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Seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 steht Europa im Zeitalter der Krisen. Nach der Finanzkrise, kam die Eurokrise, die je nach Denkschule als Staatsschulden- und/oder Leistungsbilanzkrise identifiziert wurde. Es folgten die Migrationskrise sowie die Coronakrise. Nun ist mit der Ukraine- und Energiepreiskrise eine neue inflationäre Dynamik erreicht. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze (2022) meint mit dem Begriff der Polykrise, dass sich die Wirkungen der jeweiligen Krisen gegenseitig verstärken. Es ist z. B. zu vermuten, dass die verschiedenen ungelösten Krisen jeweils politischen Protest hervorrufen. So kam es sowohl nach der Eurokrise, der Migrationskrise, der Coronakrise als auch der Energiepreiskrise zu zunehmender politischer Polarisierung. Möglich wäre, dass durch die Wirkung aller Phänomene gemeinsam ein Kipppunkt erreicht wird, der den Rückhalt für demokratische Parteien im politischen Wettbewerb gefährdet.

Viele der heute relevanten Krisenphänomene lassen sich als ungelöstes Koordinierungsproblem beschreiben. Neben der langfristig besonders bedrohlichen Klimakrise, für deren Lösung globale Koordination nötig wäre, ist Europa aktuell von der Energiepreiskrise betroffen. Wie in vielen vorherigen Krisen drohen dabei aktuell die klimapolitischen Ziele erneut in den Hintergrund gestellt zu werden. Dabei bestünde ein Ansatz für eine gemeinsame Lösung der Energie- und Klimakrise in massiven Investitionen in die Energie- und Verkehrswende. Die Finanzierung ist seit der ca. 10-jährigen realen Negativzinsphase zum Nulltarif zu haben. Umgesetzt wurde jedoch bisher wenig, auch weil die fiskalpolitische Architektur Europas die Finanzierung solcher Maßnahmen über Kredite verhindert.

Europa hat sich aus Sorge vor Schuldenkrisen Institutionen geschaffen, die die Kreditaufnahme von Staaten und auch Investitionen in die öffentliche Infrastruktur erschweren. Dies deutet auf Trade-offs in der Priorisierung der multiplen Krisenbekämpfung hin. Speziell in Südeuropa, wo nach der Finanzkrise die Arbeitslosigkeit hoch und das Wachstum negativ waren, wäre eine nachfragestabilisierende und angebotserhöhende Investitionspolitik sinnvoll gewesen. Auch hätten sich die Leistungsbilanzen durch Substitution von Energieimporten verbessert. Europa entschied sich stattdessen für die Institutionalisierung der Sparpolitik. Die von Nordeuropa durchgesetzten hohen Steuersätze verstärkten Ausweichverhalten. 2016 wurde der Hafen von Piräus verkauft – an China. Damals behaupteten die Befürworter, dass die Sparpolitik auch kurzfristig positive Effekte für Produktion und Beschäftigung haben könne. Heute wissen wir, dass die Kosten dieser Politik für Produktion, Beschäftigung und die politische Glaubwürdigkeit dramatisch unterschätzt worden sind.

Zukünftige Reformen sollten sowohl die Stabilisierungswirkung von Fiskalpolitik als auch die Sorge vor Überschuldung aufgrund langfristig gesunkener Finanzierungskosten (Blanchard, 2023) neu bewerten. Eine neue Prioritätensetzung sollte die Klima- und Energiekrise berücksichtigen und den kapazitätsbildenden Effekten von Investitionen Rechnung tragen.

Investitionen könnten durch staatliche Kredite aber auch Steuern finanziert werden. Auch der Sachverständigenrat hat sich in seiner aktuellen Expertise für temporäre Steuererhöhungen ausgesprochen. Zudem gibt es verteilungspolitische Gründe für höhere Steuern, wenn die Ungleichheit als Problem erkannt wird. Folgt man Piketty (2014), nimmt Ungleichheit zu, wenn die Nettorendite r auf Kapitalvermögen größer ist als das Wachstum der Durchschnittseinkommen g. In Deutschland betrug die Kapitalrendite im Zeitraum von 1995 bis 2020 durchschnittlich 6,8 % (preisbereinigt 5,4 %), während das Bruttoinlandsprodukt um durchschnittlich 2,3 % (preisbereinigt 1,0 %) wuchs (Jorda et al, 2019). Wollte man die Nettokapitalrendite dem Wachstum der Gesamteinkommen anpassen, bräuchte es einen Spitzensteuersatz in Höhe von t = (r - g)/r, der die Differenz aus Rendite und Wachstum besteuert und in Deutschland nach obigem Beispiel etwa 65 % betragen würde.

Stattdessen gibt es eine duale Besteuerung, die die Erträge aus Kapitalvermögen sogar niedriger besteuert als die Arbeitseinkommen. Bis in die 1970er Jahre gab es in Europa und den USA Spitzensteuersätze bis über 90 %. Im Rahmen der Kapitalverkehrsfreiheit und des zunehmenden Steuerwettbewerbs sind solche Steuersätze heute kaum durchsetzbar. Wie in einem Gefangenendilemma scheinen die Staaten sich darin zu überbieten, niedrige Steuersätze im Wettbewerb um die global flüchtige Steuerbasis anzubieten. In einem solchen Wettbewerb sind progressiven Steuern Grenzen gesetzt. Die Umverteilung nimmt ab, Ungleichheit steigt, Polarisierung nimmt zu. Ob es sinnvoll ist, die aus guten Gründen staatlich organisierte Umverteilung auf einer internationalen Ebene wieder in den Wettbewerb zu stellen und so außer Kraft zu setzen, darf bezweifelt werden (Sinn, 1997). In ähnlicher Weise investieren Staaten weniger als nötig in die Energiewende, wenn dies nicht sinnvoll koordiniert wird; ein simples Markt- und Koordinierungsversagen.

Eine Lesart der Eurokrise ist, dass die Länder der Eurozone darum konkurrieren, ein niedriges Preisniveau zu erreichen, den realen Wechselkurse zu reduzieren und Vorteile im Standortwettbewerb zu erwirken. Geldpolitik kann dies auf nationaler Ebene nicht ausgleichen. Aktive Fiskalpolitik ist ebenfalls nicht vorgesehen. Deutschland hat schon Ende der 1990er Jahre mit einer kontraktiven Lohnmoderation begonnen, Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der neu geschaffenen Eurozone zu erkämpfen. Die Exportüberschüsse betrugen von 2004 bis 2021 stets zwischen 5 % und 8 %. Schließlich zeigte die Eurokrise, dass die Kontraktionspolitik nicht verallgemeinerbar war. Ohne Expansion der Überschussländer verfehlte die Eurozone ihr Inflationsziel und die Nullzinspolitik wurde zur Ultima Ratio.

Wie kann es in diesem institutionellen Rahmen gelingen, Resilienz gegenüber den sich häufenden Krisen zu entwickeln? Eine Lösung könnte darin bestehen, die Gefangenendilemmata aufzulösen und den Ausweg aus den systematischen Krisen zu koordinieren. Hierfür bräuchte es handlungsfähige staatliche Akteure, die sich nicht im Wettbewerb mit anderen Staaten befinden, sondern koordinieren. Sollte internationale Kooperation gelingen, könnte der Spielraum z. B. für gemeinsame Investitionen in die Energieautonomie steuer- oder finanzpolitisch erreicht werden und die Staaten könnten ihre jeweils zugewiesenen Rollen in der Allokations-, Stabilisierungs- und Verteilungspolitik ausüben. Verlierer der Transformation könnten durch ein progressiveres Steuertransfersystem und eine aktive Fiskalpolitik kompensiert werden. Sollte jedoch eine internationale Koordination misslingen, nationale Regierungen weiter um Wohlstand, Finanzmittel, Steuerbasis, Industrien sowie Arbeitsplätze konkurrieren und Verlierer nicht kompensiert werden, könnte die zunehmende wirtschaftliche und gesellschaftliche Polarisierung Populisten und Extremisten aller Couleur hervorbringen. Dies wiederum würde Koordination erschweren. Auf diesem Pfad blieben die Krisen ungelöst und der politische Protest à la „take back control“ dürfte sich verstärken.

Literatur

Blanchard, O. (2023), Fiscal Policy under low interest rates, MIT press.

Jordà, O., K. Knoll, D. Kuvshinov, M. Schularick und A. M. Taylor (2019), The Rate of Return on Everything, 1870–2015, Quarterly Journal of Economics, 134(3), 1225-1298.

Piketty, T. (2014), Capital in the Twenty-First Century, Harvard University Press.

Sinn, H.-W. (1997), Deutschland im Steuerwettbewerb, Symposium aus Anlaß des fünfjährigen Bestehens des ZEW, 10. März, https://www.ifo.de/DocDL/WP132.PDF (13. Januar 2023).

Tooze, A. (2022), Kawumm!, Die Zeit, 29, https://www.zeit.de/2022/29/krisenzeiten-krieg-ukraine-oel-polykrise (13. Januar 2023).

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