ihren eigenen Erfahrungen lernen. Im Umfeld der internationalen Finanzkrise 2007/2008 wurde tatsächlich noch auf Zinserhöhung gesetzt. Damit hat die Geldpolitik weiter destabilisiert und letztendlich auch nennenswert zur sogenannten Eurokrise beigetragen. Zinsschritte müssen angesichts der Wirkungsmechanismen genau durchdacht werden. Aktuell spricht viel dafür, eine moderne, zukunftsgerichtete Geldpolitik mit klimapolitischen Forderungen zu verbinden. Derzeit arbeitet die EZB ohnehin an einer neuen geldpolitischen Strategie. Vielen Menschen fehlt dazu noch die Fantasie. Der EZB selbst jedoch ist die Verantwortung für dieses Handlungsfeld zunehmend bewusst. Dabei geht es nicht mehr nur um zinspolitische Fragestellungen. Eine nachhaltige Geldpolitik muss sich den Sustainable Development Goals (SDG) verpflichtet sehen. Eine nachhaltige Geldpolitik darf daher nicht mehr nur kurzfristige konjunkturelle Effekte im Blick haben. Intelligente Lösungen müssen her. So können von der Geldpolitik wichtige Impulse für Entscheidungen zu nachhaltigen Investitionen in vielen Bereichen ausgehen. Als Teil der expansiven Geldpolitik werden massive Anleihekäufe von der EZB getätigt. Doch in der Zukunft könnten Nachhaltigkeitskriterien beim Anleihekauf berücksichtigt werden. Dann würde bei den Käufen von Unternehmensanleihen die EZB nicht nur wie bisher auf den Standort und das Rating der Unternehmen, sondern auch auf sogenannte ESG-Scores setzen. ESG steht für Environmental, Social and Governance – die Bedeutung dieser Scores für ihre Klassifizierung in Bezug auf Nachhaltigkeit ist insbesondere großen Unternehmen bekannt. Es wäre demnach gar nicht besonders kompliziert, die Geldpolitik und Zukunftsgestaltung zu verknüpfen. (Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, 2022). Bislang orientiert sich der geldpolitische Instrumentenkasten jedoch in erster Linie an traditionellen Werkzeugen wie der Zinspolitik. Was ist mit Regulierung? Hier könnte zukünftig mehr Fantasie gefragt sein.
Daher bleibt festzuhalten: Die Geldpolitik hat aktuell nur einen begrenzten Handlungsspielraum, die Inflation zu bekämpfen. Strukturelle Angebotsprobleme, Krieg und Versäumnisse der Vergangenheit schlagen aktuell zu Buche. Die Inflation trifft gerade diejenigen mit aller Härte, die die Preissteigerung nicht weitergeben können. Eine Lohn-Preis-Spirale ist derzeit in Deutschland nicht festzustellen. Jetzt die Leitzinsen zu erhöhen, führt nicht unmittelbar zu einer Inflationsbekämpfung. Jetzt allerdings Geldpolitik mit gesellschaftlichen und klimapolitischen Zielen zu verbinden, hat ein großes Potenzial. Es geht um Mut zu einer grünen Geldpolitik. Die EZB könnte den Mut aufbringen. Damit würde sie zur Taktgeberin einer neuen geldpolitischen Ära.
Literatur
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2022), Europäische Zentralbank und grüne Geldpolitik, In Memorandum 2022 – Raus aus dem Klimanotstand – Ideen für den Umbruch, 211-232.
Destatis (2021), Ableitung des HVPI-Wägungsschemas für das Jahr 2021, https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Preise/Verbraucherpreisindex/Methoden/Downloads/hvpi-gewichtung.pdf;jsessionid=585D53BB25440849D47510546FCD83FE.live742?__blob=publicationFile (2. Juni 2022).
Hickel, R. (2022), Grün und sozial: Mit der Greenflation zur Transformation, Blätter für deutsche und internationale Politik.
Schrooten, M. (2022), Inflation und Inflationsangst, Aus Politik und Zeitgeschichte, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/geldpolitik-2022/ (2. Juni 2022).
Schulmeister, S. (2020), CO2-Emissionen müssen stetig teurer werden – durch Festlegung eines Preispfads für Erdöl, Kohle und Erdgas – Mit CO2-Steuern und/oder dem Emissionshandel ist das Ziel nicht erreichbar, Wirtschaftsdienst, 100(10), 812-814.