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Angesichts des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine und der resultierenden Verwerfungen werden zur Energiesicherung in Deutschland bereits Kohlekraftwerke, die bis 2023 außer Betrieb gehen sollen, als Versorgungsreserve reaktiviert. Immer mehr Stimmen fordern auch, den laut Atomgesetz bis Ende 2022 vorgesehenen Atomausstieg zu überdenken und die letzten drei laufenden Atomkraftwerke (AKW) nicht abzuschalten.

Optionen hierfür sind ein sogenannter Streckbetrieb sowie eine darüber hinausgehende Verlängerung. Im Streckbetrieb werden vorhandene Brennelemente für wenige Monate über das vorgesehene Ende hinaus genutzt, dafür wird die Leistung der AKW reduziert. Dies scheint machbar, auch wenn es Hürden und kritische Stimmen gibt. Die zweite Option ist, neue Brennstäbe zu beschaffen. Hier ist von Lieferzeiten von 12 bis 15 Monaten die Rede, außerdem stammt in Europa knapp 40 % des Urans für AKW aus Russland oder russlandfreundlichen Staaten. Zusätzlich gibt es Sicherheitsbedenken. Mit Blick auf das Laufzeit­ende 2022 wurde die nach zehn Jahren anstehende und aufwendige Sicherheitsüberprüfung 2019 ausgesetzt und wäre zumindest für einen Weiterbetrieb mit neuen Brennstäben vermutlich unabdingbar und mit erheblichen direkten bzw. Folgekosten verbunden. Daneben wird qualifiziertes Personal benötigt.

Für eine längerfristige Nutzung der Atomkraft spricht wenig. Atomkraft ist, wie sich etwa beim Neubau eines AKW in Finnland zeigt, extrem teuer und nicht wettbewerbsfähig. Die Investitions- bzw. damit Fixkosten sind ohne hohe staatliche Subventionen auch längerfristig nicht finanzierbar und gesamtwirtschaftlich nicht zu rechtfertigen. Zudem ist Atomkraft nur sinnvoll für die Grundlast einsetzbar. Mit einem klimaneutralen Stromsystem, das weitgehend auf fluktuierenden erneuerbaren Energien basiert, die nicht aufgrund unflexibler Grundlast abgeschaltet werden sollten, ist Atomkraft nicht kompatibel und die alte Aufteilung in Grund-, Mittel- und Spitzenlast muss durch ein anderes System inklusive Speicherung umgestellt werden. Hinzu kommen die Abhängigkeit von Russland bei der Uranbeschaffung, die ungelösten Probleme der Abfallentsorgung sowie Sicherheits- und Proliferationsbedenken. Die Technologie für neue, kleinere Reaktortypen ist vermutlich nicht weit genug fortgeschritten, um rechtzeitig für Klimaneutralität 2045 einsetzbar zu sein, und mit vergleichbaren Problemen verbunden.

Bleibt die Frage nach dem Streckbetrieb oder einer darüber hinausgehenden Verlängerung der bestehenden AKW. In der aktuell extrem unsicheren Lage und um über die nächsten beiden Winter zu kommen, sind prinzipiell alle Möglichkeiten, Gas zu sparen, nützlich und erweitern den Möglichkeitsraum. Dazu zählt auch die Laufzeitverlängerung, obwohl der Beitrag für die deutsche Energiesicherheit begrenzt ist. Das meiste Gas wird in Deutschland für Wärme und Kälte in Haushalten und in der Industrie verwendet. Der Stromsektor war 2021 für 12 % des Erdgasverbrauchs verantwortlich und der Anteil von Gas an der Bruttostromerzeugung lag bei etwa 15 %, wobei damit zum Teil durch Kraft-Wärmekoppelung auch ein Wärmeertrag verbunden ist, der mit Atomkraft wegfällt. Mit den verbliebenen AKW deckt Atomkraft rund 5 % bis 6 % der brutto Stromproduktion ab. Eine Bierdeckelrechnung ergibt, dass der jetzige Atomstrom etwa 5 % der Gasnachfrage in Deutschland ersetzen kann. De facto ist es weniger, weil Atomkraft nicht wie Gaskraft die Spitzenlast abdecken kann.

Im europäischen Kontext exportiert Deutschland angesichts dortiger Ausfälle von AKW aufgrund von Wartungsarbeiten, Sicherheitsmängeln und Hitzewelle Strom nach Frankreich, wo es die Grundlast deckt. Gleichzeitig ist Deutschland in Europa das Land, das am meisten vom russischen Gas abhängig ist und dies durch politische Entscheidungen selbst verursacht hat. Die deutsche Forderung nach „Solidarität“ in der EU und Unterstützung bei der Gasversorgung trifft daher teilweise auf Unverständnis. In diesem Zusammenhang fordern mehrere Länder, dass Deutschland die Atomkraftwerke weiter laufenlassen sollte, bevor es Solidarität einfordern kann.

Insgesamt scheint es sinnvoll, den Streckbetrieb und eventuell auch einen begrenzten, sicherheitstechnisch abgesicherten Weiterbetrieb der laufenden AKW noch einmal auf seine Machbarkeit zu prüfen. Bei abgeschriebenen AKW ist dies, sofern die Wartungs-, Erneuerungs- und Haftungskosten nicht zu hoch sind, auch wirtschaftlich und spart gegenüber Kohlekraftwerken CO2-Emissionen. Den Möglichkeitsraum für Deutschland zumindest für die kurze Frist zu vergrößern, ist ein hilfreicher Schritt und schafft politischen Spielraum. Um diesen und um strategische Aspekte geht es auch im EU-Kontext, und Deutschland ist gut beraten, auf EU-Partner einzugehen. An der mittel- bis langfristigen Sinnhaftigkeit der Atomkraft hat die jetzige Krise nichts geändert: Die Atomkraft bleibt eine teure, risikobehaftete und konfliktträchtige Technologie, die nicht zu einem auf erneuerbaren Energien basierenden Stromsystem passt.

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© Der/die Autor:in 2022

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DOI: 10.1007/s10273-022-3283-4