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Dieser Beitrag ist Teil von Folgen der Inflation abfedern, aber wie?

Seit Monaten dokumentiert das Statistische Bundesamt deutlich steigende Lebenshaltungskosten in Deutschland. Der Verbraucherpreisindex insgesamt ist von Dezember 2021 bis Juni 2022 um 5,7 % gestiegen, nachdem er bereits 2021 gegenüber dem Vorjahr von 105,8 auf 109,1 und damit um 3,1 % zulegte und damit die höchste jahresdurchschnittliche Preissteigerung seit 1994 erreichte. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich zum einen eine dynamische Entwicklung, wie die monatlichen Inflationsraten zeigen. So lag der Verbraucherpreisindex im Januar 2022 um 4,9 % über dem des Vorjahresmonats, während er im Juni 2022 bereits um 7,6 % über dem Vergleichswert vom Juni 2021 lag. Es muss also damit gerechnet werden, dass die Jahresinflationsrate noch höher ausfallen wird als aus der Änderung des Verbraucherpreisindex im ersten Halbjahr unmittelbar abzuleiten ist. Zum anderen ist die Entwicklung des Gesamtindex mit starken Änderungen des Preisgefüges verbunden. Während in einigen Bereichen – z. B. Bekleidung und Schuhe, Post und Tele­kommunikation – die Preise nahezu stabil waren, sind zwischen Dezember 2021 und Juni 2022 deutliche Preisschübe bei Nahrungsmitteln (10,1 %), Strom (20,1 %), Heizung (je nach Heizquelle 20 % bis 62 %) und Kraftstoffen (Benzin: 19,3 %, Diesel: 32,8 %) beobachtbar.

Unterschiedliche Auswirkungen je nach Wohlstand

Die beobachtbare Entwicklung der Lebenshaltungskosten stellt zweifellos eine Belastung von Haushalten bis in die obere Mitte der Wohlstandsverteilung dar. Im Falle von finanziellen Polstern oder bei einem Einkommen, das regelmäßiges Sparen erlaubt, können die Belastungen allerdings aufgefangen und die Konsumgewohnheiten trotz der Kostensteigerungen ungefähr beibehalten werden. Für Haushalte ohne Reserven gilt dies nicht, hier ist die Preisentwicklung zwangsläufig mit erheblichen Einbußen des ohnehin geringen Lebensstandards verbunden.

Die sozialpolitische Brisanz der Preissteigerungen bei Gütern des Grundbedarfs wird meist aus den schichtspezifischen Konsumstrukturen und dem hohen Anteil der Ausgaben für Ernährung und Haushaltsenergie am Gesamtkonsum im Niedrigeinkommensbereich abgeleitet (DIW ECON, 2022). Die Folgen der jüngsten Preisentwicklungen für ein Leben am unteren Rand der Wohlstandsverteilung werden aber durch die Berücksichtigung von Konsumniveaus deutlicher. In Spalte 1 der Tabelle 1 sind für verschiedene Bedarfskategorien die durchschnittlichen Rückstände der Haushalte im Armutsbereich gegenüber den entsprechenden Ausgaben im mittleren Einkommensquintil für die Zeit vor Einsetzen der Preisschübe (2018) ausgewiesen. Wenn die Ausgaben für Ernährung um ein Fünftel, die für Grundbedarfe insgesamt um ein Drittel und die weiteren Ausgaben um mehr als 50 % niedriger als in der gesellschaftlichen Mitte ausfallen und zudem keine Rücklagen gebildet werden können, fehlt es an jeglichen Puffern für die aktuelle Verteuerung der Grundgüter. Für Haushalte mit Grundsicherungsbezug1 – weitgehend eine Teilgruppe der Haushalte in materieller Armut – ist die Situation noch wesentlich angespannter. Wie aus Spalte 2 hervorgeht, bedeuten die im Regelbedarf für Erwachsene (Regelbedarfsstufe 1) berücksichtigten Ausgaben einen noch stärkeren Rückstand gegenüber der gesellschaftlichen Mitte – bei der soziokulturellen Teilhabe um fast vier Fünftel. Diese Ergebnisse liegen zwar nur für 2013 vor, dürften aber tendenziell weiterhin zutreffend sein – denn die Regelbedarfsberechnung erfolgt weiterhin nach dem gleichen, methodisch unzulänglichen Verfahren2.

Tabelle 1
Relativer Lebensstandard im Armuts- und im Reichtumsbereich
in %
  Haushalte in materieller Armut, EVS 2018 Regelbedarf für Allein­lebende, EVS 2013 Haushalte in materiellem Reichtum, EVS 2018
Grundbedarf A – überlebensnotwendig -33 -35 43
darunter: Ernährung -20 -25 16
Grundbedarf B -57 -67 91
Soziokulturelle Teilhabe -53 -78 104
Sparen in Euro pro Monat -12 / 1.719

Quellen: Becker, Schmidt und Tobsch (2021, Abb. 3 sowie bisher unveröffentlichte Detailergebnisse); Becker und Tobsch (2020, 19).

Demgegenüber zeigt sich auf der anderen Seite der Wohlstandsverteilung – bei materiellem Reichtum – ein Lebensstandard, der durchaus als luxuriös bezeichnet werden kann (Spalte 3). Selbst die Ausgaben für Grundbedarfe übersteigen das in der gesellschaftlichen Mitte Übliche um gut zwei Fünftel, bei den anderen Bedarfskategorien ist eine ungefähre Verdoppelung der Vergleichsbeträge beobachtbar. Zudem beläuft sich die regelmäßige Ersparnis auf gut 1.700 Euro monatlich, und zwar bei Mehrpersonenhaushalten nach Bedarfs- bzw. Äquivalenzgewichtung. Dementsprechend groß sind die Möglichkeiten, den gewohnten Lebensstandard trotz großer Preissteigerungen bei den Grundgütern zu halten.

Differenzierende Transfers erforderlich

Die inflationsbedingten Auswirkungen auf Teilhabemöglichkeiten sind also sehr ungleich verteilt. Staatliche Gegenmaßnahmen sollten dementsprechend differenziert gestaltet sein. Die Bundesregierung hat 2022 bereits zwei Entlastungspakete beschlossen.3 Sie umfassen allerdings neben Maßnahmen zum Ausgleich von Inflationsfolgen auch Unterstützungen zu anderen Zwecken – Coronahilfen, Sofortzuschlag für Kinder in Haushalten mit Bezug von Grundsicherung oder Kinderzuschlag4 – und sind zudem zum großen Teil nicht auf den unteren Einkommensbereich fokussiert (Bach und Knautz, 2022). Als einkommensabhängige, allerdings einmalige Maßnahme zur Abfederung der Preissteigerungen verbleiben insbesondere die – nur für Erwerbstätige beschlossene – zu versteuernde Energiepreispauschale, der Heizkostenzuschuss insbesondere für Wohngeld- und Bafög-Beziehende sowie eine Zahlung von 100 Euro für Erwachsene mit Bezug von Grundsicherungsleistungen. Auch Kinder in Bedarfsgemeinschaften mit Grundsicherungsbezug erhalten eine Einmalzahlung von 100 Euro – dieser „Kinderbonus“ wird allerdings „mit der Gießkanne“ allen Kindern mit Kindergeld gewährt.

Daneben kommen die eher pauschal gestalteten Elemente der Entlastungspakete zwar teilweise auch der Bevölkerung am unteren Rand der Verteilung zugute, allerdings in einem deutlich geringeren Maß als den mittleren und oberen Einkommensschichten (Bach und Knautz, 2022). Vor diesem Hintergrund und angesichts der Diskrepanzen zwischen den Lebensstandards vom unteren und oberen Ende der Wohlstandsverteilung (Tabelle 1) sollten weitere Maßnahmen auf vulnerable Gruppen konzentriert werden. Eine Entlastung „der“ Bürger:innen ist ohnehin illusionär, da der Staat als Gemeinschaft aller Bürger:innen keine generelle Kompensation leisten kann – die Belastung muss die Gesellschaft (aktuell oder im Falle von Schuldenfinanzierung künftig) tragen.

Eine gesetzgeberisch und verwaltungstechnisch schnell umsetzbare Maßnahme wäre die Zahlung eines angemessenen Inflationsausgleichs für 2021 und 2022 an Haushalte mit Bezug von Grundsicherungsleistungen. Denn die bisherigen Einmalzahlungen reichen dafür nicht aus. Bereits aus der Entwicklung der regelbedarfsrelevanten Preise bis März 2022 ergibt sich – trotz der Einmalzahlungen – ein verbleibendes inflationsbedingtes Minus von 241 Euro (für beide Jahre); bei Erwachsenen ohne Partner:in und auch bei Kindern und Jugendlichen sind die Fehlbeträge beträchtlich.5 Zudem sollten die demnächst erheblichen Stromkostennachzahlungen vom Leistungsträger übernommen werden.

Daneben ist für die Zukunft eine Reform der Dynamisierungsregel für Regelbedarfe nach dem SGB II bzw. XII erforderlich, um nicht auf Dauer mit Ex-post-Zahlungen für einen Inflationsausgleich sorgen zu müssen. Die Fortschreibung der Regelbedarfe erfolgt bisher nach einer rückwärts gerichteten Methode (§ 28a SGB XII): Für die letzte Anhebung wurde die Preis- und Lohnentwicklung (Gewichtung mit 70 % bzw. 30 %) vom 1.7.2020 bis zum 30.6.2021 gegenüber den davor liegenden 12 Monaten berücksichtigt6 und führte zu einer Anhebung der Regelbedarfe um 0,76 % – das entspricht 3 Euro für Alleinstehende. Aktuelle Preissteigerungen bleiben dabei unberücksichtigt, sodass zur Sicherung des Existenzminimums eine unterjährige Anpassung an Preissteigerungen gesetzlich verankert werden sollte. Die damit verbundene Abkehr vom Mischindex könnte bei der regulären Anpassung am Anfang jeden Jahres revidiert werden. In diesem Zusammenhang ist aber eine Ergänzung von § 28a SGB XII dahingehend notwendig, dass die Anpassung nicht geringer ausfallen darf als die Preissteigerung für regelbedarfsrelevante Güter und Dienstleistungen.

Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen für Grundsicherungsbeziehende wird allerdings nur ein Teil der Haushalte, die die inflationsbedingte Belastung nicht tragen können, erreicht. Deshalb sollten auch für andere Gruppen im Niedrigeinkommensbereich zielgerichtete Regelungen gefunden werden. Dabei geht es um alle Haushalte mit Mindestsicherungsleistungen, um diejenigen, die zustehende Sozialleistungen nicht in Anspruch nehmen, sowie um Haushalte in einem begrenzten Bereich oberhalb der jeweiligen Einkommensgrenzen. Denkbar wäre ein einkommensabhängiger Transfer, der – anders als die Energiepreispauschale – alle Haushalte ohne Grundsicherungsbezug berücksichtigt und auf null abgeschmolzen wird.7 Die Umsetzung könnte weitgehend durch die Finanzämter, gegebenenfalls in Kooperation mit dem jeweils zuständigen Sozialleistungsträger, erfolgen.

Ausblick

Die hier vorgeschlagenen Maßnahmen zielen bewusst auf die gesellschaftlichen Gruppen, für die Preisschübe bei Nahrungsmitteln und Energie zu finanziellen Notlagen führen. Anders als bei Entlastungspaketen für „alle“ Bürger:innen ist die damit verbundene fiskalische Herausforderung begrenzter, sie dürfte dennoch beträchtlich sein. Die Finanzierung sollte eher über Steuern als über Schulden erfolgen. Zwar ist angesichts der Krisensituation ein weiteres Aussetzen der Schuldenbremse (Artikel 109, Grundgesetz) durchaus angebracht. Die Kreditfinanzierung sollte aber notwendigen Investitionen vorbehalten sein. Demgegenüber könnten Entlastungen durch Transferzahlungen kurzfristig über einen Krisen-Soli – beschränkt auf obere Einkommensgruppen, für die die Preissteigerungen kaum spürbar sind – finanziert werden. Damit wäre eine Umverteilung der derzeitigen Belastungen verbunden: ein Inflationsausgleich am unteren Ende der Wohlstandsverteilung und ein zusätzlicher steuerlicher Zugriff im oberen Bereich. Mittelfristig wären eine Reform des Einkommensteuertarifs, eine Wiederbelebung der Vermögensteuer und eine Ausweitung der Erbschaftsbesteuerung geeignet, um nicht nur die inflationsbedingten Maßnahmen, sondern auch andere anstehende Reformen – adäquate Regelbedarfsbemessung, Kindergrundsicherung, Bürgergeld, Klimaschutzpolitik – umsetzen zu können.

  • 1 Unter Grundsicherung werden Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Sozialhilfe und Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz subsummiert.
  • 2 Zur Kritik an der gesetzlichen Regelbedarfsermittlung, die zu einem von der gesellschaftlichen Realität weit entfernten Niveau führt, Becker (2020).
  • 3 Ergebnis des Koalitionsausschusses (2022a und 2022b).
  • 4 Der Sofortzuschlag von 20 Euro pro Monat ist nicht als Inflationsausgleich einzuordnen; denn es handelt sich um eine bereits im Koalitionsvertrag (2021, 100) beschlossene Übergangslösung bis zur Einführung einer Kindergrundsicherung mit dem Ziel, die bereits vor Beginn der inflationären Entwicklung unzureichenden Teilhabemöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen zu verbessern.
  • 5 Die dem zugrunde liegende Berechnung ist ausführlich beschrieben in Becker (2022).
  • 6 Der Time Lag zwischen Fortschreibungsfaktor und aktueller Entwicklung wird durch die Einbeziehung der Lohn- und Gehaltsentwicklung vergrößert, da die erforderlichen Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung zur Verfügung stehen.
  • 7 Eine anders ausgerichtete Forderung kommt von der Diakonie Deutschland, die einen Zuschlag von 100 Euro monatlich für jeden Erwachsenen in Haushalten mit Bezug von Grundsicherung, Wohngeld und/oder Kinderzuschlag über einen Zeitraum von sechs Monaten vorschlägt (vgl. DIW ECON, 2022). Dabei blieben aber alle Haushalte ohne Sozialleistungsbezug außen vor, und durch die nicht vorgesehene Abschmelzung ist mit Abbruchkanten bei steigendem vorrangigem Einkommen zu rechnen. Die Begleitstudie kommt zu dem Ergebnis, dass mit dem Diakonie-Vorschlag für das unterste Einkommensquintil und für andere vulnerable Gruppen ein ungefährer, teilweise aber noch unvollständiger Inflationsausgleich erreicht wird (DIW ECON, 2022). Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die untersuchten Gruppen auch Haushalte ohne einen Anspruch umfassen; mit dem ausgewiesenen gruppendurchschnittlichen Effekt wird also vernachlässigt, dass er sich aus wesentlich höheren Begünstigungen für Haushalte mit Leistungsbezug und fehlenden Ausgleichszahlungen bei Haushalten ohne Leistungsbezug zusammensetzt.

Literatur

Bach, S. und J. Knautz (2022), Hohe Energiepreise: Ärmere Haushalte werden trotz Entlastungspaketen stärker belastet als reichere Haushalte, DIW Wochenbericht, 17, 243-251.

Becker, I. (2022), Lebensstandard von Grundsicherungsbeziehenden sinkt – trotz Entlastungspaket, Soziale Sicherheit, 16.

Becker, I. (2020), Verfahren nach altem Muster. Das Regelbedarfsermittlungsgesetz 2020, Soziale Sicherheit, 10, 351-355 und 11, 401-407.

Becker, I. und V. Tobsch (2020), Ermittlung der „Grünen Garantiesicherungs-Regelbedarfe“. Bericht zum Gutachtensauftrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Empirische Verteilungsforschung und INES Berlin, mimeo.

DIW ECON (2022), Belastung einkommensschwacher Haushalte durch die steigende Inflation. Kurzexpertise für die Diakonie Deutschland.

Ergebnis des Koalitionsausschusses (2022a), 10 Entlastungsschritte für unser Land, 23. Februar, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/Oeffentliche-Finanzen/10-entlastungsschritte-fuer-unser-land.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (26. Juli 2022).

Ergebnis des Koalitionsausschusses (2022b), Maßnahmenpaket des Bundes zum Umgang mit den hohen Energiekosten, 23. März, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/2022-03-23-massnahmenpaket-bund-hohe-energiekosten.pdf?__blob=publicationFile&v=6 (26. Juli 2022).

Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (2021), Mehr Fortschritt wagen, https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/gesetzesvorhaben/koalitionsvertrag-2021-1990800 (4. August 2022).

 

 

Title:Price Surges in Basic Necessities – Redistribution of Burdens Required

Abstract:Since the beginning of 2022, prices for food and energy have been rising sharply. In the low-income sector, this leads to financial emergencies, since the standard of living here is far below the standards of society anyway. On the other hand, the consequences of inflation can certainly be absorbed in the upper income brackets. Against this background, government measures should be concentrated on lower income brackets. Appropriate measures would be the payment of inflation compensation for those receiving basic security, a reform of the updating of basic security benefits and an income-related transfer payment for households without basic security. A solidarity surcharge on the income tax is proposed for financing.

© Der/die Autor:in 2022

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.1007/s10273-022-3252-y

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